Impressum

Herbert Otto

Griechische Hochzeit

ISBN 978-3-95655-307-3 (E-Book)

 

Das Buch erschien erstmals 1964 im Aufbau-Verlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

Sie konnte schon manchmal das Meer sehen. Es war immer nur ein dünner Silberstrich am Horizont, und es dauerte immer nur Augenblicke. Dann schaukelte der Autobus wieder laut und langsam zu Tal. Felsen und Sonne und nur selten der flüchtige Schatten einer Pinie.

Durch die offenen Fenster quollen der Staub. Hitze und der Lärm des Motors. Katherina hielt die Augen geschlossen. Auch diese Fahrt wird zu Ende gehen, und an den Rückweg dachte sie noch nicht. Der Kopf schmerzte und der Leib.

Es wird ihm gewiss schaden, dachte sie. Gut kann es nicht sein für ihn. Aber sie hoffte zugleich, dass ihm vielleicht doch kein Schaden erwachsen werde, da es noch so sehr früh sei, so ganz am Anfang seines Lebens.

Hinter S., wo sie aus dem Zug in den Bus gestiegen war, hatte die feste Straße plötzlich aufgehört und dieser Weg begonnen: Geröll, grober Schotter oder einfach Lehmerde, vom Frühlingsregen durchweicht, dann zerfurcht und so schließlich versteinert in der Sonnenglut des Jahres. Der alte Autobus kroch darüber hin, litt und krachte. Mitunter schüttelte er sich und sprang, als wollte er die Leute abwerfen, die Last endlich hinschütten in die Schluchten oder auf die Hänge zu den Oliven.

Dieser Weg schien ein Irrtum zu sein. Aber der Fahrer machte den Eindruck vollkommener Gelassenheit. Er wird es wissen. Es geht schon zwei Stunden so. Auf See musste es so ähnlich sein, wenn Unwetter die Fischer überrascht.

Sie krallte sich am Sitz fest und an den Griffen. Sie stand mehr, als dass sie saß, um die harten Stöße in den Knien abzufangen. Übelkeit kam und verging wieder. Sie wurde in die: Ecke geworfen, wo das Fenster war, und tat sich weh und konnte nicht aufhören, um ihn besorgt zu sein, der noch gar nicht da war, der eben in ihr zu wachsen begonnen hatte. Vor Kurzem erst, in einer Nacht um die Mitte des letzten Monats. Sie weiß genau den Augenblick. Sie erinnert sich dieser Nacht so deutlich wie keiner anderen mit Andreas.

Immer, wenn sie seitdem an ihr Kind dachte, nannte sie es er. obwohl sie doch wusste, dass es nicht vorauszusehen war, ob sie oder er. Sie tat es, weil Andreas kein Mädchen haben wollte. Sie tat es ihm zu Gefallen und auch mit der versteckten Hoffnung, der Natur keine andere Wahl zu lassen. Sie hatte den Vater oft sagen hören, dass der Mensch fast alles fertigbringe, jedenfalls immer mehr, als er sich zutraue. Er müsse es nur wollen. Und sie wollte einen Jungen. Sie wollte Andreas nicht erzürnen.

Es wird auch Zeit, dass ich’s ihm sage, dachte sie. Wenn ich zurück bin, muss ich’s ihm sagen.

Auf den letzten Kilometern wurde der Weg etwas besser. Nun war der Gebirgszug überwunden, und das Meer lag da, ausgespannt bis zum Rand des Himmels.

Der Fahrer hielt an, um eine Pause zu machen; die meisten der Fahrgäste stiegen aus. Katherina blieb sitzen. Sie spürte, wie die Stille langsam und angenehm in den Körper kam. Sie sah durch das Fenster. Der Pope aß abseits auf einem Stein und schnitt sparsam von der Melone ab. Er aß andächtig. Die Frau, die Trauerkleidung trug, konnte so demütig nicht sein, wie sie aussah; denn sie beschimpfte und ohrfeigte ihre beiden Söhne sehr entschlossen. Der dicke schwitzende Mann hatte seinen Hühnerkäfig mit hinausgenommen, und die Tiere saßen ruhig da und putzten ihr Gefieder. Sie wussten schon nichts mehr von der Todesangst, gegen die sie während der letzten Stunden laut und erbittert angekämpft hatten.

Dort unten stieß eine Landzunge ins Meer; in die Bucht gebettet lag ein kleiner Hafen, wo Onkel Anastas wohl schon wartetete mit seinem Boot.

Es war damals blau und weiß angestrichen und hatte nach Treibstoff und Farbe und Fisch und Salz gerochen. Sie werden wieder übers Meer fahren, der Insel entgegen, die Katherina nun in der Ferne treiben sah, in der flimmernden Unendlichkeit hinziehend wie ein altes Schiff und der Gipfel des Gebirges schien das Segel zu sein.

Als Fünfzehnjährige war Katherina dort gewesen, mit Sofia, der jüngeren Schwester, Ende Oktober nach der Tabakernte. Der Ertrag war kärglich gewesen, sodass der Vater seinen Bruder gebeten hatte, die Töchter eine Weile aufzunehmen. Katherina hatte den Onkel und dessen Familie in guter Erinnerung behalten. Auch das Inselstädtchen, das lebendiger war und sorgloser schien als ihr Dorf in der Ebene hinter Salloniki.

Aber das tiefste Erlebnis war das Meer gewesen, seine Farben und seine Weite. Die Begegnung hatte Sehnsucht hinterlassen und den Wunsch, zurückzukehren.

Nun sah sie es wieder, nach sieben Jahren, und es schien ihr fast, als müsste das Meer ;sie erwartet haben. Bald, heute noch oder morgen, wird sie allein ans Ufer gehen: Siehst du, ich bin gekommen. Wir können das Fest feiern. Und Katherina wird das Meer grüßen, mit dem Blick, mit den Armen, ganz eintauchen in die Kühle und getragen werden. Sie musste das für sich behalten.

Andreas würde das wohl nicht verstehen: zu Gast beim Meer und Salzküsse, blau und silbern, sie musste das für sich behalten. Sie musste Andreas damit betrügen; sie fürchtete seinen Spott.

Die Hühner gackerten wieder laut und aufgebracht und plusterten das Gefieder; denn der Dicke schaffte den Käfig ungeschickt in den Bus zurück. Die Fahrt ging weiter. Nun war die Straße eben und lief in dauernden Windungen talwärts. Sichtbar mit jedem Augenblick rückte der Hafen näher und so auch die Insel mit dem Städtchen und dem Platz vor der Taverne, wo der Brunnen steht, und mit den alten Häusern, die immer aufs Meer sehen.