Impressum

Dorothea Iser

Lea – Ein Leben im Sperrgebiet

Roman

ISBN 978-3-95655-258-8 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1983 im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2015 EDITION digital®
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Erster Teil: Josse

1. Kapitel

Vom Dorf aus sah man die Grenze nicht. Dabei war sie ganz nah, verlief im Tal mit dem Bach, verließ seinen natürlichen Lauf, zerschnitt die Landschaft, dort, wo Welten aufeinandertreffen und die Zeit sich teilt. Von Nord nach Süd, von der Ostsee bis zum Vogtland zieht sich diese Grenze. Vom Dorf aus sah man sie nicht, auch nicht vom Kriegerdenkmal aus. Dort wartete Josse auf Lea. Er hatte, als der Morgen noch feucht in den Wiesen lag, die Jawa leise vom Hof geschoben. Lea war aus dem Nachbarhaus geschlichen. Er war froh, als er sie sah, und fürchtete sich zugleich vor dem Abschied an diesem letzten gemeinsamen Tag. Lea musste das Dorf umgangen haben, denn sie kam über die Wiesen. Sie ging leicht, als wollte sie sich vom Boden lösen und vom Wind tragen lassen, der ihr das Haar ins Gesicht blies.

Hallo, rief sie, und die Stimme passte zu dem schönen Bild, das er eben gesehen hatte. Sie stieg auf seine Jawa, er gab Gas. Je weiter sie sich vom Dorf entfernten, um so wohler fühlten sie sich. Lea verlor das Gefühl, die Hand der Mutter im Nacken zu spüren. Endlich löste sich auch Josse von dem Vorwurf seiner Eltern, mit so einer komm uns nicht. Die erste Pause legten sie auf einem Höhenzug ein, der sich nur in kilometerlangen Serpentinen bezwingen ließ. Sie formten die Hände zum Trichter, riefen Sätze ins Tal, als könnten sie ihr Dorf erreichen, wir sind entkommen, -kommen! Sie warteten auf Antwort. Das Echo blieb aus. Da ließ Josse die Hände sinken. Lea sagte, das ist, als ob man seinen Schatten verliert. Sie spürte, wie Josse sich dagegen auflehnte.

Ein Ende bedeutet, einen neuen Anfang zu finden. Wir haben ihn immer gefunden, immer gemeinsam, du und ich, eine Trennung ändert nichts. Er freute sich auf fünf Jahre Hochschule, auf die Stadt, auf Hörsäle, Dispute im Wohnheim, kleine Kneipen, laute Straßen. Er würde das Dorf nicht vermissen, aus dem er sich wegsehnte. Wenn er es nicht mehr ertragen konnte, legte er eine Platte von Händel auf und warf sich auf die Liege. Die Lautstärke betäubte ihn, löste ihn. Es war, als ließe Musik die Enge fallen, in die er sich gepresst fühlte. Abend hauchte sich ins Zimmer. Die Wände wichen, das Dach hob sich. Moll-Töne trugen ihn hinaus in bunte Träume. Er wollte ihnen folgen. Niemand würde ihn aufhalten können. Eine unglaubliche Freiheit lag vor ihm, vor Lea auch. Sie sollte sich nicht an ihn klammern. Schade war, dass sie nicht in derselben Stadt studieren konnten. Aber versprechen wollte er nichts, nichts auf die schöne Formel bringen, wir bleiben Freunde, Lea. Seine Pläne waren Uni, promovieren, Forschung! Ihre Pläne: Fachschule, danach Einsatz in einem Heim. Kinder und Kinder, davon träumte sie. Manchmal wünschte Josse, er wäre in ihren Träumen, also mehr als der gute Freund. Ihre Angst vor seinen Wünschen schreckte ihn. Vielleicht lag es an ihm, dass er ihr die Angst nicht nehmen konnte. Der Gedanke quälte ihn, ein anderer könnte rücksichtsloser sein. Möglich, sie hatten etwas Wichtiges versäumt. Wie es auch sein mochte, es war zu spät.

Nachdem ihr Echo ausblieb, fuhren sie weiter, besuchten den Kaiser, den man aus Stein in Stein gesetzt hatte. Ein Kaiser, von dem die Leute nicht glauben wollten, dass er gestorben war. Wunder wurden von ihm erzählt. Manche sagten, wenn der aufwachen würde, aus seiner Höhle käme und sehen müsste, was aus seinem Land geworden ist. Dabei wiesen sie auf Berge hinter vielen Tälern, wo sie die Grenze wussten. Aber auch von hier aus konnte man sie nicht sehen.

Josse stand hinter Lea. Sie waren beide nicht darauf aus, die Grenze zu suchen. Sie kannten sie gut.

Wäre sie nicht gewesen, wer weiß, wohin wir gezogen wären. Wir hätten uns nie gesehen, sagte er.

Sie lachte bei seinen Worten. Das ist ganz unmöglich, du.

Die Welt ist doch für uns beide gemacht. Also unmöglich, uns nicht zu treffen.

Wir würden uns nicht vermissen, wandte Josse ein.

Dich würde ich immer vermissen. Vielleicht wüsste ich nicht, wie du aussiehst und dass du Josse heißt, aber ich würde mich sehr allein fühlen und so einen wie dich suchen.

Ach so ist das, sagte Josse und legte seine Hand auf ihre Hand, mit der sie sich auf das Geländer stützte. Vielleicht suchtest du dann einen anderen, schwarzhaarig, mit wetterbraunem Gesicht.

Lass Henning aus dem Spiel.

Du bringst ihn erst rein.

Lump du! Ich werd dir helfen. Lea trommelte mit ihren Fäusten auf ihn ein. An seinen gespannten Muskeln prallte sie ab.

Keiner war wie dein Henning, klug und gut und stark, ich hör dich noch schwärmen.

Hör auf! Während sie immer noch auf ihn einschlug, nahm er sie in die Arme.

Komm weiter, bat er, der Rotbart, wetten, der mag uns nicht.

Weil er allein ist, meinte Lea und gab ihren Widerstand auf. Das war erst recht verwirrend.

Besser, er bleibt in seiner Höhle, sagte wer über den Kaiser.

Ein anderer rezitierte laut ein Gedicht, als er vor dem wuchtigen Denkmal stand, vom Kaiser Rotbart lobesam, der ins Heil'ge Land gezogen kam.

... Daselbst erhob sich große Not.

Viel Steine gab’s und wenig Brot ...

Hier wurde der Mann unterbrochen, erst von Josse, der sagte zu Lea, wenig Brot und wenig Liebe, und er hielt sie dabei fest. Dann sprach eine trockene Stimme zu den Besuchern, die sich über den Brunnenrand beugten: Und dieser Brunnen, meine Herrschaften ...

Josse und Lea hörten nicht zu.

Dass sie dich weggelassen haben, wunderte sich Josse.

Ich schütte Wasser hinein, bitte ... Der Mann hob den Topf. Kinder drängten sich um ihn. Eine Frau reckte sich auf die Zehen.

Ich habe für Mutter einen Zettel hingelegt, flüsterte Lea, hab geschrieben, bin Himbeeren holen, wartet nicht. Sie sah Josse fragend an. Anders hätte ich nicht weggekonnt. Die Eimer und meine alten Klamotten habe ich im Gestrüpp versteckt.

Die kleine Frau sah sie böse an.

Ein Wunder, wenn man bedenkt, ohne moderne Technik diese Tiefe zu erreichen.

Die Frau nickte dazu.

Und ohne Arbeitsschutz, rief einer dazwischen.

Josse beugte sich tiefer, um Lea zu verstehen.

Und heute Abend sage ich einfach, ich hätte schon abgeliefert. Nur bis acht haben die auf. Bis dahin müssen wir zurück sein.

Und das Geld, fragte Josse, woher nimmst du das, wenn du keine verkaufst?

Lea zog Josse fort. Sie gingen über den Burghof und hörten die trockene Stimme des Mannes schwächer werden.

Bitte schön, ich schütte Wasser in den Brunnen... Nun schon wieder vor anderen Besuchern.

Den ganzen Tag macht der das. Hast du gesehen? fragte Lea.

Hab ich.

Den Brunnen meine ich nicht.

Ich weiß.

Ich schütte Wasser in den Brunnen, bitte schön, mit einer Hand, hätte er sagen müssen, bitte sehen Sie. Und Lea hatte gesehen, wie der Armstumpf, den er im Hemdärmel trug, sich dabei bewegte, als würde er zufassen, sich auf den Brunnenrand stützen, während die andere Hand Wasser in die Tiefe goss.

Josse hatte bemerkt, als er Lea nach dem Himbeergeld fragte, dass sie nicht dem Wasser nachsah, sondern auf den Mann starrte, nur einen Augenblick lang. Er wusste, dass in diesem Augenblick Angst in ihr aufflammte, Angst vor den nächsten Jahren, was wird mit mir, wenn zutrifft, was ich vom Arzt erfuhr, wie soll ich leben mit einem steifen Arm, immer noch besser als ein Stumpf.

So einen Posten, Lea lachte, das bringe ich dann auch noch, bitte schön, ich schütte Wasser in den Brunnen ...

Hör auf, wehrte Josse ab.

Sie sahen in fruchtbares Land, in die Aue, von der es hieß, sie wäre golden. Was sollte er nach Worten suchen.

Wie schön das hier ist, sagte er schließlich.

Sie nickte. Die Landschaft schwamm im Himmel. Die Welt ist schön, nicht wahr? Aber ich will das nicht erleben müssen.

Josse suchte seinen Zündschlüssel. Fahren wir zum See?

Sie bogen von der Hauptstraße ab in einen schmalen Schotterweg, den ein verrostetes Verbotsschild sperren sollte. Da waren sie mit ganz anderen Verbotsschildern aufgewachsen und mit richtigen Schlagbäumen und Sperren.

Wenn du willst, sagte er, der Wind entriss ihm die Worte, wenn du willst, gehe ich erst nachsehen, um keine Bekannten zu treffen.

Lea schwieg. Sie hatte einen Tag gestohlen. Ein paar Stunden hatte sie schon oft genommen, einen Vorwand gefunden, die Tür hinter sich schließen zu können, während sie Futter für den Bullen holen sollte, abwaschen, buttern, Beeren sammeln und Heu wenden. Lea hatte die Mutter heute damit allein gelassen. Dafür würde sie das Himbeergeld auf den Tisch legen. Hat sich gelohnt, würde sie sagen und froh sein, wenn sich Mutter freute. Das Geld müsste sie von ihrem Gesparten nehmen und sich die Schuhe später kaufen. Deshalb also schickte sie Josse zum See voraus und fühlte sich elend, bis er zurückkam.

Ich habe Angst, sagte sie.

Das darfst du nicht zeigen.

Sie schwammen nebeneinander. Sie merkte, wie er den Rhythmus ihrer Schwimmbewegungen annahm. Das war schön, so schön, dass ihr schlechtes Gewissen davonschwamm. Ohne sie wäre Josse längst auf seiner Insel. Sie wusste nicht, ob sie das schaffen würde.

Er tauchte ihr davon. Sie kehrte schnell um.

Ist mir zu kalt, habt keine Lust, rief sie ihm nach, als er auftauchte. Sie schluckte Wasser aus Angst vor der Tiefe, der sie sich ohne ihn ausgeliefert fühlte.

Mit kräftigen Zügen erreichte er seine Insel. Er schob sich durchs Schilf, schnaubte, schüttelte den Kopf und legte sich auf verdorrtes Gras. Sonne brannte sich in die Haut und schmückte sich mit den Farben des Bogens, den sie sonst über Regen spannte. Josse kniff die Augen zusammen, aber die Farben wurden kräftiger, drängten sich ihm zu. Er richtete sich auf. Am Strand sah er Lea winken. Sie war zu einem hellen Fleck geworden. Er ließ sich zurücksinken, starrte in die Sonne, die jetzt Farblöcher in den Himmel brannte. War alles gesagt zwischen ihnen? Solange er denken konnte, gab es Lea. Sie war immer neben ihm, er neben ihr, was sind schon Verbote. Ihn hatte die Mutter geboren auf dem langen Weg von der Donau, dem Lande der weißen Kirchen unter einem warmen Himmel, in das die Eltern einst, aus Österreich stammend. gezogen waren. Als sie in Marienhof ankamen, verschlossen sich die Türen vor ihnen. Zigeuner, hieß es. Später waren es die Eltern, die ihre Türen verriegelten, Josse auf dem Hof einsperrten. Er bekam, was er sich wünschte, aber er bohrte Löcher in den Bretterzaun, vor dem er stand, wenn Lea im Sand spielte. Dann die Schule. Zwölf Jahre neben ihr auf der Schulbank. Wir sind nichts schuldig geblieben. Wir haben gelernt, wie es von uns erwartet wurde. Wir haben betrogen, abgeschrieben, Ausreden erdacht. So brav sind wir gewesen und haben auch damit Erwartungen erfüllt.

Josse spuckte den Grashalm aus. Er wollte nicht länger nachdenken, aber das dachte er schon nicht mehr, weil er eingeschlafen war. Von einem Schatten, den er auf seinem Rücken fühlte, wachte er auf. Als er den Kopf hob, erblickte er Lea vor sich.

Ich habe gewusst, dass du eingeschlafen bist. Ich will nicht, dass du dich verbrennst, meinte sie lächelnd.

Mensch Lea, du machst mich verrückt, sagte Josse und fuhr auf.

Lea lächelte immer noch.

Wie bist du rübergekommen? Geschwommen, ja? Verrückt, sagte er, verrückt, dachte er, immer nur verrückt. Allein schwimmt die über‘n See. Die kann gar nicht schwimmen. Sie hält nur den Kopf über Wasser.

Komm mal her, bat er.

Sie setzte sich zu ihm. Er suchte nach Worten, nahm ihre Hand zwischen seine Hände und fand keine Erklärung. Er riss einen Grashalm ab und zeichnete die Linien ihrer Adern nach. Weißt du, begann er und sah, wie sie die Augen schloss. Das Haar fiel ihr weich ins Gesicht, das in diesem Augenblick offen und schutzlos war. Er fürchtete, ein Wort von ihm könnte es verändern, verletzen. Darum zögerte er.

Sie sah ihn an, lächelte wieder, nahm ihm den Halm aus der Hand und zerknickte ihn. Bilde dir bloß nichts ein, sagte sie.

Lea war aufgestanden und sah auf Josse herab. Du bist doof, Josse, jämmerlich doof, und sie rannte ins Schilf, ließ sich ins Wasser fallen. Josse sah sie in den See schwimmen, die Nase dicht überm Wasser. Er holte sie schnell ein.

Der jämmerlich doofe Josse passt nämlich auf, damit du nicht ersäufst. Er schob ihr seinen Arm unters Kinn und schleppte sie ab.

Mittags aßen sie Bockwurst und Eis, sahen sich danach ein tropfendes Höhlenwunder an und froren tief unter der Erde.

Wenn man hier eingeschlossen wär, sagte Lea, oder sich verirrte.

Quatsch, groß sind die Höhlen nicht mal.

Und wenn doch? Mir ist unheimlich.

Er nahm ihre Hand und ließ sie nicht los, als sie weitergingen. Zu spät war nichts. Eine Stadt in Sachsen zwar, aber doch nicht aus der Welt. Man kann sich besuchen, denn es gibt Wochenenden und Ferien. Ihre Hand lag fest in seiner. Sollte er es beginnen, ihr Gesicht in seine Hände nehmen, ihre Lippen mit seinen Lippen berühren? Diesmal wollte er sich nicht wieder erschrecken lassen. Er blieb stehen und hielt sie zurück. Sie kam ihm mit dem Gesicht entgegen.

Wie damals, weißt du noch, fragte sie, weißt du noch, als wir Henning nachschlichen?

Natürlich wusste Josse. Aber er wollte sich nicht erinnern. Warum musste sie seine Wünsche zerstören, warum kommt sie ihm ausgerechnet jetzt, mit Soremba. Sie waren den Märchenreimen der Lene Liersch entwachsen, den wilden Spielen mit dem langen Jakob, den ersten Schwärmereien. So was war Henning Soremba einmal für sie, und Josse war eifersüchtig. Er beneidete Henning um Lea und Lea um Henning. Das verschwieg er, zeigte es nicht mal Lea und dem Henning erst recht nicht. Wenn Lea denkt, er hat die Geschichte vergessen, irrt sie sich. Die Blamage war zu groß, und er war ihr einen langen Tag über böse. Dabei war er am Anfang in gutem Glauben, Lea wollte sich an Henning rächen. Er hatte ihr dabei zu helfen. Dieser Henning Soremba musste seine Abreibung bekommen. Lea hatte sich dabei nicht wohlgefühlt, denn es stimmte nicht, was sie erzählte. Aber das wusste Josse nicht, und Lea wusste es wohl auch nicht mehr so genau. Henning hatte Lea nicht geküsst. Er war auf sie zugegangen, um zu sagen, morgen muss das Training für euch ausfallen, ich kann aus der Kompanie nicht weg. Ihr wurde heiß, und sie zitterte, als er ihr die Hand gab, als müsste er sagen, komm mit, Lea, wir gehen in ein anderes Land. Wie ich auf dich gewartet habe und mich gefürchtet, ich könnte dich nicht erkennen, wenn ich dich treffe. Aber ich habe dich erkannt an deinen hellen Augen. Es muss viel Sonne in dir sein, weil mir so warm wird, wenn du mich ansiehst. Aber Henning hatte sie mit ganz anderen Worten aus ihren Wünschen geholt.

Das kann schon mal vorkommen, dass ich keine Zeit habe, sagte er. Lauft allein.

Und wie sie gelaufen war, natürlich zu Josse, in heller Aufregung, er hat mich geküsst, wusste nicht, stimmte denn, was da ausgesprochen war?

Schweinehund, dieser, anzeigen müsste man den.

Nein! Lea wehrte sich. Dann werden es alle erfahren, das mit dem Kuss.

Das hatte Josse eingesehen. Also Rache war fällig! Der sollte einen Schreck bekommen, an den er lange denken würde.

Sie schlichen ihm nach und kamen bis an den Grenzstreifen heran, verfolgten ihn auch dort, bis Lea im Brombeergestrüpp hängen blieb, Henning im Dickicht verschwinden konnte und Josse über einen Draht stolperte, der ein Signal auslöste. Er fluchte, sie hasteten weiter, krochen durch mannshohes Gestrüpp. Er trieb sie vorwärts. Sie fürchtete sich vor Kreuzottern. Er wollte ihr das Gift raussaugen, wenn sie von den Biestern erwischt wurde. Da tauchte Henning Soremba vor den beiden auf. Und wie erschrocken der war, als er sie sah, das wollten sie doch, aber sie freuten sich nicht. Lea hätte sich eine Tarnkappe gewünscht, denn Henning Soremba war wütend, so wütend, dass er nicht mal was von enttäuscht sagte, wie sonst.

Denkt nicht, euch hilft, wenn ich euch erwische. Das macht alles schlimmer.

Er übergab sie einem Posten, tat, als würde er sie nicht kennen. Und dann kam raus, Lea hatte sich den Kuss nur eingebildet. Na, Mädchen mit dreizehn. Sie waren inzwischen gewachsen, entwachsen, auch ihren Träumen.

Seinem Traum: das einhundertsechsundzwanzigste Element zu entdecken, mit dem er die Welt überraschen wollte. Ein Element, mit dem es gelingen wird, die Erde in eine andere Galaxis zu bringen, dorthin, wo sich Leben nicht verbraucht. Die ersten Versuche hatten sie in seinem Zimmer eingerührt, lange vor dem Chemiepraktikum beim Gustav. Genau genommen hatte nur Josse gerührt, erhitzt, gemischt. Lea hatte zugehört, zugesehen und ihn ermuntert.

Du wirst das schon schaffen, Josse, und dann!

Ihrem Traum: eine Kinderstadt zu gründen, in der sie alle aufnehmen wird, die kein Zuhause haben.

Und: Die Wahrheit wollten sie finden. Denn mit ihr taten sich alle schwer.

Sollte er auf Mutter hören, die von der Strafe für die Welt sprach. Man brauchte nur darauf zu warten. Lange konnte das nicht dauern. Marienhof würde untergehen wie diese Stadt, von der Pfarrer Winsus predigte, in der Menschen aus Übermut Wege mit Brot trockenlegten. Josse wollte nicht in Erde versinken. Vielleicht hatte er eine Chance, zu überleben. Während er mit Mutter abends betete, dachte er daran, wie er allein übrig bleibt, und streute zwischen Mutters Gebete noch schnell ein paar heimliche, nämlich, lass lieber Vater, du im Himmel, noch Onkel Juschkos Schuppen stehen. Ich will mir das Fahrrad holen, denn du wirst es nicht brauchen.

Sollte er auf Vater hören, lehn dich nicht auf gegen die Obrigkeit. Zur Dorfobrigkeit zählte er den Bürgermeister Gustav Kröter, den Kompaniechef Manfred Neubert, den Abschnittsbevollmächtigten Paul Liesegang und den Lehrer Eckebrecht, alle, die zur Kirmes und zum Fasching an einem Tisch saßen, die bestimmten, welche Kapelle zu spielen hatte, wann die Feier begonnen, wann sie beendet werden sollte. Jeder bestimmte auf seine Weise. Gustav Kröter bestellte alle Männer zum Gräbenziehen für neue Wasserleitungsrohre. Manfred Neubert konnte Wege sperren und Silvesterraketen verbieten. Paul Liesegang konnte bestimmen, wer zu Besuch ins Dorf kommen durfte, und er konnte auch Kinder aus der Abendvorstellung holen, und Eckebrecht bestimmte, wer versetzt würde. Man musste einen guten Stand bei ihnen haben, dann ersparte man sich Ärger und Mühen.

Wozu viel fragen, sagte Vater. Die Welt lässt sich nicht verstehen.

Eckebrecht war anderer Meinung. Er belohnte manche Frage mit einer guten Zensur. Kritisches Denken nannte er das.

Mit Lea besprach Josse ganz andere Dinge. Warum schimpften Leas Eltern auf die große Tochter Hanne, die gerade in die Partei gegangen war?

Warum haben Eltern Angst, man kann in der Schule etwas fragen, was man zu Hause nicht versteht? Eckebrecht schimpfte nie, wenn man ihm damit kam. Er suchte mit ihnen Antworten und ließ seiner Frau die Pakete mit guter Seife, gutem Kaffee, guter Schokolade, die sie manchmal für fleißige Arbeit in seinem Garten verschenkte.

Hört auf mit euerm „gut“, sagte Henning später, Er redete von hohen Mieten, von Arbeitslosigkeit, von Ausbeutung. Wenige Menschen leben auf Kosten vieler, hielt er ihnen entgegen. Er suchte nach Argumenten gegen die Seifenkaffeeschokoladenreklame. Das hätte er bei Josse und Lea nicht nötig gehabt. Nach dem tieferen Sinn hätte er fragen müssen. Was macht unser Leben aus? Sie waren nicht zu klein für solche Fragen. Lass sie suchen. Heißt gut leben besitzen? So etwas wollen sie wissen. Sie verstehen alles, wenn du ihnen hilfst. Und das hast du nicht geschafft. Deshalb setzen sie gleich, was sie von den Eltern wissen, was sie in der Schule hören, was vom Hessischen herüberkommt, was du ihnen erzählst. Und glauben wollen sie nichts von alledem.

Wir werden alles selbst herausfinden müssen, sagten sie zueinander und wollten das Dorf verlassen, um die Welt zu retten. Nun war es so weit. Aber jeder wird in eine andere Richtung ziehen.

Josse ließ ihre Hand los. Nach der Höhlenführung saßen Lea und Josse wieder bei einer Brause.

Sie sagte, ich mache mir von Menschen, die ich mag, ein Bild. Möglich, dass das Bild besser ist. Aber wenn mich einer mag, wird er nicht zulassen, dass das Bild in mir zerstört wird, also wird er besser werden.

Er sagte, das geht nicht auf. Man kann nicht so werden, wie ein anderer denkt, dass man sein müsste.

Josse trank von der prickelnden Limonade. Wie ein Kind ist sie, dachte er, ein Kind, das mit gut und böse lebt. Es gibt keinen Weihnachtsmann, Lea. Er sah, wie sie lächelte, als wüsste sie es besser, als müsste sie gleich wieder sagen, du bist doof, Josse.

Wenn man den Menschen nicht glauben kann, lohnt es nicht zu leben. Sie sah ihn dabei an, dass er das Glas absetzen musste und sich darüber ärgerte.

Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Es ist mir zu anstrengend, ein guter Mensch zu sein, verstehst du. Ich bin, wie ich bin. Ich fühle mich wohl dabei.

Und wieder sah sie aus, als wüsste sie es besser.

Dem gestohlenen Tag ging die Zeit aus, zwang sie aufzubrechen. Sie legten sich in Kurven und flogen dem Dorf entgegen.

Halt an. Lea bat Josse. Ich muss absteigen.

Am Kunzteich hielt er. Sie standen dicht beieinander, bis er fragte, und das Geld, woher nimmst du das?

Ich werd’s schon woher nehmen.

Er suchte nach seiner Brieftasche, reichte ihr einen Schein, keine Widerrede, befahl er, steck weg.

Das kann ich nicht, sagte sie.

Du bist ein komischer Freund, wenn du anderes denkst, als gemeint ist.

Und wieder schwiegen sie, bis er ohne Abschied davonfuhr. Er sah sie im Rückspiegel. Sie stand unentschlossen, als hätte sie keine Lust, den Weg ins Dorf zu nehmen.

Als er die Hoftür öffnete, um die Jawa in den Holzstall zu schieben, grüßte er die beiden Frauen auf der grünen Bank vor dem Haus. Sie nickten zurück, sagten zueinander, da wird Lea auch bald kommen. Wer weiß, was noch kommt? Es ist eine gute Zeit für die jungen Leute.

Aus dem Fenster flog die gleiche Musik wie an den Tagen zuvor. Da schlossen die Frauen die Augen. Die alte Stellmazek wünschte sich den Walzer zurück, den sie einmal auf dem Opernball mit einem richtigen Künstler getanzt hatte. Den konnte sie in ihrem Leben nicht vergessen. Die Lene Liersch wünschte, sie könnte aufstehen und ohne Schmerzen durchs Dorf gehen. Sie fühlte die geschwollenen Beine leicht werden, und ihren alten Traum träumte sie neu, sie sah Lea auf sich zukommen, hörte sie sagen, ich bleibe nun immer bei dir, wie du es dir gewünscht hast. Aber Lea war nicht gekommen.

Josse zog die Schrankfächer auf, warf Strümpfe und Taschentücher auf sein Bett. Die Mutter brachte frisch gebügelte Hemden. Während er alles in den Koffer packte, hörte er angestrengt auf die Stimmen unter seinem Fenster, hörte er, wie die Eltern stritten. Sollten sie ihr Geld behalten. Ihre Vorwürfe kannte er, dass er undankbar sei, die Eltern nicht achte. Josse kannte auch die guten Reden. Unser Geschenk zum Abitur, du wolltest doch eine Jawa. Sie würden ihm ein paar Scheine zustecken, Vater, dass es Mutter nicht sah, Mutter, aber sag nichts dem Vater. Kein Wunder, dass er sich wegsehnte. Morgen um diese Zeit wird er schon mehr wissen, die feierliche Eröffnung sollte vormittags sein. Er würde bekannte Gesichter suchen und Gespräche führen. Vielleicht klappte es mit dem Umsatteln. Maschinenbau hatten sie ihm angeboten.

Er griff zu, aber Chemie blieb sein Wunsch. Vielleicht fand sich später eine Möglichkeit dafür. Und er würde Lea hören, ihr Lachen und ihre bange Frage und die Worte, ich will das nicht erleben müssen. Aber sie muss es. Wer wird ihm künftig damit kommen, dass der Mensch gut ist? Dabei fühlt er sich nicht gut. Warum musste er sie allein lassen?

Der Plattenspieler schaltete sich aus. Jetzt erst bemerkte Josse, da war Musik gewesen. Die Mutter rief zum Essen. Er antwortete und horchte plötzlich auf, weil es auf der Straße unruhig wurde.

Er ist schon eine ganze Weile da, hörte er die Stellmazek sagen.

Und Lea? Erika Kaiser fragte nach Lea. Ihre Stimme wurde unsicher. Klar, dass ihre Tochter nicht oben bei Josse sein würde. Sie hatte es ihr verboten, seit seine Mutter im Konsum erzählte, man wüsste gar nicht, was man da ins Haus ließe.

Die alte Stellmazek sagte nun wieder: Gestern war sie auch bei ihm.

Lene Liersch saß dabei und konnte nicht verhindern, dass sie das austratschte.

Erika Kaiser drehte sich um und ging.

Was soll ihr denn passieren? rief ihr die Liersch nach. Sie strich über ihre Beine. Wird Zeit, dass es regnet.

Josse stand am Fenster, wusste nicht, was er tun sollte.

Warum er sie nicht mitgebracht hat? fragte die Stellmazek, wissen tun wir’s doch.

Ach was, antwortete die Lene Liersch. Vielleicht waren sie gar nicht zusammen?

Die Stellmazek lächelte still vor sich hin. Jaja, ein Regen müsste fallen.

Josse schloss das Fenster. Der Koffer lag noch auf dem Tisch, der Schrank stand offen. Unten warteten sie auf ihn. Lea hätte längst da sein müssen. Warum kam sie nicht, warum, was war passiert? Natürlich. Irgendetwas musste passiert sein. Er nahm den Sturzhelm aus dem Schrank, steckte den Zündschlüssel ein, ging die Treppe runter, durch die Küche, vorbei an Vater, an Mutter, ging auf den Hof, holte das Motorrad und fuhr los. Er würde Lea finden.

Die Straße war leer. Er fuhr ins Tal hinunter und kam wieder herauf. Auf dem Weg über die Wiesen fand er sie nicht, also zurück. Der Teich lag ruhig im Schilf. Josse hupte sein Signal, aber keine Antwort. Er fuhr langsam weiter. Am Kriegerdenkmal mussten ihre Sachen versteckt sein. Er suchte im abgeblühten Flieder danach. Was kann passiert sein, bestenfalls und schlimmstenfalls? Er versuchte sich zu erinnern. Das will ich nicht erleben müssen, hatte sie gesagt, aber es war noch eine lange Zeit bis dahin, und wenn es so weit wäre, würde sie anders darüber denken, natürlich. Ihr Bild im Rückspiegel, ihr Gesicht, das sagte, fahr du nur hin, du doofer Josse, du, es wäre schön mit uns gewesen.

Warum bist du zurückgekommen?

Josse erschrak vor dieser Stimme. Sie kam von der Bank hinter den Büschen.

Gott sei Dank, sagte er. Gott sei Dank, du.

Er benutzte nicht den Weg, er schob die Zweige auseinander und stand hinter Lea.

Mensch du, ich dachte schon ...

Er beugte sich zu ihr und suchte ihr Gesicht mit seinen Händen und ihre Brust. Sie erschraken nicht voreinander, und seine Lippen folgten den Händen. Ich bin jämmerlich doof, sagte er irgendwann. Auf Antwort wartete er nicht. Er wünschte sich, mit ihr im Gras zu liegen. Eine ganze Nacht hatte dieser Tag noch.

Ja, es wär schön gewesen, flüsterte Lea. Aber es ist zu spät.

Nichts ist zu spät.

Ich muss nach Hause.

Wir müssen nicht, was wir nicht wollen, sagte Josse, jetzt nicht mehr.

Doch, widersprach sie. Denk an deine Mutter, an deinen Vater und an meine Eltern. Eigentlich haben wir immer auf sie gehört, sogar wenn wir Ausreden erfanden. Mit jeder Lüge betrügt man sich selbst ein bisschen.

Das war einmal, und jetzt ist es vorbei, du musst nicht weg. Lass die Eltern. Das geht nur uns zwei an.

Darum ja, sagte sie und hob ihren Fuß.

Da sah er, sie war verletzt. Die Wunde blutete immer noch.

Eine Scherbe, beim Umziehen. Gut, dass du gekommen bist.

Wir wollen nicht mehr das tun, was wir angeblich tun müssen. Das verspreche ich dir. Wir beide sind nicht schwach.

Er fuhr mit ihr ins Dorf, fuhr bis auf seinen Hof, stützte sie, wieder durch die Küche, die Blicke Mutters und Vaters im Rücken, die Treppe hinauf in sein Zimmer, in dem sie oft gesessen hatten, wenn die Eltern nicht zu Hause waren. Er verband ihren Fuß.

Kannst du damit morgen überhaupt los?

Er hörte jemanden auf der Treppe. Gleich würde es klopfen oder nicht erst klopfen, einfach die Tür aufreißen, zu sehen, was da getrieben wird. Aber es blieb still.

Ich möchte immer mit dir leben, sagte Josse laut. Er hoffte, laut genug, weil man es auch hinter der Tür hören sollte. Erst dann beugte er sich über Leas Gesicht. Das Zimmer verlor seine bedrückende Enge. Lea lächelte wieder, als wüsste sie es besser.

Was zu laut gesagt wird, kann man schwer glauben.

Lea sah die Gitarre, die längst verstummt war und an der Wand verstaubte. Ihr letzter Ton war aus dem schönen Lied geplatzt, das Lied von dem Haus, in dem eine weiße Frau vergebens auf ihren schwarzen Mann warten muss. Der Ton hatte damals eine Saite zerrissen. Sie warf einen schmalen Schatten auf ein Poster, pendelte leicht, als berühre sie Atem.

Wenn alles gesagt ist, können Worte nur wiederholen. So blieb es, als er nun doch mit der Redensart kam, wir wollen Freunde bleiben. Sie nickte stumm, sagte dann, wenn es mehr ist als Freundschaft, kann eine Trennung nicht trennen.

Als sie gehen wollte, wurde ihm schwer. Er brachte sie hinunter, ging mit ihr über den Hof. Der Tag legte sich warm in den Abend. Sie sahen in das Blätterdach der alten Linde, als sie auf der Straße standen.

Es waren einmal zwei Brüder, Josse, die in die Welt zogen. Als sich ihre Wege trennten, stieß jeder sein Messer in den Baum. Wessen Messer rostet, der ist in Gefahr, sagte sie.

Du bist mir schon ein Bruder, ein schöner Bruder, wirklich.

Das klang überhaupt nicht nach Bruder, wie er das Schön sagte.

Ein schönes Paar, meinte die Stellmazek zur Liersch, aber ein Katholscher mit unsereins? Das geht nicht gut, ging nie.

Josse schloss die Hoftür hinter sich und schob den Riegel vor. Er ging dreifelderlang neben Lea, sie hinter morschem Bretterzaun über ihren Hof. Als er zur Türklinke griff, hörte er bei Kaisers die Tür und wusste, sie war hinter Lea zugefallen. Josse wollte wortlos an seiner Mutter vorbei.

Ischt’s wög? fragte die und stellte sich ihm in den Weg.

Jo freili oder steckt’s in mei Toschen?

Josse wollte die Mutter zur Seite schieben. Er hatte das ewige Streiten satt.

Wos sogst, i hör net? Der Vater stand drohend vor ihm. So redst net mit uns.

Josse fürchtete sich nicht. Der wagte nicht, ihn zu schlagen, seit er sich damals mit einem harten Tritt gegen das Schienbein des Vaters gewehrt hatte.

Lässt’s mi. Mei Ruh will i hom.

Jeschus Maria! Die Mutter schlug ein Kreuz hinter ihm.

Egal, das war egal.

Während das Adagio aus seinem Fenster flog, das Ende der Suite anzukündigen, sagte die Stellmazek auf der Bank zur Lene Liersch, ein modernes Zeug spielen sie heutzutage. Walzer, ach ja, das war noch Musik.

Aber nicht schlecht hört sich’s an, entgegnete die Liersch und schloss die Augen.

2. Kapitel

Auf dem kleinen Bahnhof im Thüringischen sammelten sich die Studenten des neuen Kurses. Lea suchte in ihren Gesichtern nach Neugier auf den anderen, Lust auf das Lernen, auf die Arbeit. Sie sah Frau Schmitt, wie sie lächelnd nickte und mit dem Finger über Namen auf der Liste fuhr, die ein Student eingetragen hatte, sah sie wieder lächeln und nicken. Nicken, daran erkennst du sie, hatte Hanne gesagt, die gute Schmitt, stellvertretende Direktorin soll sie inzwischen sein. Stimmte. Immatrikulation also wie jedes Jahr. Zwei Wochen würde Lea in der Burg wohnen, die sie von einer Ansichtskarte kannte. Die hatte ihr Hanne vor sieben Jahren geschickt. Hanne gehörte zu den letzten, die Kindergärtnerin bei der Schmitt wurden. Auch sie hatte ihre Ausbildung auf der Burg begonnen. Das Institut änderte alle paar Jahre das Programm. Zuerst bildete es Unterstufenlehrer aus und bekam danach seinen Namen. Dann zogen künftige Kindergärtnerinnen ein, und nun sollten hier Erzieher ausgebildet werden, solche für Kinder und solche für Jugendliche. Alle zusammen trafen sich, um in dieses Lager zu fahren.

Zwölf Kilometer bis zur Burg, hörte Lea sagen und Stimmen wie, die hat’s gut, als Frau Schmitt zu den Männern in den grünen Wartburg stieg. Der Bus verspätete sich. Wer waren die Männer im Auto?

Rüssel, natürlich. Lea hörte den Namen, und eine Stimme sagte, viel zu gutmütig soll er sein, unser Jumbo. Ich muss schon bitten, war seine Rede, wenn er hilflos vor der Klasse stand.

Wetzel ist der andere, der schlanke, sagte die Schwarzhaarige, die Gundula hieß. Sie strich sich dabei das Haar aus der Stirn. Der soll noch nicht lange dabei sein.

Einen Werkhof wollen sie uns zeigen, war eine andere Stimme zu hören.

In Lea spannte sich die Erwartung bei dem aufregenden Gedanken, zu jenen zu gehen, die in ihrem Leben wenig Halt fanden, geschlagen worden waren, gestoßen, verstoßen, die sich wehrten, indem sie selber schlugen, stießen und verstießen, die nichts glaubten und niemandem trauten. Sie würde irgendwann vor ihnen stehen und nicht sagen können, die Welt ist schön — hört ihr? Sie ist trotzdem schön. Lea könnte sie nicht rütteln, als müssten sie aus einem Albtraum geweckt werden, nicht rütteln, wie sie es mit sich tun musste, wenn sie es selbst vergaß. Wie oft stand sie vor einer Tiefe, ein Schritt nur hätte genügt. Sie ließ auch mal die Arme über dem Abgrund hängen oder die Beine pendeln, vorsichtig rutschend, wie das wäre, dieses endgültige Fallen. Sie zog sich zurück, drückte das nasse Gesicht ins Gras oder wärmte es auf kaltem Stein. Was wir durchhaben mit ihr, hörte sie die Mutter, wozu das alles. Wer will schon nutzlose Sorge gewesen sein. Es ist, als kann man mit diesem Gedanken nicht Ruhe finden.

Kraftverkehr anrufen, sagte einer zu dem Studenten, der auf die Uhr sah. Der antwortete, fünf Minuten warten wir noch.

 

In diesen fünf Minuten hatte der grüne Wartburg die Vorläufer des Höhenzuges erreicht. Die Straße stieg an und ließ sich dann weich fallen. Noch lag nicht einmal die Hälfte des Weges hinter ihnen.

Hoffentlich klappt es mit den Bussen, sagte Wetzel, während er seine Augustäpfel verteilte. Er wusste, wann die Studenten auf der Burg sein mussten. Danach hatte er seinen Plan entwickelt, präzise, natürlich, so arbeitete er, so lebte er.

Ich denke, auf Ihren Studenten Romma kann man sich verlassen, sagte Frau Schmitt lächelnd. Und wenn’s schiefläuft, muss ihm was einfallen. Eine gute Bewährung für einen, der im nächsten Jahr schon mit eigener Gruppe unterwegs sein kann. Es wird nicht immer alles glattgehen.

Sie wird doch nicht ...? Wenn sie die Busse gar nicht bestellt hatte ... Ein Verdacht wuchs in Jumbo.

Wetzel dachte, das darf sie nicht, nicht ohne uns zu informieren. Außerdem wäre das Romma gegenüber unfair. Er konnte nicht lange darüber nachdenken, denn er wurde von ihr nach seinen Plänen befragt. Darauf hatte er gewartet, dass er seine Konzeption darlegen könnte. Aber jetzt ärgerte er sich. Warum tat sie überlegen, lächelte ihn an, als wüsste sie längst, was er ihr sagen wollte? Darum fragte er noch einmal nach dem Zeitplan. Wird er zu halten sein?

Warum denn nicht? Frau Schmitt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Wir sind auf alles vorbereitet.

Jumbo stellte sich vor, wie die Studenten sich durch die Stadt zum Busbahnhof schleppen. Wie Sonne auf den kahlen Platz brennt und alle auf den Bus hoffen.

Auch Wetzel dachte an die Studenten. Drei Stunden werden sie mindestens brauchen. Ob das der richtige Auftakt ist, bleibt zu bezweifeln. Da kann er das Manuskript in der Tasche lassen, da wird nichts mit seiner Rede.

Frau Schmitt lachte. Als könnte sie Gedanken lesen, sagte sie, es fährt ein Linienbus. Mindestens das wird Romma herausfinden. Wir müssen sie nicht wie Kinder behandeln. Manchmal sind ein paar Härten ganz gut. Den Studenten muss man auch körperlich etwas abverlangen.

Ehe das Lachen aus Jumbos Gesicht verschwand und ehe Wetzel spitze Worte fand, hielt der Fahrer auf dem grünen Randstreifen.

Verdammter Mist, schimpfte er, hätte längst in die Werkstatt müssen.

Er stieg aus, klappte die Motorhaube auf, hoffentlich nicht das Getriebe.

Endlose Pause, ehe er einsteigen ließ.

Wieder aussteigen. Wie lange sie schon festsaßen.

Beunruhigende Frage Frau Schmitts, was, wenn ...

Gewissheit dann und Entschluss Jumbos. Laufen!

Halt, der Bus, sagte Wetzel.

Natürlich. Frau Schmitt lachte. Zwei Kurven abwärts die letzte Haltestelle.

Also vorwärts, in diesem Falle rückwärts. Lachte sie denn immer? Tempo, Tempo. Ängstlichkeit kam in Wetzel auf, zu spät zu kommen, den Motor zu hören, der sich mit der Auffahrt quält. Anderes in ihm trat zurück, wurde unwichtig. Er war nur da, um jedes Geräusch wahrzunehmen, das aus dem Tal heraufkam, um es einzuordnen. Hinter ihm die beiden. So erreichten sie die erste Kurve, und dem Ziel nah, bangte er um jedes Motorengeräusch, verärgert vom Lachen hinter sich.

 

Auf derselben Straße zur selben Zeit sagte die dicke schwarzhaarige Studentin, die Gundula heißt, zu Lea: Wenn das so weitergeht, prost Mahlzeit! Lea blieb stehen, um die Tasche abzusetzen. Ihr Körper schien nur Arm zu sein, an dem die Tasche hing, die sie in den Asphalt ziehen wollte.

Mein Koffer dagegen, die Schwarze stöhnte, und noch den Beutel. Sie wischte sich übers Gesicht. Lea winkte einem Auto.

Hier doch nicht, sagte die Schwarze.

Ich kann nicht mehr, dachte Lea. Diese Tasche, immer an derselben Hand. Die Handfläche brannte ihr von den Griffen. Wenn Josse jetzt mit seiner Jawa käme wie gestern. Sie sah auf ihren Verband. Er war durchblutet.

Sieht schlimmer aus, hatte Josse gesagt. Im ersten Augenblick sieht es immer schlimmer aus, als es ist. An diesen Satz erinnert sie sich gut, obwohl viele Jahre inzwischen vergangen sind, auch an die Stimme, die das fünfjährige Mädchen Lea Kaiser damals damit in die Wirklichkeit zurückholte. Die Wirklichkeit war das Sofa in der guten Stube, auf das sie Lea gelegt hatten. Und die Stimme gehörte Manfred Neubert. Keiner antwortete ihm. Nur Lea schrie, als sie ihn sah. Da fragte er, ob er was für sie tun könne. Den Arzt rufen, ein Auto schicken. Woher sollte er das nehmen? Vater und Mutier standen um Lea herum und schwiegen.

Dafür kann niemand, sagte Neubert. Das ging so schnell.

Was war schnell gegangen? Da war Sonne, ja. Und ein Feuer - ja, Feuer brannte, und Josse, natürlich war Josse dabei. Er röstete Kartoffeln. Qualm zog über das Feld und biss in den Augen. Vater hob mit der Forke Stauden aus, Mutter sammelte und sortierte. Den Eimer für Schweinekartoffeln durfte Lea weitersetzen, bis sie ihn umkippte.

Weil du nicht aufpasst. Erika zog Lea an den Zöpfen und schüttelte sie. Los. Aufsammeln!

Otto dachte, was macht sie denn mit dem Mädchen. Er sagte nichts. Erziehung überließ er ihr.

Dann sollte Lea gehen. Aber nach Hause wollte sie nicht. Hanne würde sie Gänse hüten schicken. Das war langweilig. Zu Josse mit seinen verbrannten Kartoffeln war sie gern gelaufen. Er stocherte in der Glut. Manchmal hörte sie ihn husten. Einfach über den Feldrain hin zu ihm, wo Mutter sie sah? Josse hieß eigentlich Josef, wie sein Vater Sepp und sein Onkel Juschko. Er musste schon morgens in die Kirche, manchmal zweimal am Tag, und er redete ein komisches R und verdrehte die Worte beim Sprechen wie alle seine Verwandten. Am Sonntag trug er weiße Kniestrümpfe — na, wenn die Eltern sie mit dem auf dem Acker sahen. Mutter sagte, Josse verdirbt das Mädchen. Er war ein Jahr älter und traute sich schon zu rauchen, aber an dem Sonntag nicht. Ja, Sonntag war. Er blieb auf seinem Feld und Lea auf ihrem. Mutter jagte sie nicht weg, aber es war langweilig wie bei den Gänsen. Bei Lene Liersch war es nie langweilig. Da gab es den Dackel Hexe mit krummen, kurzen Beinen und die kleinen Katzen. Was macht Sie, Jungfer Katze, schläft Sie oder wacht Sie, piepste Lea, wenn sie zur Lene Liersch kam, die ihr mit tiefer Stimme antwortete:

Da ging die Katz die Tripp die Trapp, da schlug die Tür die Klipp die Klapp.

Dann das helle Lachen der Lene Liersch, die das Mausejunge hinter der Tür hervorzog, auf den Arm nahm, in die Luft warf und wieder auffing. Zu ihr durfte Lea auch nicht mehr, weil Lene Liersch ein raffiniertes Weibsstück war, das sich die Brust hochschnallte. Das hatte Mutter zu Vater gesagt.

Man müsste wie die gelben Blätter fliegen können, die der Wind aufwirbelte und bis in die Wolken trieb. Lea würde ihnen gern folgen. Sie kletterte über volle Säcke auf den Kartoffelwagen. Fliegen, fliegen. Die Mutter drohte. Otto dachte, was verlangt sie denn von dem Mädchen. Er sagte, lauf nur.

Lea rannte mit ausgebreiteten Armen über das Feld, umkreiste den Rain und lief dem Wald zu.

Erika Kaiser dachte, das hätte er Kalle nie erlaubt. Diesen Vorwurf wollte sie nicht für sich behalten. Sie wollte ihm nicht gleich damit kommen, nicht wenn Kalle dabei war. Sie bückte sich tiefer und presste die Lippen aufeinander. Otto wusste, es war besser, sie jetzt nicht anzusprechen. Es muss nach ihrem Kopf gehen. Er hat sich nicht einzumischen. Das wird er noch zu hören kriegen. Er sieht zum Wald hinüber, ob Lea auftaucht, aber sie bleibt verschwunden. Ausgerechnet in den Wald muss sie laufen. Da wird er sich kümmern müssen. Gleich hinter der Schlucht verläuft die Grenze. Bis dahin wird Lea doch nicht sein.

Lea aber hat alle Verbote vergessen. Vaters Dort-hin-nicht und Mutters Komm-zurück! Die Märchen der Lene Liersch, in denen Gehorsam von guten Geistern und Feen belohnt wird.

Sieh nicht zurück! Aber der Prinz sieht zurück und wird zu Stein.

Das hinterste Zimmer darfst du niemals betreten. Die Neugierde wächst, man betritt es doch, und ein böser Zauber bricht die Kraft des guten. Das Märchen vom Schatzhauser, der den großen Michel besiegen kann, wenn der Mensch gut ist, dem er hilft. Gut sein, das heißt gehorsam sein. Wer nicht hört, ist böse. Aber das alles hat sie vergessen. Sie fliegt den Weg hinauf. Weil er nicht schnell genug über die Bäume wachsen will, verlässt sie ihn. Gebüsch, Gestrüpp, bergauf. Josse wird staunen, wenn sie angeflogen kommt. Vom nächsten Berg will sie fliegen. Aber erst mal müssen die Flügel wieder zu Armen werden, die den Beinen helfen, hinaufzuklettern. Schneller und schneller klettert sie. Gleich wird sie unter dem Himmel sein, die Arme schwingen und dabei hopsen. Sie will ihrem Josse etwas zurufen. Nein, sie kann nicht, ein Gesicht liegt neben ihr im Gras. Es wächst auf sie zu und hat eine Stimme, Verboten, halt, darf man nicht. Da fällt es ihr ein. Sie ist in den Zauberwald gelaufen.

Schatzhauser im Tannenwald, bist viele Hundert Jahre alt.

Wenn sie das doch rufen könnte. Sie findet die anderen Reime nicht. Wenn nun der Michel kommt, sich aufbläst und wächst und wächst und mit den weißen Augäpfeln rollt, dieser Michel, der Menschenherzen sammelt.

Lea geht rückwärts, einen Schritt, noch einen. Lieber, lieber Schatzhauser, möchte sie sagen, ich störe dich nie wieder, ganz bestimmt nicht. Da sieht sie ein zweites Gesicht. Es ist rot und schreit. Aber Lea kann nicht stehen bleiben. Sie tritt auf weichen Boden und kann sich nicht halten. Sie rutscht über Schotter, dann über einen glatten Stein, spürt noch die Kante, schreit und fällt, der Aufschlag, dann ist alles dunkel.