Impressum

Herbert Otto

Zeit der Störche

Erzählung

ISBN 978-3-95655-305-9 (E-Book)

 

Das Buch erschien erstmals 1966 im Aufbau-Verlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

Krempen liegt vierzig Kilometer von der Stadt entfernt, und sonntags ist die Zugverbindung schlecht. Wolfgang hatte angeboten, sie mit dem Auto hinzubringen, und sie hatte erklären sollen, warum sie es nicht wollte. Einfach so: sie wollte den Zug nehmen, allein dort ankommen. Wie früher mit dem Koffer durchs Dorf gehen, an den Wiesen vorbei zur alten Schule. Die Neugierde der Dorfbewohner. Unterwegs den Koffer absetzen. Die Brennerei ist nicht mehr in Betrieb; der Schornstein steht noch. Oben ein Storchennest. Was machen Störche im August? Sie denken schon an die Reise. Während der Bahnfahrt wollte Susanne sich auf Krempen freuen, auf das Zimmerchen unterm Dach, auf die Urlaubstage, auf Spaziergänge.

Wolfgang brachte sie zum Bahnhof. Der Zug hatte Verspätung. Auch Bahnhöfe machen Sonntag: sie sind stiller und sauberer, die Züge lassen sich Zeit.

„Du bleibst eine Woche?", fragte er.

„Vielleicht etwas länger, wenn es mir gefällt."

„Vergiss nicht, dass wir in Urlaub fahren."

„Ich vergesse es nicht", sagte Susanne. „Und du denk an den Obstsalat in der Speisekammer. Überhaupt ans Essen zwischendurch." Oft vergaß er über den Büchern das Essen.

Wie verschieden die Leute warten. Einige laufen fortwährend auf und ab. Andere stehen ganz ruhig neben dem Gepäck. Der junge Mann, der dort auf dem Koffer sitzt, beobachtet Susanne. Er wird später sagen, sie müsse ihn hier schon bemerkt haben, denn einmal habe sie ihn sekundenlang angesehen und den Blick dann strafend abgewandt. Daran wird sie sich nicht erinnern. Wie oft sieht man Gesichter an, ohne sie zu sehen.

Die Einfahrt des Zuges wurde gemeldet.

„Soll ich dich abholen?", fragte er.

„Ich rufe dich an oder schreibe."

Susanne stand am offenen Fenster der Wagentür, und als der Zug anfuhr, sprang Wolfgang auf, um sie noch einmal zu küssen.

Während der kurzen Strecke nach Bieberstädt blieb sie an der Tür stehen. Das erste Mal, seit sie ihn kannte, fuhr sie allein in Urlaub. Keine Pflichten, keine Kinder. Eine Woche ganz für sich sein, nur manchmal mit Gisela reden, lesen, baden gehen, den alten Steg besuchen. Das ist länger als zwei Jahre her. Da war sie fast noch ein Kind. Nun ist sie fast eine Ehefrau. Abends wird Einstein Flöte spielen. Er bringt mich noch ins Irrenhaus mit der Flöte, schreibt Gisela. Weshalb hat sie ihn geheiratet, -wenn sie ihn nicht liebt? Weil er sich gut beherrschen lässt. Und aus Eitelkeit. Die Züge fahren am Sonntag etwas langsamer.

In Bieberstädt musste sie eine gute Stunde auf den Anschluss warten. Es war gegen sechs Uhr. Am Ende des Bahnsteigs schien die Sonne. Dort saß Susanne auf dem Koffer. Sie hatte Bücher mitgenommen und hätte lesen können, aber sie hielt das Gesicht in die Sonne, und mit der Wärme und der Stille kam die Müdigkeit. Obwohl sie bis zum Mittag geschlafen hatte, war sie nicht ausgeruht.

Sie stand auf und ging über die Gleise. Eine Zeit lang betrachtete sie die Blumen, die neben dem Bahnhofsgebäude hinter einer hölzernen Umzäunung standen. Das Beet war gut gepflegt. Blumen auf Bahnhöfen.

In der kleinen Wirtschaft roch es nach Bier und Bohnerwachs. Die meisten Tische waren leer. Susanne bestellte Kaffee. Aus der Reisetasche nahm sie den Gedichtband. Die Leute, die in der Nähe der Theke saßen, sprachen laut von einem Mann, der Pansegrau hieß, und der Kellner brachte den Kaffee.

„Herr Ober!", rief jemand vom Fenster her.

Nun sah sie den jungen Mann drüben am Tisch. Er reichte dem Kellner das leere Bierglas. Er hatte ein Buch vor sich liegen, aber zugeklappt, und sah herüber. Er war wohl Mitte zwanzig. Es schien, als schaute er sie schon lange an.

Sie versuchte zu lesen, fand aber keinen Zugang zu dem Gedicht, weil sie seinen Blick spürte, und wissen wollte, ob er wirklich noch herschaute. Der Kaffee war heiß, und sie sah, dass der junge Mann unverändert dasaß, die gefalteten Hände auf dem Buch, und frech herübersah, als gäbe es hier nichts zu betrachten außer ihr.

Na, du. Ich bin fertig mit meinem Buch. Das Lesen macht mir jetzt keinen Spaß. Jetzt seh ich dich an. Und du wirst auch hersehen. Ich bin sicher. Wahrscheinlich warten wir beide auf denselben Zug. Wir haben mindestens eine Stunde Zeit. Inzwischen weiß ich schon einiges von dir: du bleibst stehen und siehst Blumen an. Der Abschied vorhin deutet auf etwas Festes zwischen euch. Er sieht gut aus. Er scheint dich mehr zu lieben als du ihn. Und ich sage dir, ehe der Ober das Bier bringt, wirst du ein zweites Mal hersehen.

Er schien von der Sorte, die Susanne nicht liebte: sie erwarten keinen Widerstand, und treffen sie welchen, macht es sie zornig; sie sind den Kampf nicht gewöhnt. Sie treten an und erobern. Sie haben es hundertmal geübt, und es ist ihre zweite Natur. Was sie auch tun, sie verkörpern die männliche Provokation. Sie sind einander so ähnlich wie Brüder. Oder sie haben alle denselben Lehrer gehabt, um diese Blicke zu lernen und die freche Gelassenheit und dieses Lächeln, das schon den Sieg feiert. Das war ihr vor fünf Jahren zum ersten Mal begegnet. An der Ostsee. Der Bursche hatte mit ihr getanzt und sie dann zum Zeltplatz begleitet. Unterwegs wollte er sie küssen. Aber sie wollte nicht, und er trug ihr seine Theorie vor: mit dem Tanz und dem Abend verspreche das Mädchen den Heimweg und natürlich den Kuss. Das sei so und sei Gesetz. Aber sie weigerte sich immer noch, und da sagte er, sie sei nicht normal. Sie sei kalt und nicht normal. Sie war sechzehn und er einundzwanzig, und sein Vorwurf hatte sie lange beschäftigt.

Der Kellner brachte das Bier. Der junge Mann trank und hob ihr das Glas zu und sog Bierschaum von den Lippen. Wenn sie schon hinsah, dann wenigstens so, als sei sie in Gedanken woanders. Sie ließ den gleichgültigen Blick langsam weiterschweifen, über die Wand hinten und die Uhr zum Fenster. Draußen standen die Signale in der Sonne. Der Vers im Buch, den sie schon dreimal gelesen hatte, hieß: „Vorher verwische ich noch die spuren des mörtels, verteile die rosen gelb in die vasen und übe für nachher: zärtliche hände."

Er stand auf, nahm das Bier und kam herüber. „Ich darf doch", sagte er und setzte sich.

Zuerst fiel ihr auf, dass er helle Augen hatte. Blau oder blaugrün, aber ganz hell und aufmerksam.

„Warten Sie auf den Zug achtzehn Uhr fünfzig?"

Sie schaute weiter ins Buch, aber so zu tun, als säße er nicht da, kam ihr albern vor. „Wenn ja, was dann?", fragte sie grob und wusste, dass ihn das nicht entmutigen würde.

„Dann warten wir beide auf denselben Zug", sagte er.

„Fein", sagte sie.

„Fahren Sie weit mit Ihrem großen Koffer?"

Sie nickte.

„Sie lesen ja nicht. Sie könnten das Buch weglegen."

Entweder sie reagierte nicht mehr auf ihn oder sie legte das Buch weg. Eine Frechheit von ihm, aber es stimmt, was er sagt. „Schade. Ich hätte gern gelesen." Sie legte das Buch auf den Tisch. Er las den Titel und sagte: „Jemand hat mal geschrieben: Mit dem Blick auf den Buchtitel kennt man sich schon halb. Finden Sie das auch?"

„Kann sein. Manchmal."

„Gedichte sind modern", sagte er. „Alle Welt macht Gedichte. Machen Sie auch welche?"

Sie schüttelte den Kopf. Seine Sicherheit, sah sie, war nicht vollkommen. Er schien erwachsener und weniger selbstgefällig, als er gewirkt hatte, sogar etwas scheu. Das Bierglas war leer. Er winkte dem Kellner.

„Trinken Sie auch Bier?"

„Nein. Aber Sie trinken zu viel."

„Ja", sagte er einfach.

„Wie viel am Tag?"

„Verschieden."

„Na, wie viel?"

Nach einer Weile sagte er: „Zwölf oder fünfzehn. Manchmal mehr. Letzten Donnerstag waren es mehr. Dreiundzwanzig oder so." Das hörte sich wie etwas Alltägliches an, und er schien sich zu wundern, dass sie es unglaubhaft fand oder leichtsinnig.

„Sie ruinieren sich."

„Sehe ich so aus?"

„Noch nicht."

Er bot ihr zu rauchen an, aber sie dankte, und während er sich Feuer nahm, zitterte seine Hand.

„Ich hätte gedacht. Sie machen Gedichte", sagte er weder scherzhaft noch spöttisch, sondern eher mit Bedauern. Sie sah, er hatte es wirklich gedacht. Es war eine sonderbare Art von Aufrichtigkeit an ihm, ein besinnlicher, suchender Ernst.

Als sie auf den Bahnsteig hinausgingen, trug er ihren Koffer und in der anderen Hand seinen Koffer und noch eine Aktentasche. Er war fast einen Kopf größer als sie.

Er fragte: „Wie weit fahren Sie?"

„Bis Krempen."

„In Urlaub oder sind Sie dort zu Hause?"

„Etwas Urlaub. Ich besuche dort jemand."

„Für länger?"

„Eine Woche."

„Kennen Sie das Nest?"

„Ganz gut. Ich war während des Studiums dort."

Der Zug hätte schon da sein müssen. Es war kurz nach neunzehn Uhr. Der Speicher warf nun seinen Schatten über den Bahnsteig und beide Gleise. Nur wenige Reisende standen da, vielleicht zehn oder zwölf.

„Ich heiße Christian", sagte der junge Mann unvermittelt. „Smolny."

„Susanne Krug", sagte sie.

Er gab ihr die Hand und verbeugte sich. Er schien nicht zu wissen, ob er lächeln und wie lange er ihre Hand halten sollte. Susanne zog ihre Hand zurück, und eine Zeit lang spürte sie noch den Druck und das Zögern und die unvermutete Härte seiner Hand.

„Soll ich fragen, was mit dem Zug ist?"

Sie zuckte die Schultern, und sie dachte: Er ist also anders und gehört nicht zu dieser Sorte. Überhaupt ist das Unsinn. Sorten gibt es nicht. Gewöhn dir ab, Leute aus der Ferne zu beurteilen.

„Warum sagen sie nicht durch, was mit dem Zug ist?"

„Sie denken, es geht auch so", sagte Susanne.

„Mich ärgert das", sagte er. „Sie sind faul, weil sie auch bezahlt werden, wenn sie faul sind. Ärgert Sie das nicht?"

„Doch."

Aus der Ferne näherte sich ein Zug. Über den Lautsprecher kam eine Durchsage, aber sie war nicht zu verstehen.

„Sie geben die Tauchtiefen bekannt", sagte Christian.

Der Zug hielt nicht. Es war ein langer Güterzug, der lärmend den Bahnhof passierte, und jeder Wagen lärmte auf eigene Art.

Christian war von der Kante zurückgetreten und hatte Susanne ein Stück herübergezogen, sodass er zwischen ihr und dem Zug stand. Er sagte etwas, und sie hörte nur den Zug, lachte und schüttelte den Kopf. Auch er verstand nicht, was sie sagte. Der Fahrtwind des Zuges wehte ihr das Haar ins Gesicht. Die ganze Zeit sahen sie sich an, lachten nicht mehr. Du bist nicht so, wie ich geglaubt hatte. Ich weiß jetzt deinen Namen, aber was er bedeutet, weiß ich nicht. Das ist immer so, als hätte man diesen Namen nie vorher gehört. Ich halte das Haar mit beiden Händen, damit ich dich sehen kann. Du bist anders. An deinen Augen sehe ich, dass du wissen möchtest, wer ich bin. Das wollt ihr immer wissen. Aber vielleicht bist du anders. Was hat dich so scheu gemacht? Woher hast du die Strenge um den Mund? Und über dem Auge hast du eine kleine Narbe.

Der Güterzug war lang. Jeder Wagen machte ein anderes Geräusch.

2. Kapitel

Sie saßen im Zug einander gegenüber.

Der Wald hatte plötzlich aufgehört. Man konnte über Felder und einen See bis zum Horizont sehen. Die Sonne stand groß unter einer Wolkenbank. Abseits der Bahnlinie lag hinter Bäumen ein Dorf. Es konnte jetzt nicht mehr weit sein.

„Eine alte NSU-Maschine war das, Baujahr 36", sagte er. „Eine Zweihundertfünfziger, wenn Sie wissen, was das ist. Die hatte mir ein Kumpel geschenkt."

„Das gibt es, ein Motorrad verschenken?"

Sie saßen am Wagenfenster, und sie konnte ihn ansehen, während er sprach.

„Ein Motorrad war das nicht mehr. Beinahe dreißig Jahre alt. Jedenfalls sagte er eines Tages: hier, nimm den Hobel. Der Rahmen war schon mehrmals geschweißt. Alles Sachen, die verboten sind. Aber sie fuhr. Sogar mit Waschbenzin. Und dann hatte ich diesen Sturz. Das musste kommen, denn ich war nie nüchtern, wenn ich fuhr."

„Sie sind gern leichtsinnig?"

Er zuckte mit den Schultern. „Nicht mehr so wie früher. Man wird langsam erwachsen. Und da dachte ich mir: du wirst dir den Hals brechen und hab das Ding weiterverschenkt."

Sie nickte und sah die Narbe über seinem Auge.

Du weißt noch nicht, dass wir eine Woche Zeit haben, dachte er. Vielleicht bleibst du auch etwas länger. Es sieht aus, als ob du sehr langes Haar hättest. Deine Augen gefallen mir, aber es ist wohl zu früh, dir das zu sagen. Allein, dass ich es sagen möchte, ist sonderbar und wundert mich. Du kannst mit den Augen zuhören. Jetzt denkst du an diesen Mann. Der könnte Arzt sein oder Ingenieur. Er hat auf dem Bahnsteig eine Pfeife geraucht. Und zwar gut. Wie einer, der mehr kann, als gut aussehen. Ihr tragt beide keine Ringe. Trotzdem könnte er dein Mann sein. Du siehst mich an und denkst an ihn. Oder an ganz etwas anderes.

Christian wich ihrem Blick aus und deutete aus dem Fenster. „Da ist schon Krempen", sagte er. „Sehen wir uns mal?"

„Ich glaube nicht", sagte sie, und sie wusste nicht einmal, wohin er fuhr.

„Wo werden Sie dort wohnen?", fragte er nun.

„Wo ich damals gewohnt habe. Im alten Schulhaus unter dem Dach. Es ist eine schmale Kammer. Die Wände sind schräg."

Er nickte und sah, dass sie sich freute, dort zu wohnen. „Die ganze Zeit wundere ich mich", sagte er, „dass Sie nach Krempen fahren."

„Was wundert Sie daran?"

„Der Zufall. Ich fahre auch dorthin."

Susanne gab sich keine Mühe, die Überraschung zu verbergen. „Was tun Sie in Krempen?"

„Wir bohren dort."

„Was bohren Sie?"

„Wir bauen unterirdische Gasspeicher."

Drüben lag jetzt Krempen, und man sah hinter dem Wald einen Bohrturm. Susanne erkannte das Dorf, aber das Bild war verändert durch den Turm. „Ich habe von diesen Gasspeichern gelesen", sagte sie.

„Dann wissen Sie nichts über uns. Oder nur wenig. Wir sind ein wilder Haufen. Sie mögen uns nicht im Dorf."

„Weshalb?"

„Nachts, wenn die Leute schlafen, sind wir laut. Wir belästigen die Mädchen. Wir klauen."

„Was klaut ihr?"

„Verschieden. Karnickel und Spargel und Hühner."

„Sie auch?"

„Ja." Das hörte sich wieder an wie das Natürlichste von der Welt. Er sagte es weder stolz noch prahlerisch. Und er gab keine Wertung. Er sagte, was war. „Wir klauen nur, was wir brauchen."

„So."

„Ja."

„Und das finden Sie gut?"

„Nein."

„Aber Sie tun es?"

Er nickte. Der Zug bremste schon. Christian nahm die Koffer aus dem Gepäcknetz.

„Ich denke. Sie sind erwachsen", sagte Susanne.

„Nein. Ich habe gesagt: Ich werde langsam erwachsen. Und ich leiste auch kaum noch Widerstand, weil es sich leider nicht verhindern lässt."

Da sie schwieg und ihn zurechtweisend ansah, sagte er lachend: „Jetzt sehe ich zum ersten Mal, dass Sie Lehrerin sind."

Aber Susanne lachte nicht.

 

Vom Bahnhof ins Dorf ging man knapp zehn Minuten. Er trug wieder beide Koffer. Auf der Wiese kurz vor den ersten Häusern standen die Wohnwagen der Bauarbeiter. Es waren acht Wagen, frisch lackiert und im Halbkreis aufgestellt. Susanne sah drüben den Schornstein der alten Brennerei. Das Nest schien leer zu sein. Oder sie schliefen schon.

„Sind die Störche noch da?"

„Ja", sagte er. „Sie haben zwei Junge."

„Es wird noch dasselbe Paar sein", sagte sie. „Störche kommen immer in das alte Nest zurück."

„Stimmt es, dass sie das ganze Leben zusammenbleiben?"

„Man sagt so."

„Aber wenn sie sich nicht gefallen?", fragte er. „Und den Irrtum erst später bemerken."

„Ihre Ansprüche werden nicht so hoch sein", sagte sie.

„Im Dorf, wo wir früher die Baustelle hatten", sagte er, „war auf dem Feuerwehrturm ein Storchennest. Im letzten Jahr kam der Storch allein und hat von früh bis abends an dem Nest gearbeitet und ausgebessert. Später war plötzlich eine Störchin da."

„Er war vielleicht noch Junggeselle", sagte sie.

„Ich möchte mal sehen, wenn sie sich sammeln und abfliegen."

„Ich habe das vor drei Jahren gesehen", sagte Susanne. „Sie haben sich drüben an den Teichen gesammelt und sind am vierzehnten September abgeflogen. Die Leute hier sagen, sie fliegen immer am selben Tag."

„Sind Sie am vierzehnten September noch hier?"

„Nein."

„Sie könnten herkommen, wenn es ein Sonnabend oder ein Sonntag ist."

Darauf gab sie keine Antwort. In zwei der Wohnwagen brannte Licht. Die Dämmerung hatte begonnen.

„Hier war guter Spargel", sagte Christian und deutete auf ein Stück Acker. „Es gab weiter drüben noch mehr. Aber dieser hier war der beste Spargel. Es war auch der bequemste."

„Traurig, dass Sie noch Witze darüber machen."

„Mögen Sie keinen Spargel? Er passt gut zu einem Schnitzel. Und wir haben keinen Koch. Das heißt, wir haben einen und haben ihn auch nicht. Er hat sich das Bein mit Hühnersuppe verbrannt, und nach seiner Krankheit fängt er woanders an. Aber solange er krank ist, gehört er zum Betrieb und kann nicht entlassen werden. Und wenn wir jetzt einen Koch einstellen, hätten wir zwei. Aber zwei Köche stehen uns nicht zu, also kochen wir selbst. Heute der, morgen der. Mögen Sie Huhn?"

„Jedenfalls kein gestohlenes."

„Das schmeckt man nicht", sagte er. „Huhn gibt es selten und nur, wenn wenige von uns da sind. Wenn wir mehr als vier oder fünf Hühner klauen, gibt's Ärger."

„Hören Sie auf damit. Sie sollten sich schämen."

„Wie macht man das?"

„Ich habe zwei oder drei Schüler, die könnten Ihnen das erklären."

Christian blieb stehen und setzte die Koffer ab. „Schade, dass ich nicht Ihr Schüler bin", sagte er. „Ich bringe nur schnell meinen Koffer weg und begleite Sie noch."

„Danke, das müssen Sie nicht", sagte sie.

„Ich weiß. Aber ich möchte."

„Nein, wirklich nicht."

„Wann sehen wir uns heute Abend?", fragte er.

„Wir werden uns nicht sehen", sagte sie.

Seine Augen hatten jetzt keine Farbe. Sie waren nur hell. Er drängte nicht, sie noch zu begleiten, entweder aus Stolz oder Schüchternheit oder weil er zu wissen glaubte, dass sie es dennoch erwartete. Auch fragte er nicht weiter nach dem Wiedersehen. Sie gab ihm die Hand, um sich zu verabschieden, und er hielt sie länger als vorhin auf dem Bahnsteig. Vielleicht fühlte er sich ermutigt von der beginnenden Dunkelheit oder er legte ihr Schweigen und ihren Blick falsch aus. Sie schüttelte den Kopf, und er ließ ihre Hand los.

„Vielen Dank", sagte sie, nahm den Koffer und ging.

„Bis bald", sagte er, aber sie gab keine Antwort und drehte sich nicht um. Er sah ihre Beine und dass sie einen frechen Hintern hatte, aber das war ihm schon vorher aufgefallen.

3. Kapitel

Christian öffnete die Wagentür und stellte im Vorraum den Koffer ab. Eduard saß am Tisch. Er aß und stocherte mit dem Messer in einer Fischbüchse. Eduard aß gern Fisch. Das Radio spielte. Sie begrüßten einander.

„Schon lange da?", fragte Christian.

„War überhaupt nicht weg", sagte Eduard.

„Wolltest du nicht nach Hause?"

„Ich wollte."

„Na, und?"

Eduard häufelte Fisch aufs Brot und aß und gab keine Antwort. Christian begann den Koffer auszupacken. Familie oder Freundin oder Liebschaft - das war hier kein Thema. Hier war Baustelle, man lebte auf Abruf. Es war kein Zuhause, es war eine Unterkunft. Die Gefühlchen lass weg. Damit fangen wir hier nichts an. Fünfhundert Meter entfernt steht der Turm. Wir bohren. Deshalb sind wir hier, und der Turm bestimmt alles: Aufstehen, Schlafen, Essen, Feierabend, was du verdienst, wann du nach Hause fährst, auf wen Verlass ist, wen du schätzen kannst und wen nicht. Bist du imstande, zwanzig Stunden auf der Anlage zu stehen und zu würgen, denn das Gestänge ist gebrochen, und wir müssen mit dem Fangdorn das Gestänge greifen. Das sitzt da unten, wahrscheinlich schräg in einer Kaverne. Wer weiß, wie es sitzt. Wir sind dreihundert Meter tief und rutschen ab mit dem Fangdorn und müssen es wieder versuchen. Du klebst vor Dreck, und der Regen läuft dir in den Hals, und deine dreckigen Flüche sind wie Klaviermusik. Sie tun dir gut und strecken dich wieder. Mach mit dir, was du willst, aber bleib. Steh das durch. Geh nicht, bevor alle gehen und sich alles wieder dreht, alles verfluchte Metall, dieses Kelly und der Tisch und alles. Kannst du das - dann zum Teufel mit deiner untauglichen Vergangenheit. Geschenkt. Du weißt, wie wir sind: deine ganze nichtsnutzige beschissene Vergangenheit schenken wir dir, weil du einer von uns großen Maulwürfen bist, und wir den langen harten Rüssel haben, unten aus Schwedenstahl, den wir der Erde langsam in den Bauch stoßen und wieder rausziehen in drei Stunden. So lange dauert das bei uns, denn der Rüssel ist nun mal so lang. Und wieder rein damit, und der ganze Turm zittert, so viel Kraft haben wir, weil wir solche Maulwürfe sind, solche verdreckten, verbissenen, großartigen Maulwürfe. Bist du's aber nicht - dann zum Teufel mit deinem Geschwätz, und dass du eine Staatsanwältin hast, wirft kein gutes Licht auf sie. Eine Weile versuchen wir's noch mit dir. Und wenn du kein Maulwurf werden kannst - hau ab. Sollten wir mal Zeit haben, fragen wir uns nebenher, wo die Frau ihre Augen hatte.

„Warum bist du nicht gefahren?", fragte Christian.

„Ich bin eben hiergeblieben", sagte Eduard grob. „Es war ihr bestimmt lieber so."

„Donnerstag hast du gesagt: besser ich fahre."

Eduard winkte ab.

„Du bist ein elender Dickschädel", sagte Christian.

„Meine Sache, was ich bin."

Sie schwiegen, und das Gespräch über Eduards Sorgen war zu Ende. Genaues wusste Christian nicht, nur dass ein anderer Mann im Spiel sein musste. Er hätte gern mehr gewusst, um Eduard vielleicht zu helfen durch einen Rat oder einfach durch Teilnahme. Es konnte aber sein, dass es leichter für Eduard war, nicht davon zu sprechen, um weniger oft daran denken zu müssen. Christian fragte nicht und dachte: er wird schon reden, wenn er denkt, es ist gut zu reden.

„Sie haben gestern die alte Anlage geholt", sagte Eduard.

Es war eine „Salzgitter"-Anlage, mit der sie eine Bohrung niedergebracht hatten, und in den letzten Tagen war eine rumänische Anlage, eine T 50, gebracht und an der neuen Bohrstelle aufgebaut worden. Es fehlten aber noch Teile. Auch der Spülkopf fehlte, und die Arbeit ruhte. Die Männer hatten nur das Beet mit den Küchenkräutern gesäubert und die Wohnwagen neu gestrichen. Dann hatten sie damit begonnen, ein Bassin zu bauen. Aber es sollte kein Swimmingpool werden, sondern ein Bassin für Biber mit Höhlen und Käfigen, und die Zugänge zu den trockenen Behausungen der Tiere sollten unter Wasser liegen. Einer der Männer betrieb zu Hause eine Biberzucht und kannte sich aus. Es war sein Plan gewesen, zwischen den Wohnwagen Biber zu züchten, und er hatte viele dafür begeistert, als er zwei seiner Tiere mitgebracht, geschlachtet und ein schmackhaftes Biberessen zubereitet hatte. Der Schwanz ist das Beste.

So lebten sie seit mehr als einer Woche bequem und sahen den Turm nur von Weitem über den Kronen der Kiefern. Aber sie fingen an, die Arbeit zu vermissen, und sie würden weniger verdienen als sonst, und die Nächte waren doch zu still ohne das Geräusch des rotierenden Metalls.

„Haben sie den Spülkopf gebracht?", fragte Christian.

„Sie wollen ihn übermorgen bringen."

„Gestänge auch?"

„Wahrscheinlich."

Sie wohnten nur zu zweit in ihrer Wagenhälfte und hatten das dritte Bett zum Sofa umgebaut. Christian nahm die frische Wäsche aus dem Koffer, zwei Bücher und etwas Eingepacktes, das er auf den Tisch legte.

„Sandkuchen", sagte er. „Mutter macht guten Sandkuchen. Und ich soll nicht wieder mit euch saufen gehen. Warum lässt du dich immer anstiften, hat sie gesagt."

Eduard brummte nur etwas. Er war nicht zum Scherzen aufgelegt. Ob er mitgehen wolle in die Wirtschaft, fragte Christian. Aber Eduard wollte nicht. Das Fernsehen zeigte den vierten Teil eines abenteuerlichen Films. Das Gerät im Küchenwagen war schon alt und brummte, und das milchgraue Bild schien aus dem Weltraum zu kommen. Manchmal verschwand es ganz. Aber Eduard wollte den Film sehen und wissen, ob den beiden die Flucht gelingen würde. Es ärgerte ihn, dass Christian den Film langweilig fand.

„Du bist eben ein Hellseher. Da weiß man so was."

„Weißt du nicht, wie das weitergeht? Das sieht man doch längst."

„Ja, als Schlaukopf sieht man das", sagte Eduard ruhig. „Als kleiner Schlaukopf, der du bist."

„Dann sieh dir den Quatsch an."

„Natürlich. Ein Dummkopf muss sich das ansehen, wenn er wissen will, wie's weitergeht."

„Niemand hindert dich", sagte Christian.

„Nein. Du nicht."

„Na, also. Sieh's dir an."

„Tu ich ja auch", schrie Eduard plötzlich.

„Dann wünsch ich dir viel Vergnügen", schrie Christian ebenso laut.

„Ich scheiß drauf", sagte Eduard noch, und sie schwiegen endlich. Damit war die Sache erledigt. Sie trugen einander nie etwas nach, und bis zum Morgen würde alles vergessen sein.

Bevor Christian den Wagen verließ, fragte er: „Weißt du, wo im Dorf die alte Schule ist?"

„Ich weiß nur, wo die neue ist", sagte Eduard. „Was willst du in der alten Schule?"

„Ich will sie anzünden", sagte Christian und ging.

 

Es war fast finster. Christian ging schnell. Er musste stehen bleiben, um die Zigarette anzustecken, denn etwas Wind wellte, und der Abend roch ganz gut. Heu und Wiese. Er hätte das mit dem Film besser erklären sollen. Den dritten Teil hatte er zu Hause angesehen. Aber auch nur, weil er zu faul war, etwas anderes zu tun. Natürlich wird die Flucht gelingen, und der Dicke wird sich fangen in seiner eigenen Falle. Das war längst klar. Mit wirklichen Überraschungen war nicht zu rechnen, nur mit schwachen Tricks, die die Sache unnütz verzögern würden. Entdeckungen waren keine zu erwarten und nicht dieses unverhofft Atemlose, das es in manchen Büchern gab und im Leben natürlich, wenn du am Morgen nicht weißt, wem du am Abend begegnest. Ihren Namen weißt du schon und wie sie das Haar trägt und dass sie Kinder unterrichtet. Du gehst auf sie zu wie auf eine fremde Stadt. Oder sie ist ein Kontinent oder ein Stern. Du wirst sie entdecken. Langsam oder schnell, das ist gleichgültig. Du bist ein Entdecker.

Der Ärger hatte sich nun vollkommen aufgelöst. Heute Mittag war noch etwas übrig von der großen Wut, die mit dem Brief am Donnerstag begann, und die er stückweis ertränkt hat: die erste große Portion gleich am selben Abend. Vor drei Monaten hätte ihn die gleiche Nachricht kalt gelassen. Aber jetzt, da er anfing, sich doch aufs Studium zu freuen: die Aufnahmeprüfung bestanden, ein Lehrbuch für Russisch besorgt, abends gesessen und verschüttete Regeln und Buchstaben und Vokabeln freigelegt. In Baku spricht man russisch. Es ist eine Sprache, die sechs Fälle hat. Nun plötzlich fällt ihnen ein, dass sie sein Abiturzeugnis nicht anerkennen. Es ist miserabel. Zugegeben. In allen wichtigen Fächern eine Vier. Konnten sie das nicht vorher sehen. Das verfluchte Papier liegt seit Monaten in Berlin. Sie haben es mit dem Hintern gelesen. Wenn alle so vertrottelt arbeiten wollten. Hier zum Beispiel. Sie bringen zwanzig Bohrungen nieder. Das kostet paar Millionen. Und dann sagen sie: schade. Es wird nichts mit dem Speicher. Hier liegt gar kein Sandstein. Wir dachten, hier liegt welcher. Aber nun hatte Christian sich abgefunden. Ihre Sache, wenn sein Abitur ihnen nicht gefällt. Und der letzte Rest Ärger war untergegangen in diesem Zusammentreffen. Was ist mit dem Mädchen? Sie hat etwas an sich, wovon er nichts weiß. Sie verspricht ein Kontinent zu sein.

Er ging in der Mitte der Straße, die durchs Dorf führte. Von hinten näherte sich ein Auto mit großem Licht, und sein Schatten fiel weit voraus. Wenn er ein wenig hüpfte, sprang der Schatten gleich zehn Meter weit und war ganz dünn und fremd. Erst als der Fahrer ärgerlich hupte, wich Christian aus.

Es war voll in der Wirtschaft. An zwei zusammengeschobenen Tischen saßen einige von der Baustelle. Christian zog einen Stuhl heran. Er sah zu, wie die anderen würfelten, wollte aber nicht mitspielen.

„Na", sagte leise die Wirtin, als sie ihm das Bier brachte. Sie lächelte, und er dachte, es wäre vielleicht besser, sie nicht nach der alten Schule zu fragen. Er ging später an die Theke, wo der Wirt stand, Bier in Gläser laufen ließ und Schaum abstrich. Christian verlangte Zigaretten und fragte nebenher nach der alten Schule.

4. Kapitel

Beim Stroganoff kommt es auf die Soße an, und die hatte er gemacht, ebenso wie den Rohkostsalat. Sie lobte ihn dafür und sagte „Mein Einstein", wie immer, wenn sie Gutes über ihn zu sagen hatte.

Die Frauen räumten ab und trugen das Geschirr in die Küche, Gisela begann abzuwaschen. Sie konnte sehr flink arbeiten und dabei pausenlos erzählen, aber jeder Handgriff schien überlegt. Susanne bat um eine Schürze und suchte ein Handtuch.

„Setz dich", sagte Gisela. „Karlheinz trocknet ab. Er tut das gern. Du setzt dich und erzählst mir was." Aber gleich darauf sagte sie: „Er spielt wieder, hörst du?" Sie hielt inne. Es war sekundenlang still, und man hörte das Spiel einer Flöte aus dem Zimmer. „Es ist sein liebstes Instrument. Ich höre ihn gern am Klavier. Aber immer spielt er Flöte. Ich hab sie neulich mal versteckt, hinter den Zeitungsstapel, und gesagt, ich wüsste nicht, wo sie ist. Aber statt Klavier zu spielen, hat er den ganzen Abend die Flöte gesucht und sie dann gefunden. Das ganze Dorf macht er damit verrückt. Die Kinder lassen sich alle Flöten schenken, und abends sitzen sie und üben. Er hat schon fast ein Flötenorchester zusammen. Komisch, nicht?"

„Daran ist nichts Komisches", sagte Susanne.

„Ich finde, ja", sagte Gisela. „Aber Mathematiker brauchen so was, Einstein die Geige und meiner eben das."

Sie hatte sich vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an über ihn lustig gemacht. „Weißt du, wie er mir vorkommt?", hatte sie damals zu Susanne gesagt. „Er kommt mir vor wie ein kleiner Hund. Er ist dankbar für jeden Blick." So vollkommen hatte sie noch keinen Mann beherrscht und fing bald an, ihre Macht zu missbrauchen. Sie konnte ihn demütigen, und er lief nicht davon. Seine Ergebenheit fand sie schmeichelhaft und langweilig zugleich. Sie wurde zornig über so viel Geduld und rächte sich mit neuen Kränkungen. Manchmal kam er unangemeldet, und wenn er sah, dass sie nicht froh war über seinen Besuch, fragte er: „Freust du dich nicht?" Dann konnte Gisela erwidern: „Natürlich nicht! Wir waren Sonntag verabredet. Du platzt hier rein, und ich soll mich freuen?" Er legte die Blumen auf den Tisch und ging. Sie wusste, er würde Sonntag kommen und nahm sich vor, ihn heftig zu lieben. Denn wenn sie Lust hatte, liebte sie ihn. Im strengen Winter Anfang dreiundsechzig, als das Internat der Hochschule wegen Kohlenmangels schließen musste, fuhr er als Einziger nicht nach Hause. Er blieb fast zwei Wochen, schlief in dem eisigen Zimmer, im nicht bezogenen Bett, nur um da zu sein in ihrer Nähe und bereit zu kommen, wenn sie ihn brauchte. Und sie brauchte ihn. Er war klug und fleißig und schon damals ein guter Pädagoge. Er machte eine Menge gesellschaftlicher Arbeit, war Parteimitglied und Sekretär der Jugendorganisation im Seminar und stand trotzdem in den wichtigsten Fächern auf Eins. Gisela hatte Prüfungen vor sich und brauchte sein Wissen und seine Nachhilfe. Er könnte bei uns wohnen, sagte die Mutter. Wir machen ihm in der Wohnstube ein Bett. Aber Gisela war entrüstet. Sie wollte bestimmen, wann er hier war und wann nicht. Sie hatte ihre Flirts. Sie ließ sich von einem Assistenten einladen und schlief auch mit ihm. Aber es gefiel ihr nicht, denn er hatte alles diktiert und sie schnell seinem Willen unterworfen, und sie hasste ihn dafür. Der Mann besaß Einfluss, den Gisela zu benutzen dachte, um nach dem Studium an einer städtischen Schule anzukommen. Aber sie gehorchte ihrem Stolz und verzichtete darauf. Sie entschied sich für „Einstein". Ihn brauchte sie um nichts zu bitten. Seinen Fleiß und seine Klugheit konnte sie tragen wie Schmuck und Kleider. Er war außerdem ein schöner Junge. Wenn Susanne oder Erika sie wegen ihrer Launen und ihrer kränkenden Eigensucht tadelten, pflegte sie zu sagen: „Ich bin, wie ich bin. Ich liebe ihn auf meine Art." Was niemand wirklich geglaubt hätte, geschah: sie heiratete Einstein. Am Polterabend, schon selig vom Wein und das Glas schräg erhoben, sagte sie: „Ich weiß, er wird eines Nachts neben mir oder über mir oder wie ihr wollt - da wird er seine große Formel finden." Sie umarmte ihn und sagte: „Sie wissen nichts über uns", und sie goss ihm Wein auf den Anzug, als sie ihn küsste.

Gisela wusch die letzten Töpfe ab. Inzwischen hatte sie erzählt, dass man in diesem Jahr noch die Wasserleitung legen wolle, was wohl klappen werde, denn schräg gegenüber wohne der Finanzbuchhalter der Genossenschaft; der möchte selbst Wasser ins Haus haben und werde also das Geld zu beschaffen wissen. Sie erzählte, wie sie anfangs bei der Genossenschaft zu Mittag gegessen, dann jedoch verlangt hätten, dass der Preis für die Mahlzeit herabgesetzt würde. Susanne hörte sie sagen: „Aber der Vorstand hat abgelehnt. Wir wollten nur noch eine Mark bezahlen, denn es gibt viermal Eintopf die Woche. Meinst du nicht, einsfünfzig ist zu viel? Jedenfalls essen wir jetzt zu Hause. Karlheinz ist ein guter Koch. Seine Soße heute war wieder Klasse. Du hörst ja nicht zu!"

„Doch", sagte Susanne, aber sie hatte an das Zimmerchen oben gedacht, wo Erika und sie während des Praktikums gewohnt hatten. Sie freute sich darauf, morgen früh aus dem Fenster zu sehen, auf das Dorf und den Wald und die Tongruben nach Schafstädt zu. Sie wollte auch Jürgen besuchen, der damals Insekten und Frösche gesammelt und in Kartons verpackt an den Dresdner Zoologischen Garten geschickt hatte.

„Was macht der Junge vom Schweinemeister?", fragte nun Susanne.

„Welcher?"

„Der Jürgen."

„Er ist mittelmäßig. Du kannst dich noch an ihn erinnern?" Und sie werde nun das Bett beziehen, sagte Gisela. „Oder willst du bei mir schlafen. Wir schicken Karlheinz unters Dach und du schläfst hier unten. Na?"

Susanne wollte das nicht. Dass Gisela so etwas vorschlug und ohne Bedenken eigennützig war, gefiel ihr nicht und sie sagte es.

„Wieso? Er wird gern dort schlafen", sagte Gisela. „Ich brauchte ihn nicht mal zu bitten."

„Er geht, weil du es willst. Aber gern geht er nicht."

„Wie du denkst. Es war nur eine Idee." Sie nahm Bettwäsche aus dem großen Schrank, der auf dem Korridor stand und rief ins Zimmer: „Wir sind oben, Schatz. Ich mach das Bett in der Kammer."

Susanne nahm ihr Gepäck mit hinauf.

Der Dachboden des Hauses war auf einer Seite ausgebaut. In dem schmalen Raum standen zwei Krankenhausbetten, Nachtkästchen, Tisch und zwei Stühle und ein eiserner Ständer für die Waschschüssel. Der Lampenschirm, den sie damals aus alten Postkarten zusammengenäht hatten, hing noch da.

Sie bezogen die Decken.

„Was macht Petrus?", fragte Gisela.

„Er hat geheiratet", sagte Susanne. „Er hat dort ein Mädchen kennengelernt, eine Schwester, und sie bekam ein Kind, und er hat sie geheiratet."

„Das gehört sich so", sagte Gisela.

„Nein. Es war unanständig. Er hat sie nicht geliebt und nur der Leute wegen geheiratet."

„Das sagt er, um dich zu trösten."

„Nein, ich weiß es."

„Und Wolfgang?", fragte Gisela. „Wachsen seine Bäume?"

„Sie wachsen schnell. Er hat jetzt vor dem Haus welche gesetzt und misst sie jeden Tag."

„Wann heiratet ihr?"

„Wahrscheinlich im Oktober. Er hat eine Neubauwohnung übernommen. Die wird im Oktober fertig. Vorige Woche, zu meinem Geburtstag, hat er sie mir gezeigt. Aber er weiß es schon ein halbes Jahr."

„Und hat die ganze Zeit nichts gesagt?"

„Nein. Es sollte eine Geburtstagsfreude werden."

„So was könnte ich nicht", sagte Gisela.

Ich weiß, dachte Susanne.

5. Kapitel

Er spielte nicht mit, weil er nicht so viel trinken wollte, um nicht am ersten Abend schon einen schlechten Eindruck auf sie zu machen. Und er war entschlossen, sie noch zu treffen.

Er hatte dem Spiel noch nie zugesehen, und nun fand er, dass „Lange Straße" kein besonders gutes Spiel war. Die einzige Spannung ist, dass man schnell die tausendzweihundert erreicht und ausscheidet und abwarten kann, wen die Hunde beißen, wer der Letzte ist und die Runde zahlen muss. Man gießt Biere hinter, die andere zahlen, den ganzen Abend lang, wenn man Glück hat. Mehr als diese dürftige Spannung ist nicht an diesem Spiel, und nun fällt ihm auf, dass er das früher nie bemerkt hat. Er sieht das kleine Fieber in ihren Gesichtern. Aber sie sind damit zufrieden. Sie haben nichts Besseres vor. Er sieht von außen auf das Spiel. Er schaut kühl auf die Würfelwut. Der Eifer, mit dem sie alles betreiben, springt nicht auf ihn über, er findet ihn unangemessen und lächerlich. Weil er etwas Besseres vorhat. Das ist es. Das schafft den Abstand. Er wundert sich, dass „Lange Straße" ihm immer Spaß gemacht hat.

Sie spielten heute schnell. Mancher hatte zeitweise drei Biere vor sich stehen und kam nicht nach, denn die Runden wurden schneller ausgespielt, als man mit Genuss trinken konnte.

Der Wirtin schien zu gefallen, dass Christian heute wenig trank, denn sie lächelte öfter als sonst. Es war zehn Uhr vorbei. Oder sie wollte ihn an ihre Andeutung erinnern. Immer montags war die Wirtschaft geschlossen. In dieser Woche würde ihr Mann in die Stadt fahren und erst Dienstag mittag zurück sein. Christian hatte ausweichend geantwortet. Er wüsste noch nicht, welche Schicht er hätte. Er war froh darüber, denn es hätte ihm jetzt nicht gepasst mit der Wirtin. Sie war vorhin, als sie Bier auf den Tisch setzte, ganz dicht herangekommen, sodass er ihren Schenkel spüren musste. Sie war nicht hässlich, sah gesund aus und war immer sauber gekleidet, aber heute roch sie nach Wurstsuppe.

Als er die drei Bier bezahlte, schien sie zu erwarten, dass er etwas wegen seiner Schicht sagte.

„Haben Sie schon geschlachtet?", fragte er.

„Ja. Gestern. Wollen Sie ein Brot mit Hackepeter?"

„Danke. Ich hab gut gegessen. Und ich muss weg auf die Anlage."

Dabei deutete er flüchtig zur Uhr. Viertel nach zehn.

 

Irgendwo im Dorf bellten zwei Hunde. Die Nacht war ohne Mond, und es hatte sich nicht abgekühlt. Bei Tage konnte man von der Post aus, durch eine Lücke zwischen den Häusern, die neue Bohranlage über dem Wald sehen. Aber da sie stillstand, brannten auch keine Lampen, und man sah jetzt den Turm nicht. Nur in wenigen Häusern war noch Licht hinter den Fenstern. Ein Dorf geht früh schlafen. Gegenüber der Kirche, hatte der Wirt gesagt, wo die Genossenschaft ihr Büro hat, seit die neue Schule fertig ist.

Schwach im Nachthimmel sah er die Kirche stehen, und er hielt sich links. Immer, wenn er hier vorbeigegangen war, hatte er den Spruch im Gemäuer über dem Kirchenportal gelesen. „Kommt, denn es ist alles bereit", hieß es dort. Drunter stand Lucas soundso. Der Spruch fiel ihm nun ein, weil er die Kirche sah und vielleicht auch wegen der späten Stunde und weil er ganz unaufgefordert, nicht mal ermuntert, diesen Besuch machte.

Sie hatte auf dem Bahnhof die Blumen angesehen. Überall in den Vorgärten gab es reichlich Blumen. Rosen sogar. Gegenüber dem Feuerwehrschuppen, wo die Lampe brannte, stieg er über einen Zaun. Er suchte eine kleine Rose aus, die erst noch aufblühen sollte.

Die alte Schule lag mit der Vorderfront an der Straße, und neben der Tür hing das Schild der Genossenschaft. Hinter zwei Fenstern im ersten Stock brannte Licht. Alles andere war dunkel. Ein Dachgeschoss konnte er nicht erkennen, auch kein Fenster oben. An der Giebelseite führte eine Einfahrt in den Hof. Christian scharrte leise mit dem Fuß und horchte. Er warf ein Sternchen in die Dunkelheit, aber ein Hund schien nicht da zu sein. Er hatte Erfahrung mit Hunden. Er stieg über das verschlossene Tor, und dann sah er vom Hof aus das erleuchtete Dachfenster an der Hinterfront. Die Fensterflügel standen offen. Bis auf ein Gebell in der Ferne war es ganz still.

Er dachte daran, ihren Namen zu rufen. Sie hätte es sofort hören müssen, wenn sie im Zimmer war. Guten Abend. Da bin ich. Es ist ein Abend zum Draußensein. Etwas später geht ein Stück Mond auf, und hinten bei den Kiefern riecht es wie im Schwarzwald. So ein Unfug. Ich weiß überhaupt nicht, wie es dort riecht. Aber wo noch Heu auf der Wiese liegt, weiß ich. Und dann dachte Christian: sie ist keine, die so einfach runterkommt. Das ist es gerade, weshalb ich komme. Sie lässt sich nicht einfach überreden. Nicht auf diese Entfernung. Christian fand die Hintertür des Hauses, die verschlossen war, aber nicht im Schloss. Es konnte ein Riegel sein. Das Fensterchen neben der Tür stand offen, lag jedoch ziemlich hoch, und er musste den Hauklotz herüberrollen, den er in einem der Schuppen entdeckte. Er konnte schließlich in den Hausflur sehen. Er zündete ein Streichholz an und sah den Türriegel, an den er nicht herankam.

Der Mensch, dachte er, hat sich aus dem Tierreich davongemacht durch den Gebrauch von Werkzeugen; denn sie verlängern den Arm. Christian fand sie im Schuppen, säuberlich in einer Reihe aufgestellt. Er nahm den Spaten, und es gelang ihm, den Riegel an der Haustür zurückzuziehen. Kommt, denn es ist alles bereit. Er ging auf Strümpfen und hatte die Schuhe in die Hosentaschen gesteckt, denn die Hände musste er freihaben. Im Flur hingen große Tafeln mit erfüllten und nicht erfüllten Plänen der Genossenschaft. Es roch nach Schule, nach feuchten Strickjacken und Tafelschwamm. Diesen Geruch wird ein Haus sein Lebtag nicht los. Das Knarren der Stufen war nicht zu vermeiden. Er blieb immer wieder stehen und horchte. Im ersten Stock angekommen, zählte er seine Streichhölzer. Er hatte nur noch sechs.

6. Kapitel

Susanne hat sich angewöhnt, vor dem Einschlafen zu lesen, auch dann, wenn sie müde ist. Wie lange sie im Bett noch liest, hängt nicht allein von ihrer Aufnahmefähigkeit ab; die kann sie verlängern, wenn ihr Interesse am Buch stark genug ist. Sie hört gern mitten im Text auf, nie am Ende eines Kapitels. Sie liest unbedingt noch eine Seite des nächsten, ehe sie aufhört. Sie könnte nicht über einem Buch einschlafen. Das wäre für sie ebenso undenkbar, wie etwa beim Unterrichten, beim Briefeschreiben oder beim Gehen durch die Stadt einzuschlafen.

Den Brief an ihn wollte sie morgen schreiben. Sie hatte oft und ganz unterschiedlich von diesem Buch reden hören, und Wolfgang hatte die Tante in Stuttgart schließlich gebeten, es zu schicken. Es war auch angekommen. Es gefiel ihm, wie er sagte. Er war noch nicht fertig mit dem Buch, aber er hatte es ihr trotzdem mitgegeben.

Nun las sie von der Großmutter des Trommlers, die als junges Mädchen vier Röcke trug und auf dem Acker vor dem Kartoffelfeuer saß und diesen Fremden, der auf der Flucht war, unter ihren Röcken versteckte, sodass die Verfolger, die Polizisten, ihn nicht fanden; und der Verfolgte da unter den Röcken blieb nicht untätig und übte auf seine Weise Dankbarkeit für den gewährten Schutz und schwängerte das Mädchen dort auf dem Acker, vor dem Feuer und in Gegenwart der Verfolger, die sich wunderten, wie ein Mann so schnell und gründlich verschwinden konnte.

Es gab Bücher, in denen sie sich wohlfühlte. Dies hier fand sie verstiegen, und es gefiel ihr nicht in der Welt und an der Hand dieses schwachsinnigen Trommlers. Sie hätte noch nicht erklären können weshalb: sie mochte ihn nicht, las aber weiter, denn nach siebzehn Seiten war es zu früh für ein Urteil.

Auf die Geräusche im Hof hatte sie nicht weiter geachtet. Es war dann still geblieben. Aber nun hörte es sich an, als sei jemand auf der Treppe und habe ein Streichholz angezündet. Es knarrte wieder und musste nahe an der Tür sein.

Sie legte das Buch weg.

„Susanne", rief leise eine Stimme.

„Wer ist da?"

„Schlafen Sie schon?" Er ärgerte sich über die Frage, denn sie hatte ja wissen wollen, wer da sei, und Schlafende tun das nicht. „Christian ist da", sagte er schnell.

„Was wollen Sie hier? Wie kommen Sie überhaupt ins Haus?"

„Ich wollte erst rufen, aber ich dachte: besser du gehst mal hoch."

Sie war nicht sicher, ob sie abgeschlossen hatte, stand auf und ging leise an die Tür und drehte den Schlüssel herum. Nun erst erschreckte sie der Gedanke, dass er hätte einfach hereinkommen und dastehen können, mitten im Zimmer. So ein Verrückter. Er hätte sich aufs Bett gesetzt. Da bin ich mit den hellen Augen. Und du hast gedacht, ich bin scheu. Sie zog den blauen Bademantel an.

„Was fällt Ihnen überhaupt ein?!", sagte sie.

„Es ist eine ganz warme Nacht draußen."

„Sind Sie verrückt? Oder was ist mit Ihnen? Um mir das zu sagen, brechen Sie in ein Haus ein?"

„Es war nur ein Riegel. Und ganz locker", flüsterte er. Es machte ihm viel Spaß, aber lachen wollte er nicht. „Ich wollte Sie einladen."

„Lassen Sie den Unsinn und verschwinden Sie!"

„Ich wollte Sie wirklich zu einem Spaziergang einladen. In so einer Nacht muss man draußen rumlaufen. Sie werden sehen, so eine Nacht ist das."

„Ich will aber nicht draußen rumlaufen. Verstehen Sie?"

„Warum denn nicht?”

„Es genügt doch, dass ich nicht will."

„Und was wollen Sie?"

„Dass Sie verschwinden."

Er hockte neben der Tür, und nun setzte er sich. „Sie sollten sich auch ein bisschen setzen. Haben Sie einen Stuhl drin? Oder hier auf den Fußboden. Hier unten sitz ich." Er klopfte sachte mit dem Fingernagel an die Tür. „Sind Sie noch da? Wo sind Sie denn?"