Impressum

Herbert Otto

Zum Beispiel Josef

Roman

ISBN 978-3-95655-321-9 (E-Book)

 

Das Buch erschien erstmals 1970 im Aufbau-Verlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

Er wollte nicht zu Julia.

Gestern hatte er daran gedacht, in die Stadt zu fahren, um in eines der großen Tanzlokale zu gehen. Es lohnte sich nicht, wenn es schnell und einfach ging, und wenn es versprach sich zu lohnen, ging es nicht schnell genug. Er war nicht gefahren und nicht zu Julia gegangen, sondern hatte geschlafen.

Er konnte lange Zeit mit sehr wenig Schlaf auskommen, und dann konnte er wieder vierzehn Stunden durchschlafen, aufstehen für zwei, drei Bier, sich hinlegen und weiterschlafen. Manchmal ruhte er während der freien Tage überhaupt nicht aus. Und es wurden ganz wilde Tage.

Diesmal lagen sie mitten in der Woche, von Montag bis Freitag, was selten vorkam. Eine Gitarre hatte er immer noch nicht gekauft, obwohl er in einen Laden gegangen war, um Instrumente anzusehen. Es war wohl noch zu früh. Das allererste Instrument damals war eine Laute. Die Schwester hatte außerdem eine Theorbe gehabt, eine vierzehnsaitige. Die war schwer zu spielen und hatte einen harten, brüchigen Klang, und später hat er nie wieder eine Theorbe gesehen.

Er hatte keinen Plan gemacht für die freien Tage. Er hätte irgendwohin fahren können. An die Küste würde er irgendwann fahren, wieder Schiffe sehen und einen Hafen und langsam auf einer Mole hinausgehen, wenn der Wind von See kommt. Geruch von Weite, Salz und Fisch. Nicht dass er Sehnsucht gehabt hätte nach einem Schiff. Trotzdem wäre er gern an die Küste gefahren. Er wollte damit noch warten, bis es richtig Sommer war. Es war jetzt Mitte Mai.

Die ersten beiden Tage verschlief Josef. Er wachte Mittwoch vormittag auf. Die Sonne schien. Unten im Hof saß Frau Billmann und putzte Grünzeug. Sie saß auf der Bank am Schuppen in der Sonne. Manchmal ließ sie ihre Hände ein Weilchen ausruhen. Er würde heute den Schalter reparieren. Wenn Sie das machen wollen, und wenn es Sie nicht belästigt. Sie freute sich rührend über so etwas, die alte Frau. Er würde heute eine Feder besorgen oder gleich einen neuen Schalter. Dann Mittagessen. Vielleicht am Bahnhof. Er traf Stefan in der Stadt.

Was machst du?

Nichts. Und du?

Als sie vor drei Wochen ins Kino fuhren, mit dem Bus, den sie Gummidampfer nannten, hatten sie nebeneinandergesessen. Stefan gehörte nicht zur Brigade, war aber trotzdem mitgefahren. Seine Sache am Turm waren die Aufzugswinden. Das heißt alles Elektrische an den Winden. Sie nannten ihn den Südschweden. Er stammte aus einem Dorf in Mecklenburg. Auf der Baustelle sah man ihn nie ohne irgendwelches Zeug in den Händen: kleine Kartons, Draht, Kabel, Kneifzange. Die anderen Elektriker behaupteten von ihm: ein Tag, an dem er nicht irgendwo ein Relais einbauen kann, ist für ihn ein versauter Tag. Josef traf ihn gegenüber der Milchbar, und Stefan trug nichts bei sich und sah regelrecht nackt aus mit den leeren Händen.

Er trifft also zufällig den Südschweden, Garten-, Ecke Bebelstraße, und alles wird anders weiterlaufen. Ereignisse werden kommen, die sonst nicht oder viel später gekommen wären, und es wäre mit ihm anders weitergegangen, schmerzlicher oder belangloser oder komischer.

Was machst du so? Gar nichts. Und du? Noch kein Relais eingebaut heute? Wird nachgeholt. Heute scheint Sonne, und man sollte mit dem Boot aufs Wasser. Du hast ein Boot? Ich miete ein Boot. Mehr ein Kahn. Der große und der kleine Kolksee. Naherholungszentrum hinter Kolkwitz, wenn du das kennst. Kenn ich nicht. Naherholung. Kann nur das Gegenteil sein von Fernerholung. Erklär mir den Unterschied. Welchen Unterschied? Den zwischen Nah- und Fernerholung. Und wer sich fern erholt. So eine dumme Frage habe ich nie gehört. Fernerholung. Wie kommst du auf das Wort? Naherholung gibt es, und in unserem Falle liegt das hinter Kolkwitz. Alles, was weiter weg liegt, ist einfach Erholung.

Am kleinen Kolksee mieten wir jedenfalls den Kahn. Am großen steht das Schloss. Da wohnt deine Tante? Da wohnen Kinder, und bei den Kindern arbeitet Loni. Heute bis um zwei. Viertel nach eins geht der Bus. Ich hol sie ab, und wir gehen still durch den Wald zum kleinen Kolksee und mieten dort das Boot.

Ich habe nichts weiter vor, sagte Josef.

Dann komm mit, sagte Stefan. Wir lassen uns schon nicht stören. Kann ja sein, es findet sich noch wer, der Lust auf Bootfahren hat. Loni arbeitet nicht alleine bei den vielen Kindern. Eine ihrer Freundinnen hat vielleicht Lust auf Bootfahren.

Sie nahmen den Bus Viertel nach eins und standen auf der hinteren Plattform. Zwei Stationen später stieg sie ein. Er hatte sie sofort gesehen, als die Tür aufging. Dunkles Haar, halblang, das ihr Gesicht fast verdeckte, und er sah die kleine Kopfbewegung und wie das Haar nach beiden Seiten zurückfiel. Die Stirn und die Augen. Warum sah sie ihn nicht an.

Vor ihr stieg eine Frau ein mit zwei kleinen Kindern, und er und Stefan hoben die Kinder in den Bus, halfen auch der Frau. Wo war das Mädchen? Er war erschrocken, dass sie plötzlich verschwunden war. Der Bus fuhr schon wieder. Alles nur Sekundenbruchteile. Eben stand sie noch da, blaurotes Kleidchen, sehr kurz, und sie hatte ihn nicht ansehen wollen.

Sie war vorn eingestiegen. Da saß sie, und es war viel Platz ihr gegenüber und neben ihr.

„Warum setzen wir uns nicht", fragte Josef.

„Sie arbeitet auch dort", sagte der Südschwede.

„Kennst du sie?"

„Flüchtig. Sie ist nie dabei, wenn irgendwas gefeiert wird oder beim Baden. Sie fährt immer sofort nach Hause."

„Scheu", sagte Josef.

„Sie heißt Ute", sagte Stefan.

„Was weißt du noch?"

„Nichts. Hat Abitur gemacht und kam dann dorthin. Bleibt aber nicht. Sie will studieren."

„Und noch?"

„Ihr Vater muss Arzt sein oder so was. Wenn ich sie mal im Bus sehe oder wenn sie zur Nachtwache kommt und Loni ablöst, immer hat sie ein Buch und liest."

„Liest vielleicht zu viel", sagte Josef. „Das gibt's. Und kommt nicht zum Leben. Jetzt guckt sie aus dem Fenster. Komm, wir setzen uns."

Stefan schüttelte den Kopf.

„Du stellst sie mir vor. Wir quatschen sie an."

„Hat keinen Sinn."

„Vielleicht fährt sie zum Bootfahren."

„Sie fährt zur Arbeit. Um zwei."

„Kann sein, ja." Und dann fragte Josef: „Wie lange fahren wir noch?"

„Zehn, zwölf Minuten."

„Ich geh jetzt hin."

Josef setzte sich auf den Fensterplatz ihr gegenüber und sagte: „Guten Tag, Fräulein Ute. Ich heiße Josef. Ich stehe dort mit dem Freund von Loni. Vielleicht fahren Sie auch zur Naherholung."

„Bitte, wohin?", fragte sie. Kleine, weiche Stimme, die genau zu ihr passte. Und schon wandte sie den Blick ab, sah auf seine Hände, die nichts anzufangen wussten.

„Ich meine, zum Bootfahren", sagte er. „An den See."

„Nein", sagte sie und war nicht abweisend, aber zugänglich war sie ebenso wenig. Sie gab Antwort und blickte aus dem Fenster. Schön war sie, und ihre Augen waren am schönsten, wenn sie einen ansah. Das tat sie nur einmal und viel zu kurz. Augen von irgendeinem Grün. Josef sah, dass es verschiedene Grüntöne waren, mindestens zwei oder drei. Und innen heller als außen. Treffe ich den Südschweden an der Milchbar, dachte Josef. Und steige hier ein. Wo wäre ich sonst? Was sage ich jetzt?

„Ich habe jetzt schon viel weniger Lust zum Bootfahren als vorher", sagte er.

„Wieso?"

„Weil ich weiß, dass Sie arbeiten müssen."

„Wieso stört Sie das?"

„Es wäre schöner, wenn Sie mit könnten und nicht zur Arbeit müssten."

„Ich muss aber. Und damit ist doch die Sache erledigt."

„Sie arbeiten bis zehn?"

„Ja."

„Und morgen wieder am Nachmittag?"

Ja."

Sie sah jetzt nur noch aus dem Fenster und warf auch das Haar nicht zurück. Als ob sie sich hinter dem Haar versteckte.

„Und Vormittag gehen Sie nicht zum Bootfahren?"

Sie schüttelte den Kopf. Josef hatte den Eindruck, die Unterhaltung sei ihr lästig geworden. Er stellte zu dumme Fragen. Aber es fiel ihm nichts ein. Sie stand auf und ging an die Tür. Sie war sehr schlank, und das Kleid lag eng an. Aber der Südschwede hatte schon recht. Ein schwerer scheuer Fall.

Josef stand auch auf. „Sind wir schon da?", fragte er. „Ich war hier noch nie."

„Ja", sagte sie. Das bedeutete wieder etwas Hoffnung. Sie hätte ja nun nichts mehr zu sagen brauchen.

„Vielleicht denke ich mal an Sie beim Bootfahren. Damit es nicht ganz so schwer wird mit Arbeiten bei dem Wetter."

„Danke", sagte sie sogar.

Als der Bus hielt, sprang sie schnell hinunter und lief die Straße entlang. Sie bog links um die Ecke und verschwand hinter den Sträuchern eines Vorgartens. Einmal sah Josef noch ihr blaurotes Kleid, und Stefan stand neben ihm.

„Gehen wir."

„Wohin?", fragte Josef.

„Loni kommt vorn ans Tor. Oder es ist besser, ich gehe rein, und sie wird eine ihrer Freundinnen fragen wegen heute Nachmittag." — „Bis ans Tor komme ich mit", sagte Josef. Zum Bootfahren hatte er keine Lust mehr. Loni sollte auch niemand mitbringen. Macht euch einen schönen Nachmittag. Er begleitete Stefan bis ans Tor. Der See schimmerte durch die Bäume. Vom alten Schloss, wo die Kinder lebten, war von hier aus nicht viel zu sehen. Er wusste nun, wo das Schloss lag, und dann ließ er sich überreden, doch mitzugehen.

Loni machte einen guten Eindruck. Sie fiel nicht durch Schönheit auf, war aber ein freundlicher Typ. Sie lachte gern und schien weder eitel zu sein noch launisch. Das Haar trug sie ganz kurz geschnitten und sah fast wie ein Junge aus. Einmal sagte sie, dass sie als Kind nie mit Mädchen gespielt habe. Sie wollte immer ein Junge sein. Fast wäre ich einer geworden, wie man sieht. Dabei spielte sie auf ihren schwach entwickelten Busen an, und sie litt nicht darunter, wie manche Mädchen ganz unnützerweise darunter leiden. Nur fast, Gott sei Dank, sagte der Südschwede und küsste sie. Und sie sagte: Ja, ja, du Kerl. Sie passten gut zusammen. Man konnte sich nicht vorstellen, dass sie ernstlich Streit miteinander haben könnten.

Der Kahn war blau lackiert. Sie ließen ihn nicht spüren, dass es allein schöner für sie gewesen wäre. Sie bezogen ihn immer ein. Es war ein guter Nachmittag. Besser als irgendwo rumhocken und Bier trinken und seine Verlorenheit spazieren tragen. Loni schien nichts von ihm zu wissen. Stefan hatte auch keine Gelegenheit gehabt, ihr zu sagen, wer er war. Oder hatte er es früher schon getan, und das Mädchen ließ sich nur nichts anmerken. Und dieser Nachmittag und die Einladung waren überhaupt vorher abgemacht. Hilfe für den Fremdling.

Kürzlich hatte Bruno gefragt: Was machst du so? Ich meine, in der Freischicht. Ist ja mies ohne Freunde. Und der Südschwede hatte dann den Auftrag bekommen. Bruno war das zuzutrauen. Und den anderen. Sie verteilen Aufträge an ihre Mitglieder. Davon hatte Josef reden hören. Er hatte sie nach Schichtende dableiben und sich versammeln sehen. Eine Art Geheimbund. Er hatte die Tür zu Brunos Bude geöffnet. Da saßen sie alle. Der gerade sprach, hörte auf zu sprechen, und einer sagte: Was ist denn? Wir haben Parteigruppe. Also nicht ganz geheim. Bei der Anrede benutzten sie das Wort Genosse. Alle gehörten nicht dazu. Sie schienen, wie damals die Schwestern und der Abt, durch ein Gelübde verpflichtet. Wer gehörte dazu? Und welcher Art war das Gelübde? Worauf waren sie verschworen? Es musste ein ziemlich weitreichender Schwur sein. Als die neuen Betonpumpen, die dringend gebraucht wurden, nicht kamen, weil ein Bürokrat im Ministerium sie kurzerhand von der Importliste gestrichen hatte, sagten sie: Das klären wir in der Parteigruppe. Was klärten sie dort noch? Versorgungsfragen. Andere Fragen. Außer Bruno und Alois gehörten der Bauleiter und Betonspecht dazu. Der Maschinenmeister und der schmale Eduard schienen nicht dazu zu gehören. Aber Stefan. Und er hatte dann den Auftrag erhalten. Hilfe für den Fremdling.

Oder war alles doch nur ein Zufall.

Der blaue Kahn trieb langsam im leichten Nordwest. Josef hatte schon von Ute reden wollen, und dann fing Stefan plötzlich an. Erzähl mal bisschen von deiner Kollegin Ute, sagte er. Wieso von Ute, fragte sie. Er leidet unter ihr. Sie kennen Ute, fragte Loni. Er möchte sie gern kennen, sagte Stefan. Und leidet. Er hat sie heute im Bus gesehen und hat ihr zehn Minuten zu lange in die Augen geguckt. Eben nicht, sagte Josef. Oder kaum. Sie gibt ja ihre Augen nicht her. Was ist mit ihr? Sie hat Angst oder macht sich nichts aus Männern, oder sie hat einen Freund.

Loni wusste nichts Genaues oder sagte es nicht. Vielleicht hat das Mädchen Ute ein Erlebnis gehabt, mit dem sie nicht fertig wird. Oder es waren ganz andere Gründe. Sie geht gern ins Konzert, das weiß man. Und sie lebt, obwohl sie ihre freie Zeit fast nur zu Hause verbringt, offenbar neben der Familie her. Eine ältere Schwester ist Ärztin, aber sie redet nicht von ihr und besucht sie auch nicht. Bei uns macht sie ihre Arbeit und fällt durch nichts auf, es sei denn durch Grübelei und Schweigsamkeit. Der Vater wollte, dass sie Medizin studiert. Aber sie geht im Herbst zum Studium der Physik. Und wenn Sie mehr von ihr wissen wollen, müssen Sie sie selber fragen.

„Wie beurteilen Sie die Aussichten, ich meine, sie kennenzulernen, so oder so."

„Gering", sagte Loni einfach. „Aber wenn Sie es nicht schaffen, nehmen wir Sie im Heim auf und pflegen Sie. Oder Sie fangen bei uns als Gärtner und Hausmeister an. Wir suchen einen. Dann sehen Sie sie jeden Tag, und nachts gucken Sie durchs Fenster in die Halle und gucken ihr beim Lesen zu."

Sie lachen über dich. Ihm fiel auf, dass er sich noch nie wegen eines Mädchens lächerlich gemacht hatte. Er war ihnen nicht böse, dass sie lachten.

„Oder du lädst sie zum nächsten Brigadeabend ein", sagte Stefan. „Ihr macht ihn bei Robert, und sie sieht mal, wie viel raue Männer es gibt auf der Welt, und du kannst sie schön beschützen."

„Hast du dich schon mal lächerlich gemacht wegen eines Mädchens?", fragte Josef.

„Das hab ich öfter", sagte Stefan.

„Und mir sagt er immer, ich sei die allererste gewesen. Du Schuft." Loni ging ihrem Südschweden an die Gurgel, und sie balgten sich. Der schwere Kahn schlingerte ungeschickt auf dem kleinen Kolksee im Zentrum der Naherholung, und Josef versuchte die Ruder zu beiden Seiten flach aufs Wasser zu legen und den Kahn zu stabilisieren.

Warum suchen Sie sich kein normales Mädchen, hatte Loni noch gesagt. Sie sollten sich ein ganz normales Mädchen suchen.

Später badeten sie und sprangen vom Heck des Kahns in den See. Loni wartete, bis die beiden ein Stück weg waren. Sie hatte kein Badezeug mit. Obwohl nichts zu sehen ist, sagte sie. Na, noch ein Stück.

„Gratuliere", sagte Josef zu Stefan.

„Wozu?"

„Die ist genau richtig."

„Weiß ich", sagte Stefan.

Josef schwamm mit kräftigen Zügen weiter. Er wollte die zwei ein bisschen allein lassen. Er lag als „toter Mann" auf dem Rücken, hörte Loni manchmal kreischen, und sie bespritzten und fingen sich. Er könnte sie heute Abend treffen, im Bus um zehn Uhr fünfundzwanzig. Das ist der letzte auf dieser Strecke. Wenn sie nicht einen Bus früher fährt. Oder besser erst morgen Mittag, wieder Viertel nach eins. Er nahm sich vor, ihr nachzulaufen. Warum nur? Etwas war ihr zugestoßen. Und ihm war allerhand zugestoßen. Vielleicht gefällt ihr das kleine Kamel aus Beirut. Oder der Fächer. Etwas von diesen Sachen wird ihr gefallen. Er wollte gern sehen, wie sie sich etwas aussuchte und was ihr am besten gefiel. An diesen Sachen hing er, und er hatte noch nie ein Stück davon weggegeben. Sie sollte sagen, was ihr am besten gefiel.

Er tauchte und schwamm mit geöffneten Augen unter Wasser und erinnerte sich der Korallengewächse und der Farben, die man an der Küste des Roten Meeres unter Wasser sehen kann. Aber die Korallen verlieren schnell ihre Farbe, wenn man sie abbricht und aus ihrem Element nimmt. Sie sehen dann blass und schmutzig aus, und man hätte sie besser dort unten gelassen, wo sie schön rot waren und rosa im nachtgrünen Wasser nahe der Küste.

2. Kapitel

Am Vormittag reparierte er den Schalter und trug die Kohlenkiste in den Keller. Er hatte sie besorgt, als er im Februar bei Frau Billmann eingezogen war. Sie freute sich rührend, wenn er ihr die Kohlen aus dem Keller holte. Er hatte die Kiste in der Küche aufgestellt und zweimal die Woche bis obenhin voll mit Briketts geschichtet. Die Kiste hatte ihm Helga besorgt, die im großen Lebensmittelkonsum beschäftigt war. Aber nachdem sie sich nicht mehr zierte, fing sie bald an von Zukunft zu sprechen, und Josef hatte abgebremst. Es war ihm ganz leicht gefallen. Und nun schaffte er die Kiste in den Keller.

Er ging Haare schneiden. Er wollte ihr mit gepflegtem Kopf gegenübertreten. Sie wird sich verfolgt und belästigt fühlen, hatte er gestern Abend gedacht. Es ist besser, du wartest bis morgen Mittag.

Der Mann redete ohne Pause, aber Josef ging doch wieder hin. Er schnitt gut. Es saß niemand im Laden. Nehmen Sie Platz. Guten Tag. Und während der Mann den Kittel zuschnürte, viel zu eng, lobte er das Wetter. War aber sofort skeptisch. Wer weiß, wie lange. Der Sommer fiel auf einen Mittwoch und Donnerstag. Und lachte trocken. Fasson? Messerform. Bitte sehr. Und hinten kurz. Die Seiten gerade. Wie Sie das wünschen. Die Ohren sollen wieder dran bleiben? Recht so. Es war aber keine Anspielung auf Josefs Ohren, die groß waren und etwas abstanden. Der Mann hatte sein festes Programm. Schon Urlaub gehabt, fragte er ab Mitte Mai bis gegen Ende September.

Viertel nach eins. An der Haltestelle traf er Loni. Unterwegs zum Kahnfahren? Nein, unterwegs zu Ute. Aber sie würde nicht in diesen Bus einsteigen, sie hatte mit Loni den Dienst getauscht und vormittags gearbeitet. Heute Abend geht sie ins Konzert. Oder ist es Oper. Ich glaube, Oper. Sie hat ein Anrecht. Kann man da hingehen, fragte Josef. Im grauen Anzug? Ich habe nur diesen einen, und es wäre das erste Mal, dass ich in eine Oper gehe.

Er kannte das große Haus inmitten des Platzes im Zentrum der Stadt. Sie singen den ganzen Abend, und wenn einer erschossen wird, singt er noch die Arie zu Ende und fällt dann erst um. Macht aber nichts. Ich gehe hin. Ist da eine Pause zwischendurch? Meistens ja. Wie lange dauert die? Eine Viertelstunde. Im Bus hätte er nur zwölf Minuten gehabt, und weglaufen kann sie nicht in der Pause. Sie müssen es sehr geduldig mit ihr anfangen, sagte Loni. Fallen Sie nicht mit der Tür ins Haus. Wenn es die Ute unbedingt sein muss. Ich habe überhaupt nichts gegen sie. Das verstehen Sie falsch. Und wenn ich sage, Sie sollten ein normales Mädchen haben, meine ich, dass sie vielleicht nicht zu Ihnen passt. Oder Sie nicht zu ihr.

Wie meinen Sie das?

Der Bus kam, und Josef stieg mit ein, weil er wissen wollte, wie sie das meinte. Wenn Sie etwas brauchen in diesem Falle, ist es Geduld. Ich bezweifle, dass Sie diese Art Geduld haben, die Sie brauchen werden. Ute lebt ein eigenwilliges Leben und ist leicht zu verletzen und überempfindlich. Sie kann sehr grob werden, nur weil ihr jemand den Hof macht. Kann sein, sie rächt sich für eine Kränkung. So kommt es mir vor. Sie ist eine schwere Aufgabe für einen Mann. Ein so geduldiger Typ scheinen Sie mir nicht zu sein. Ich will Sie nicht entmutigen. Aber für diese Anforderung müssten Sie ein anderer Typ sein.

„Was bin ich denn?", fragte er. „Endlich sagt mir jemand, was für ein Typ ich bin."

„Ich werde mich hüten", sagte Loni. „Ich weiß ja kaum etwas. Stefan hat mir einiges von Ihrer Vergangenheit erzählt. Und dann der Nachmittag gestern. Das ist schon alles. Vielleicht haben Sie die Fähigkeit, sich auf andere einzustellen. Auf See, auf einem Schiff lernt man das vielleicht. In Bezug auf Frauen traue ich Ihnen diese Fähigkeit nicht zu. In schwierigen Fällen, meine ich, wie in diesem. Ihr Interesse kommt mir verdächtig vor und äußerlich. Es schmeichelt Ihnen, wenn Sie es mit ihr schaffen. Oder gibt es eine andere Erklärung für Ihr Interesse?"

„Sie sind verdammt grob", sagte Josef.

„Sie wollten hören, was ich denke. Und ich denke, Sie sind in erster Linie an sich selbst interessiert."

„Solche Sachen hat mir ein Mädchen noch nie gesagt. Obwohl ich schon allerhand eingesteckt habe von Mädchen, seit ich hier bin."

„Sie hatten es immer leicht mit Frauen", sagte Loni.

„Ja", erwiderte er. „Ich will es aber grob sagen: sie hatten immer einen Preis. Oder fast immer. Den bezahlte man, und fertig." Wie alles andere, dachte er. Alles hatte seinen Preis.

„Ist es schwer, sich umzustellen ?"

„Ziemlich. Und ich hatte bis jetzt gar keine Lust dazu."

Er verabschiedete sich. Vielen Dank. Dafür, dass ich grob war? Dass Sie offen sind. Hat der Südschwede das verdient. Er hat ziemlich viel Glück gehabt. Womit? Mit Ihnen. Drücken Sie mir mal die Daumen für heute Abend. Mach ich.

Er fuhr nach Hause und zog den grauen Anzug an. Hemd und Krawatte. Der Trolleybus endete am Stadtrand. Dort stieg Josef in die Straßenbahn. Es war noch eine Menge Zeit. Manches im Zentrum kannte er, besonders Gaststätten. Er war schon öfter an Wochenenden hierhergefahren, wo abends die Dickichte der Tanzvergnügen offenstehen, und hatte sich nicht zurechtgefunden. Mit Geld fing man nichts an. Den Wein bezahlen oder einen Kasten Süßes oder mal eine Taxe spendieren in die Südstadt. Das war schon alles. Was wollten sie also? Schwüre, Anstand, Zukunft. Manchmal gab er seine Geschichten in Zahlung, Abenteuer in Afrika und in den Häfen der Welt. Dann mussten sie schnell nach Hause. Nächste Woche Mittwoch vielleicht. Oder Freitag. Warum nicht heute? Nein, übermorgen. Oder nächste Woche. Das dauerte ihm alles zu lange. Der Teufel soll sie holen.

An der Kasse des Opernhauses verlangte er eine Karte. Ganz egal, wo ich sitze.

Tut mir leid, Sie müssen mir schon sagen, wo Sie sitzen wollen.

Irgendwo an der Seite.

Und wo da?

Ist mir egal. Oben oder hinten. Irgendwo.

Dann sagen Sie, welche Platzgruppe. Was die Karte kosten soll? Spielt gar keine Rolle, was sie kostet. Wenn Sie mir sagen, wo Ute sitzt, sage ich Ihnen, wo ich sitzen will. Das können Sie nicht. Na, sehen Sie. Also ist es mir gleichgültig, welche Karte Sie mir geben. Unten, ja. Vorn irgendwo. An der Seite. Wo ich guten Überblick habe. Na, also.

Nur zwei der großen Eingangstüren waren geöffnet. Josef stand hinter einer der verschlossenen Glastüren und konnte Vorplatz und Treppe gut übersehen. Es war zehn vor halb, und er hatte schon Hunderte Gesichter überprüft. Da kam sie endlich.

Er hatte die falsche Karte gekauft. Während Ute immer nach rechts ging, hielten die Beamten ihn auf. Sie standen überall, trugen eine Art Uniform und sagten: Nach links, bitte. Hallo, der Herr. Ute wartete an einer der vielen Türen, kaufte ein Programm und ging hinein. Man verweigerte Josef auch diese Tür. Er sah Ute sitzen und in dem Heft lesen, aber er durfte nicht zu ihr. Bitte auf der anderen Seite. Sie haben links, mein Herr. Und Reihe fünf. Hier ist neun bis sechzehn.

Es herrschte eine unerträgliche Bürokratie in diesem Hause. Josef musste auf die andere Seite gehen, wo man ihn endlich hineinließ. Ute saß Reihe zwölf. Neben ihr waren drei oder vier Plätze frei. Er wartete noch. Mit dem zweiten Klingelzeichen entschloss er sich loszugehen, durch die Reihe zwölf von links nach rechts hinüber. Die Leute standen auf. Verzeihung. Die Reihe war nicht länger als alle anderen. Sie war sehr lang, obwohl viele Plätze noch frei waren.

Guten Abend, Fräulein Ute. Das nennt man einen Zufall. Schon mehr eine Fügung. Ich müsste ganz woanders sitzen. Aber vielleicht darf ich hierbleiben. Gehen Sie oft ins Konzert? Oft, sagte sie.

„Ich habe Musik sehr gern", sagte er. „Und ich spiele ein Instrument und singe gern. Aber ich war noch nie im Konzert."

„Was spielen Sie?" Die erste Frage, die sie an ihn richtete.

„Gitarre."

„Ich auch, das heißt, nur wenig. Erst ein Jahr."

„Gitarre spiele ich schon lange. Da war ich noch ein Kind."

„Als Kind sollte ich Klavier spielen", sagte sie. „Und ich wollte nicht, und jetzt liebe ich Klaviermusik, kann aber nicht spielen."

„Man macht eben ein Menge Fehler und kann sie später schlecht reparieren. Oder gar nicht. Manche."

„Ja", sagte sie und sah ihn aufmerksam an und fragte: „Haben Sie viele solche Fehler gemacht?" Aber es war wohl nicht die Frage, die sie stellen wollte.

„Ziemlich viele", sagte er.

„Zum Beispiel?"

„Ich bin zum Beispiel zu oft weggelaufen. Einige Male zu oft. Und dann musste ich da durch und Lehrgeld bezahlen."

„Ich verstehe, glaube ich, was Sie meinen", sagte sie.

„Und später merkt man, da fehlt was."

Sie blätterte im Programmheft, ohne darin zu lesen. Es schien sie nicht zu belästigen, dass er sich neben sie gesetzt hatte, und sie lachte, als er erzählte, dass er sie unten schon gesehen hatte, aber dass man ihn immerzu nach links schicken wollte. Er hätte Lust, die Theaterbeamten zu erschrecken.

Manchmal roch er den Duft aus ihrem Haar. Die Leute auf der Bühne spielten schon. Das Stück von Brahms gefiel ihm am besten. Woran mochte sie denken während dieser Musik. In dem schwarzen Kleid und ohne Schmuck sah sie schön und feierlich aus. Er hätte ihr das gern gesagt. Die Tasche, die in ihrem Schoß lag, und die Schuhe hatten dieselbe Farbe, ein sehr dunkles Rot. Er fragte auch nicht, ob sie nach dem Konzert noch zusammenbleiben würden. Keine dummen Fragen stellen. Wenn sein Interesse äußerlich bleibt, wird er alles verpatzen. Loni hatte wohl recht damit. Sein Interesse kam ihr verdächtig vor. Er sollte sich viel Zeit lassen, und gerade das hatte er nie gekonnt und nie geübt und musste es nun versuchen. Darin bestand die Aufgabe. Am liebsten wäre er sofort aufgestanden und mit Ute irgendwohin gegangen, wo man sitzen und reden und etwas trinken konnte. Und langsam tanzen, dicht. Es wäre genau das Gegenteil von Abwarten und Geduld, dachte er. Neben ihm das Mädchen, versteckt hinter ihrem Haar, das locker und dicht und glänzend herabfiel. Du musst vielleicht immer nur das Gegenteil dessen tun, was du möchtest, dachte er.

Während der Pause blieben sie im Saal. Und nach dem Konzert musste sie nicht sofort nach Hause. Er hätte sagen können: Das habe ich nicht erwartet und habe es den ganzen Tag gehofft und mir vorgestellt. Aber er sagte: Dann machen Sie einen Vorschlag. Es ist mir gleich, sagte das Mädchen.

Im Foyer standen die Opernbeamten, und Josef hätte sie gern erschreckt mit einem gedrehten Salto im Vorübergehen oder mit einem seiner anderen Spünge, die er lange nicht gemacht hatte. Er ließ den Salto, um Ute nicht zu erschrecken.

Die Bar lag gegenüber dem Bahnhof und hieß „Pinguin". Sie hatten nur Whiskysorten, die ihm nicht sehr gefielen. Er bestellte trotzdem zwei Whisky, weil Ute probieren sollte, wie er schmeckt. Dieser ist nur eine schwache Ahnung von einem Whisky, sagte er. Aber eine schmackhafte Ahnung, sagte sie. Überhaupt schien sie anders zu sein als das Bild, das Loni von ihr entworfen hatte. Von Einsiedelei konnte keine Rede sein. Sie besuchte einen Zirkel für Astronomie. Nicht so häufig. Aber häufiger einen Singeklub. Also einen Chor? Nein. Wir singen Scherz- und Volkslieder aus vielen Ländern. Oder neue Jugendlieder. Einzeln oder mehrere und meist zur Gitarre. Wenn wir auftreten, muss das Publikum mitmachen. Singen oder pfeifen oder klatschen. Wir haben etwas Sprecherziehung und Musikunterricht. Fast alle spielen ein Instrument. Manche dichten und schreiben Liedertexte. Es ist kein Chor, sondern ein Singeklub. Man kann schlecht erklären, was wir sind. Einmal werden wir noch auftreten vor den Ferien. Und dann im Herbst wieder. Natürlich können Sie mitkommen. Es ist immer sehr voll. Je mehr Publikum, desto besser. Im Herbst, dachte er.

Wir könnten mal Gitarre spielen, wenn Sie wollen, sagte er. Ich muss erst eine Gitarre kaufen. Ich hatte eine gute und habe sie irgendwo zurückgelassen. Überhaupt alles. Nur etwas Krempel habe ich mitgebracht. Zuletzt war ich in Hamburg. Und vorher auf See. Vom Krieg sprach er nicht. Seit sechs Monaten bin ich hier. Kraftwerksbaustelle. Wir bauen einen Kühlturm und dann einen Schornstein. Dreihundert Meter hoch. Ja, ich bin schwindelfrei.

Einmal tanzten sie, und er gab sich Mühe, zurückhaltend zu tanzen. Sparflamme. Ich weiß nicht genau, warum ich gekommen bin. Abenteuerlust, ich bin ein unruhiges Element und immer aus Neugierde irgendwo weggelaufen und irgendwohin gegangen. Wenn ich wusste, wie etwas geht, bin ich wieder weg und woandershin.

„Und jetzt? Wissen Sie schon, wie es geht?", fragte sie.

„Nein. Noch nicht."

„Dann bleiben Sie also noch?"

„Ja, ich bleibe noch."

Ihre Augen waren jetzt dunkel, das Grün spiegelte die Dunkelheit, die hier herrschte. Genau wie der Ozean, der immer die Farbe des Himmels hat oder der Berge, die abends lila sind an den tropischen Küsten.

Ein Herr kam und sagte, die Taxe sei da. Josef saß hinten neben ihr und machte keinen Versuch, ihr nahe zu kommen oder sie zu berühren. Morgen ist Freitag. Sehen wir uns? Nein, sagte sie. Und Sonnabend. Nein. Sie nannte keinen Grund. Später sagte sie: Mein Vater hat ein freies Wochenende, was selten vorkommt. Ich fahre mit den Eltern weg.

Müssen Sie?

Nein.

Sie könnten auch dableiben?

Ja, ich fahre aber mit.

Es kann eine Ausrede sein, dachte er. Und in der nächsten Woche haben Sie Nachtdienst. Darf ich mal anrufen?

Ich weiß noch nicht, wie ich Zeit haben werde, sagte das Mädchen.

An der Ecke, die sie dem Fahrer bezeichnet hatte, stieg Josef mit aus. Es war die Stelle, wo sie damals in den Bus gestiegen war. Damals? Gestern. Josef bezahlte die Taxe, der Wagen fuhr zurück. „Von hier aus finde ich den Weg", sagte er. „Ich laufe gern ein Stück."

„Also dann", sagte sie und gab ihm die Hand.

„Soll ich Sie noch begleiten?"

„Nein. Bitte nicht."

„Vielleicht sehen wir uns nächste Woche."

„Vielleicht", sagte sie.

„Ich bedanke mich für den Abend."

„Ja. Gute Nacht", sagte sie.

Er hörte ihre Schritte in der Dunkelheit und sah sie noch zweimal im Lichtkreis der Laternen. Er wusste, sie würde sich nicht umdrehen und nicht winken, aber er wartete darauf, bis das Geräusch ihrer Schritte weit entfernt war und plötzlich abbrach.

Seit sie ins Auto gestiegen waren, hatte sie sich wieder kühl und ohne Entgegenkommen gezeigt wie am ersten Tag. Und hatte es eilig gehabt mit dem Abschied. Keine Zusage. Sie muss einen Ausflug machen. Wer weiß, was sie wirklich vorhat am Wochenende. Was sie überhaupt vorhat und wer sie ist und warum sie plötzlich wie ausgewechselt war. Vielleicht hat sie etwas Ähnliches irgendwo gelesen und spielt das jetzt nach.

Er erinnerte sich an einen Burschen auf einem der Schiffe. Der las zu viel und spielte immerzu die gelesenen Leben in Bruchstücken nach. Oft passten die Stücke überhaupt nicht aneinander. Er hatte angefangen, Banjo zu üben, und es ging schon ganz gut, als er sich plötzlich vornahm, harte Knöchel zu bekommen wie ein anderer seiner Bücherhelden. Und er tat, was dieser Held getan hatte: schlug mit geballten Fäusten gegen eiserne Türen, begann mit der linken Hand, schmierte Salbe auf die Stellen, wo die Haut über den Knöcheln geplatzt war, kühlte die Prellungen und schlug weiter mit der verbundenen Hand gegen Eisen. Die Schmerzen ertrug er.

Schlimmer war die Enttäuschung, dass er es nicht schaffte und die Hand nicht hart bekam. Er gab auf. Solange Josef mit ihm auf dem Schiff zusammen war, hat er die linke Hand nicht wieder so bewegen können wie vorher, und er warf eines Abends das Banjo über Bord.

Er wird ihr diese Sache erzählen. Vielleicht weiß sie nicht, was passieren kann, wenn man zuviel liest und das Gelesene zur unrechten Zeit nachspielt. Wenn er sie überhaupt wiedersieht. Wenn er die Ausdauer hat, sie wiederzusehen. Ausdauer hat ihm immer gefehlt.

Das Städtchen lag tief im Schlaf. Seine Schritte waren zu laut für die Stille. Sooft er auch irgendwo weggegangen war, die Verlorenheit hatte er nie abschütteln können, sie war ihm immer gefolgt. Nur der Abstand war geringer oder weiter gewesen.

Nun hat sie ihn wieder eingeholt.

Einmal besaß er ein Mittel gegen die Verlorenheit. Er war drei oder vier Jahre alt, wie eine der Heimschwestern später erzählte, und erfand eine Mutti. Sie hat gesagt, sie kommt morgen. Sie bringt Kuchen mit. Sie holt mich morgen. Er hatte alles aufgeboten und konnte fest daran glauben und war eingeschlafen.

3. Kapitel

Der letzte große Sprung lag fast zwei Jahre zurück. Er hatte ihn in Beirut gemacht, durch die Scheibe eines Bordellrestaurants. Der Entschluss oder der Zwang zu springen war plötzlich gekommen, ohne Notwendigkeit und durch nichts angekündigt.

Alle vorangegangenen Sprünge hatten entweder zum Ausbildungsprogramm gehört oder waren später, als er die Begabung zum Springen entdeckt hatte, Spaß und Übung zugleich gewesen. Während der Straßenkämpfe hatte er vielleicht oft sein Leben gerettet durch genaue überraschende Sprünge in ausgebrannte Fensterhöhlen, über Mauerreste und durch Scheiben. Er konnte unter stärkstem Beschuss eine Gasse überqueren, denn er stellte ein verwirrendes Objekt dar, das der gegnerische Schütze mit aller Wahrscheinlichkeit verfehlen musste: das Objekt lief los, wenige Meter nur, um unvermutet in eine Flugbahn überzuwechseln. Sekundenbruchteile darauf verschwand das Objekt.

Er sprang auch für Geld, einmal, bei einem Landgang in Dakar. Sie waren zu dritt und guter Stimmung und traten vor einer dicht gedrängten Menge in den Gassen der Altstadt auf, in der Nachbarschaft von dressierten Affen und Feuerfressern. Einer vom Schiff beherrschte das Radschlagen, und Josef zeigte vielerlei Saltos: den einfachen aus dem Stand, den Salto rückwärts und einen waghalsigen Schraubensalto mit ganzer Drehung aus dem Sprung. Der dritte Mann stachelte laut den Beifall der Menge an und sammelte nachher das Geld. Sie zählten die kleinen Münzen; jedes Mal ein hoher Betrag angesichts der Armut der Zuschauer. Aber sie hätten nicht eine halbe Flasche Whisky dafür kaufen können und verteilten die Münzen unter die Kinder.

Hunderte Sprünge hatte Josef gemacht, aus Depression und Übermut, mit und ohne Glas, und einige Dutzend davon waren lebensgefährliche Unternehmungen gewesen. Scheibensprünge hatte er immer am liebsten gehabt: die Präzision des Absprungs, ein kurzer Flug, die vorgestreckten Ellenbogen berühren das Glas, und die feine feste Spannung einer großen Scheibe löst sich und detoniert. Überschlag und stehen.

Als er in Beirut sprang, lag der afrikanische Krieg schon zwei Jahre hinter ihm. Nicht weit genug. Und er wollte versuchen, manches aus dieser Zeit zu verwenden und aufzubewahren: den Zorn auf die Schinder und Schlächter, den Abscheu vor Grausamkeit, die Erinnerung an Nannette. Einige Handgriffe zur Selbstverteidigung noch und schließlich die Sprünge.

Wie viel Augen hat die Dunkelheit in den Gassen Arabiens.

Die klagenden Gesänge gleichen sich immer. Duft von Leder und Hammelfleisch. Die Schüsse von Oran hört er weniger oft. Immer seltener. Das bleibt langsam doch zurück. Niemand weiß das hier, und er geht unbewaffnet und heiler; einer der zahllosen, die vom Meer in die Städte kommen, das Pflaster suchend, Festigkeit, Rausch und Vergnügen. Ewig passiert dasselbe. Zum Kotzen lustig.

Sie waren zu viert von Bord des Panamesen gegangen, eine Art Totenschiff, zivilisierter schon, ein Schiff der Liberty-Klasse, im letzten Weltkrieg gebaut, altersschwach, eng wie ein Karzer. Er hatte sich vorgenommen, es bei nächster Gelegenheit zu verlassen. Und wartete auf die Gelegenheit. Nun endlich wieder Steine, Licht und Zwielicht. Der Mann hatte sie zu einem Haus für gehobene Ansprüche geführt. Es musste an der Tür geklingelt werden. Hinter der großen Scheibe neben der Tür ein Vorhang und rötliches Licht hinter dem Vorhang. Josef hatte schon reichlich getrunken. Und plötzlich die Lust zu einer Tat. So locker sitzt die Tat.

Es geht ohne Klingel, sagte er zu dem Schlepper. Lass die Klingel. Ich mach das. Mehr als eine der Damen kann die Scheibe nicht kosten. Alles hat seinen Preis.

Durch diese Scheibe, fragten die anderen ungläubig. Spring, und wir zahlen die Scheibe.

Den Sprung lass ich mir nicht bezahlen, sagte Josef. Das könnt ihr gar nicht. Wie wollt ihr das machen? Hocken wir auf demselben Schiff und fluchen und saufen zusammen ab, wenn es morgen absäuft. Es geht alles durch vier. Von jetzt ab geht alles durch vier. Aber unbezahlbar die Lust zu fliegen. Für Sekunden die Schwerkraft überwinden, nicht überwinden, nur anders beherrschen, fliegend, und dann der flüchtige Widerstand der spröden Fläche, die Drehung, der Stand.

Es war ein guter Sprung. Er riss einen Tisch um, den er nicht hatte sehen können, stand aber trotzdem. Die Frauen kreischten; er wünschte guten Abend. Die anderen stiegen herein, wo früher die Scheibe war. In wehendem Seidenmantel wie auf Flügeln kam die Besitzerin, zeterte, nannte endlich einen Preis. Vergessen Sie den Whisky nicht und was wir sonst noch verzehren werden von Ihren schönen Vorräten. Sie nannte wieder einen Preis, und jeder zahlte seinen Anteil. Die Frau sah die Dollarnoten, nahm sie entgegen wie eine Kränkung, zählte nach und ließ sie schnell verschwinden. Darauf klatschte sie in die Hände, war wieder ganz die heiter-resolute Mutter des Hauses, die Freundin der Töchter, und sie hieß die Herren willkommen.

Seitdem war Josef nicht gesprungen. Jedenfalls nicht durch Scheiben. Möglich, dass er manchmal nahe an einem Sprung vorübergegangen war, ohne eine Ahnung. Er ahnte auch heute nichts. Er saß allein in einem lauten Tanzlokal, das überfüllt war. Zu Hause hatte er nicht bleiben wollen und war in die große Stadt gefahren. Unter Menschen, das lenkt ab, hatte er gedacht.

Und dann sah er sie am späten Nachmittag. Hinter ihrem Haar versteckt, in einem Auto sitzend, neben dem Fahrer, der schnell und triumphierend davonfuhr. Ob sie es war, wusste Josef nicht genau, hielt aber den Zweifel nieder, hatte sie deutlich gesehen. Wollte sie gesehen haben. Auch den Mann neben ihr: Sonnenbrille, eine Art PIayboy, brünetter Frauentyp, irgendein Söhnchen, irgendeines Vaters Auto, Sportmodell, Zweitwagen für Söhnchen. Darf er kaputtfahren. Lässig am Steuer. Heute mit ihr. Schnell und triumphierend mit Ute.

Nun war sie irgendwo weit weg. Oder ganz in der Nähe, und Josef saß hier wie ein Fremdkörper. Das Vergnügen ging ihn nichts an. Eine Menge Mädchen, und keine, die ihn anging. Er konnte sich sagen, dass er sie irgendwo in der Stadt hätte finden können, wenn er nur den Antrieb gehabt hätte, sie zu suchen. Er konnte trauern, ließ die verlangenden Blicke, die er gelegentlich auffing, kalt ins Leere abgleiten. Er sah den hastigen Eifer der jungen Männer und wie sie sich bereit hielten, um bei den ersten Klängen einer neuen Tanzrunde aufzuspringen und loszulaufen. Wer zu spät kam, suchte eine andere Dame. Er suchte nichts hier.

Es war Freitagabend. Morgen früh um fünf begann der neue Zyklus am Turm, zehn Tage zu je zwölf Stunden. Sie waren bei dreiundachtzig Metern und müssten in diesem Zyklus den Turm schaffen. Wenn es läuft. Aber in letzter Zeit gab es häufig Schäden im Beton, und der von der Bauaufsicht kratzte und hackte am Beton herum und markierte die Stellen, die ausgestemmt werden mussten. Betonspecht nannten sie den Mann. Wer weiß, wie es weitergeht. Irgendein Fehler an der Schalung. Bruno sagt, die Wand ist schon zu dünn in dieser Höhe, es hängt zu viel dran und ist zu unruhig für den Beton.

Kann recht haben damit. Guter Fachmann. Josef dachte eine Weile an Bruno und einige andere, kam dann über die Pumpen und die Winden auf den Südschweden, über ihn auf Loni und natürlich auf Ute. War wieder angelangt, saß allein hier und ahnte nicht, dass er in dieser Nacht springen würde.

Der Kellner kam selten, und Josef bestellte immer gleich zwei doppelte Kognak und jedes Mal ein Wasser dazu. Geröstete Mandeln hatten sie nicht. Und einmal dachte er: merde. Es war kein gutes Zeichen, wenn er anfing, französische Wörter oder Sätze zu denken.

Nach Mitternacht zahlte er und ging, aber die Erwägung, nach Hause zu fahren, verwarf er sofort. Eine milde Vorsommernacht. Jetzt mit Ute am kleinen Kolksee. Oder am großen. Egal wo. Was macht sie jetzt? Naherholung. Fernerholung. Doppelerholung. Er fluchte auf französisch. Eine Straßenbahn donnerte vorbei. Die Ampeln im Zentrum arbeiteten noch. Er wartete, denn er wollte bei Rot über die Straße gehen.

Das Opernhaus war noch angestrahlt. Über diesen Platz war sie gekommen, als er sie entdeckt hatte aus seinem Versteck hinter der Tür.

Nach dem Konzert waren sie ein Stück durch die Anlagen gegangen. Josef ging jetzt den Weg allein. Vor dem Antiquitätengeschäft war sie stehen geblieben, ein Krug hatte ihr gefallen und ein Spiegel. Was von den Sachen, die auf dem Vertiko liegen, wird dir gefallen, hatte er gedacht. Vielleicht der Kupferteller aus Dakar. Du wirst dich freuen mit deinen grünen Augen über den getriebenen und verzierten Teller aus Dakar. Gesagt hatte er nichts.

Sie waren um diese Ecke gegangen. Dort am Bahnhof lag die Bar. Er könnte hineingehen. Der Tisch ist vielleicht frei. Er würde zwei Whisky bestellen. Er stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Haus war alt und schmal, wie viele Häuser der Innenstadt. Man hatte die unteren Räume modernisiert und die Front verputzt. Glatte große Scheiben, die fast bis zur Erde reichten. Sauber über der Tür die Leuchtschrift „Pinguin". Und die Tür selbst war eine große schlanke Scheibe, eingefasst von einem Rahmen aus Leichtmetall, hohe schlanke saubere Scheibe.

Josef überquerte die Straße. Er wollte doch hineingehen. Gestern saß er dort mit ihr, und sie hatten getanzt. Nur dort drin kann er richtig trauern.

Die Tür war verschlossen.

Ein Schild hing da: Wegen Überfüllung geschlossen. Er klopfte. Wer kommt auf die Idee, eine Bar zu schließen. Der Tür genau gegenüber befand sich ein Spiegel; er sah sich dort stehen und klopfen. Ein langer roter Läufer führte innen von der Tür zum Spiegel. Rechts an der Garderobe stand ein Mann in dunklem Anzug, der sich endlich umwandte, als Josef zum dritten Mal und laut an die Scheibe klopfte. Der Mann schüttelte ärgerlich den Kopf. Das knappe Hochfahren seiner Hände mochte heißen: lassen Sie das oder können Sie nicht lesen oder etwas Derartiges.

Vor der Tür, etwas abseits, warteten noch ein junges Pärchen und zwei Männer. Wenn Leute gehen, sagten sie, lässt er Leute hinein. Die entsprechende Anzahl. Da kann man lange warten. Ja. Wer geht um ein Uhr schon nach Hause. Morgen ist arbeitsfrei. Man steht hier eine Stunde, wenn man Pech hat. Oder länger. Wer geht so früh aus einer Bar nach Hause in der Nacht zum Sonnabend.

Josef hörte schweigend zu und dachte: Wieso kein Reinkommen? Wer sagt das? Und die Leute, die drin sind, sollen ruhig bleiben, wo sie sind. In einer Bar ist immer Platz, dachte er auf französisch. Er hatte nie eine Bar angetroffen, die wegen Platzmangel geschlossen war. Whisky kann man auch stehend trinken.

Er spürte eine sonderbare Spannung und stand an der Bordkante in Höhe der Tür, die eine schlanke Scheibe war. Er trat zurück auf die Straße, ahnte nun, dass er springen würde. Er sagte zu den Wartenden: Es gibt überhaupt keine Bar, wo nicht noch Leute reinpassen. Ich habe nie erlebt, dass eine Bar zugemacht hätte, weil kein Platz mehr war. Immer ist noch Platz in einer Bar. Wem es zu eng ist, der kann ja wieder rausgehen.

Er trat noch zwei Meter zurück und stand nun richtig für den Anlauf. Durch die hohe schlanke Scheibe in der Tür sah er sich weit hinten im Spiegel stehen, und er dachte daran, dass er zum allerersten Mal die Gelegenheit haben würde, einen eigenen Sprung zu sehen, jedenfalls den Absprung, einen Teil der Flugbahn und das Stehen nach dem Salto. Er räumte schnell die Taschen aus, und was er in der Jacke fand, steckte er in die Hosentaschen.

Wir sind fünf, sagte er. Sie sollen mal sehen, was da drin noch für Platz ist. Es gibt auf der ganzen Welt überhaupt keine Bar, wo nicht noch fünf Leute reinpassen. Sie hatten sich schließlich vorgenommen, heute da reinzugehen. Genau wie ich. Das hatte ich mir fest vorgenommen. Also. Sie können nachkommen.

Er hatte alle Vorbereitungen beendet, und die Leute sahen ihn loslaufen, präzise abspringen und schräg aufliegen wie einen großen dunklen Vogel. Der Ton, mit dem die Scheibe splitterte, war voll und gediegen. Josef stand. Es war einer seiner wirklich guten Sprünge. Und der erste, den er selbst beobachtet hatte. Vielleicht auch der letzte. Wer weiß, ob die Gelegenheit, vor einem Spiegel zu springen, wiederkommt. Er zog die Jacke zurecht und sagte guten Abend. Draußen stehen noch vier Personen.

Er sah sich bald umringt, und der Herr im dunklen Anzug ging ans Telefon. Ein Gespräch über den Preis der Scheibe lehnten die Leute ab. Eine Bar muss geöffnet sein, sagte Josef. Diese hier bis vier Uhr früh, wie es draußen angeschrieben steht. Jetzt ist sie geöffnet. Was kostet die Sache?

Aber Geld wollten sie nicht, und er sollte auch keinen Whisky bekommen.

Tut mir leid, mein Herr, sagte einer der Kellner. Und der Herr Geschäftsführer, der mit seinem Telefongespräch zu Ende war, sagte: An Leute wie Sie schenken wir nichts aus. Was soll das heißen: wie Sie. Erklären Sie das mal genauer. An Leute, die Scheiben zerschlagen, sagte der Herr. Ich habe die Scheibe nicht zerschlagen, sagte Josef. Wenn Sie das nicht gesehen haben, dann haben Sie nicht aufgepasst. Ich bin durch die Scheibe hindurchgesprungen. Ich lege Wert auf diesen Unterschied. Bitte, sagte der Herr.

Hier ist Geld, sagte Josef. Bekomme ich einen Whisky?

Nein, mein Herr.

Draußen fuhr ein Streifenwagen der Polizei vor. Was haben wir denn hier? Und Sie sind der Täter? Papiere hat der Täter nicht bei sich. Er wird aufgefordert einzusteigen und leistet keinen Widerstand. Darf man rauchen? Ja. Aber die Männer nehmen keine Zigarette. Das Sprechfunkgerät arbeitet. Berta einundzwanzig unterwegs zur Rathausstraße. Ende. Alles wie im Kino.

Man wird seine Angaben notieren. Und warum gesprungen? Innerer Konflikt. Erklär das mal. Um fünf Uhr beginnt die Schicht, und er sitzt immer noch hier. Zuspätkommen kostet zwanzig Mark. Einzuzahlen in die Brigadekasse. Eine Schicht versäumen kostet fünfzig. Genau wie Heiraten und ein Kind kriegen. Aber gegen sechs telefonieren sie endlich. Bruno am anderen Ende.

Zerbricht sich schon wieder meinen Kopf, denkt Josef.