Impressum

Dietmar Beetz

Weißer Tod am Chabanec

ISBN 978-3-95655-185-7 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1979 im Verlag Neues Leben Berlin (Band 156 der Reihe „Spannend erzählt“).

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Jenen vor uns, denen wir und alle nach uns verpflichtet sind

Prolog

Am Morgen vor jener Nacht, als ihre Fallschirme sich öffneten und die Körper, schwarze Bündel in gestaltlosem Dunkel, unaufhaltsam zur Erde sanken - an jenem Morgen befanden sich die Partisanen noch Hunderte Kilometer nordöstlich der Absprungstelle auf sicherem Boden. Über dem Rollfeld hellte sich gerade der Himmel auf, und während die Männer murrend auf die Ladefläche kletterten, jagte der Chauffeur ein ums andere Mal ungeduldig den Motor auf Touren.

Wieder war der Abflug verschoben worden, und abermals fuhren sie zum Objekt zurück. Der Wagen holperte, eingehüllt in eine Staubwolke, über den zerfurchten, von der Sonne steinhart gebrannten Weg, bis er das Band der Landstraße erreichte und die Fahrt beschleunigte.

Hinter der Kabine auf den rüttelnden Bänken, das spärliche Gepäck zu Füßen, kauerten Martin Schweiger und Johann Schlichter, und neben ihnen, wie sie enttäuscht und übernächtig, hockten die anderen Männer der Gruppe: Slowaken und Tschechen, Ungarn, Ukrainer und Russen. Sie alle schwiegen jetzt, und die meisten starrten vor sich hin, gedankenversunken, müde und voller Sorgen.

Auch Martin fühlte sich bedrückt, zugleich aber eigenartig erregt. Ihm war, als übertrage sich das Vibrieren der Planken auf seinen Körper, als blase der Fahrtwind ihm die nächtliche Dumpfheit aus dem Kopf. Die Sinne geschärft, zu besonderer Wahrnehmung fähig, erlebte er wie mit allen Fasern diesen Morgen, der einen heißen Tag versprach und doch überschattet wirkte.

„Am Wetter kann’s nicht liegen“, sagte er - zu seiner eigenen Überraschung laut und auf deutsch.

Johann, ihm gegenüber, schreckte auf und blickte, indem er sich etwas vorbeugte, verwundert und fragend.

„Gutes Flugwetter - eigentlich!“, rief Martin, nun auf russisch, mit einer Bewegung zum frührot übergossenen Himmel.

Johann nickte und zuckte sogleich die Schultern.

„Da unten“, erwiderte er, mit jedem Wort gegen den Motorenlärm ankämpfend, „dort regnet’s vielleicht, oder es stürmt gerade. Im September haben wir oft Gewitter.“

Dort, wiederholte in Gedanken Martin, und erneut versuchte er, sich jene Gegend vorzustellen: die Berge und Täler rings um Banská Bystrica und vor allem das Städtchen selbst, die Hauptstadt des Aufstands gegen das faschistische Tiso-Regime. Vergebens. Wie immer während der letzten zwei Wochen, seitdem er das Ziel ihres Einsatzes kannte, drängten sich andere Bilder vor, Eindrücke seiner unmittelbaren Umgebung oder, zunehmend häufiger, Erinnerungen an daheim.

Auch jetzt schoben sich vor die vorbeiziehende Landschaft, vor dieses Gelbgrün der ukrainischen Ebene, dunkel bewaldete Hänge und Häuser mit schrägem, schiefergrauem Dach - sein Dorf im Lausitzer Gebirge. Den Fahrtwind im Ohr und vor den Augen die aufgehende Sonne, war Martin, als presche er wieder hinab auf dem Rad nach Reichenberg in die Fabrik wie damals.

Er seufzte. Zuletzt hatte er diese Strecke vor sechs Jahren zurückgelegt: zu Fuß und seitab der Chaussee, fast wie zuvor als Kurier die Pfade hinüber ins Reich.

Mehr als fünfzigmal hatte er nach Hitlers Machtantritt illegal die Grenze passiert, rund gerechnet also beinah jeden Monat bis zum Oktober neunzehnhundertachtunddreißig; das war schon was. Und dann das Untertauchen beim Einmarsch der Wehrmacht, die Aktionen unter falschem Namen, die Flucht vor dem Zugriff und die Emigration im Auftrag der Partei ...

Nein, sagte sich Martin, heurige Hasen sind wir durchaus nicht mehr, und auch die Ausbildung in letzter Zeit war sicher nicht nutzlos. Eigentlich kann überhaupt nichts schiefgehen. Eigentlich ... Und wenn doch - was soIl‘s?

Trotzdem blieb ein Rest, eine Unruhe im Innern, und wiederum musterte Martin die Männer an seiner Seite und die ihm gegenüber. Die meisten kannte er schon vom Ural her, aus jenem Ausbildungslager, wo er auch Johann kennengelernt hatte; dennoch war ihm jetzt, als sähe er sie alle zum ersten Mal - mehr noch: Seine eigene Anwesenheit auf diesem dröhnenden Lastkraftwagen erschien ihm plötzlich seltsam, in jeder Hinsicht eigenartig.

Ein Deutscher, dachte er, unterwegs zum Kampf gegen - Deutsche.

Gewiss unterschied Martin, so weit er zurückdenken konnte, durchaus innerhalb der Nationen, und im Prinzip stand er seit frühester Jugend an der gleichen Front: als Kommunist gegen die Faschisten. Dennoch empfand er, übernächtig, erregt und hellsichtig, wie er war, an diesem Morgen mehr denn je das Ungewöhnliche seiner Situation.

Selbst Johann, dachte er, ist anders dran als ich, wahrscheinlich besser: Er kehrt zurück in die Slowakei, als Deutscher, freilich, immerhin aber mit den Befreiern in seine Heimat. An Ort und Stelle kann er sich bewähren, für später empfehlen. Mit ihm macht man bestimmt eine Ausnahme: Ihn und seine Leute lassen die Slowaken nach dem Sieg in ihrem Land, gleichberechtigt, nicht nur geduldet; schon jetzt rufen ihn ja alle Jan statt Johann. Mich dagegen, oder Kati ...

Die Erinnerung an die Ungarin durchzuckte Martin wie ein Stromstoß; sie verklärte und überschattete zugleich die letzten Minuten der Rückfahrt. Während der Chauffeur, nun bereits in den Straßen einer Vorstadt, das Tempo minderte, sah Martin vor brandgeschwärzten Ruinen und provisorischen Neubaufassaden ihr Gesicht, das rundliche Kinn und die kräftige Stirn, die braunen, gesprenkelten Augen und den Mund, ein Lippenpaar - wie Vogelschwingen gewölbt, geschürzt in herausforderndem Spott.

Kati, Milotschka moja - meine Liebste ...

Angeredet hatte er sie nie so, nicht mit vernehmbaren Worten. - Wozu auch? Gab es doch eine Sprache der Augen, der Hände, Verständigung, die von den Fingerspitzen überschlug ins Herz.

Die dennoch Wesentlichem auswich.

„Still!“, war es ihr gestern entfahren, als er wieder beginnen wollte, von einer gemeinsamen Zukunft zu reden, und ihre Hand hatte sich ihm auf den Mund gelegt, beschwörend, und war dann, eine besänftigende Geste, über sein Gesicht geglitten.

„Nicht sprechen, Martin! Worte sind - Nägel.“

Doch wenig später hatte sie - die Hand ein flatternder Vogel - beiläufig hinzugefügt: „Lass nur, Medwed! Sallai Kati macht das schon.“

„Medwed“ - „Bär“ nannte sie ihn nur, wenn nachsichtige Überlegenheit sich in ihre Äußerungen einschlich, ein Selbstbewusstsein, das natürlich und deshalb sympathisch wirkte. Im Übrigen hing ihm dieser Name noch von Vera her an, aus seiner Zeit vor dem Krieg, und Kati wusste das sehr wohl: Manchmal, schien es Martin, benutzte sie das Kosewort der einstigen Rivalin, ungarisch eingefärbt, mit unüberhörbarem Triumph.

„Medwed, komm, sei Kati gut!“

Ein Stoß holte ihn zurück in die Gegenwart. - Der Chauffeur hatte, aus beträchtlicher Fahrt heraus, den Wagen zum Stehen gebracht, und nun erhoben sich die Männer, gähnend, träge, reckten sich und ergriffen ihr Gepäck. Als die Gruppe sich auf dem schattigen Platz zu einer Doppelreihe formierte, fuhr der Wagen, hinter sich eine Staubfahne, bereits klappernd ab zu den Garagen.

Sergej Michailowitsch, der Kommandeur, fand Martin, machte es heute Morgen gnädig.

„Ihr kennt ja den Auftrag“, rief er. „Der bleibt uns. Wie das Sprichwort sagt: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Nächste Nacht, da bin ich sicher, fliegen wir. Und nun, Genossen, ruht euch aus! Verlassen wird das Gelände nicht mehr! Treffpunkt, wie gestern, hier: pünktlich siebzehn Uhr! - Verstanden?“

Nach der Bestätigung ließ er wegtreten, und die Männer, das Gepäck über der Schulter oder an einem Gurt in der Hand, schlurften durch den Staub hinüber zu den Baracken.

„Hinhaun, was sonst?“ - „Vielleicht erst die Nachrichten hören.“ - „Die sind grade durch.“ - „Ausschlafen und gleich mit auf Vorrat ...“ - „Ich nehm einen Schluck, und dann: gute Nacht bis halb fünf!“

So schwirrte es durch die frische, noch morgenkühle Luft auf russisch, slowakisch, ungarisch, tschechisch. Martin, der neben Johann den anderen folgte, vernahm die Worte, verstand auch ihren Sinn, war aber in Gedanken schon wieder unterwegs: wie gestern am späten Nachmittag, drüben nah der Umzäunung, wo Ahorn, Buchen und Unterholz zusammenrückten - ein lichtes und dennoch dichtes Versteck.

„Na, Bursche, wie?“, fragte Johann in seiner heiseren, etwas gepressten Art.

Martin schreckte auf. Er mochte es nicht sonderlich, von Johann, der knapp vier Jahre älter war, als „Bursche“ angeredet zu werden, wusste aber, dass Protest diesen Dickschädel eher bestärken würde, belustigen und herausfordern; also erwiderte er das Geplänkel in gleicher Weise.

„Wie schon, Alter?“

„Müde?“, erkundigte sich Jan., „Sauer oder was?“

„Seh ich so aus?“, fragte Martin, wobei er lachend die Schultern reckte.

„Nein, natürlich nicht“, gab Jan zur Antwort.

Er sagte das in einem Ton, der Martin aufhorchen, ihn unwillkürlich stocken ließ. Nachdenklich und ernst geworden, schwieg er ein paar Schritt lang.

„Ist was?“, fragte Jan nach einem Seitenblick.

„Bei mir? - Nicht dass ich wüsste! - Weshalb fragst du?“

„Nur so“, brummte Jan, und er zeigte auf einen Kistenstapel. „Setzen wir uns eine Zigarettenlänge!“

Dann aber hatten sie die Papirossy beinah aufgeraucht, und noch immer starrte Jan, die Lider schmal, vor sich hin.

Auch Martin schwieg und stieß den Rauch aus. Von Zeit zu Zeit schaute er, ohne den Kopf zu wenden, Jan aus den Augenwinkeln an.

Er glaubte, den Freund zu kennen - einen Kumpel in doppeltem Sinn: Bergmann und Genosse, Kamerad; und doch war ihm schon öfter aufgefallen, dass Johann plötzlich verstummte, sich verschloss - unerklärlich, weshalb. Anfangs, noch im Ural, hatte er ihn deshalb wiederholt zur Rede gestellt, stets erfolglos; Jan war jedes Mal ausgewichen und hatte bald darauf zu sprechen begonnen, als sei nichts gewesen.

Jetzt allerdings drückte er die Hülse, an der sich noch für zwei, vielleicht sogar drei kostbare Züge Tabak befand, mürrisch auf einem der Kistenbretter aus und räusperte sich.

„Tja, die Weiber“, sagte er, unvermindert heißer, gepresst. Und verstummte erneut und starrte, unablässig sorgenvoll nickend, abermals vor sich hin.

„Die Weiber?“ - Martin hatte verwundert aufgeschaut. - „Gut, dass es sie gibt!“, rief er.

Jan nickte heftiger, und flüchtig entblößte ein Lächeln seine Zähne.

„Klar, Bursche. Natürlich sind wir froh, dass wir sie haben. Wenigstens manchmal. Aber sonst“ - sein Gesicht wurde schlaff - „nichts als Ärger, nur Schererei.“

„Na, hör mal!“, sagte Martin. „Du brauchst dich doch nicht zu beklagen. Deine Frau - wenn man so einen Kumpel wie du erwischt hat! Bleibt in diesem Nest, allein mit dem Mädchen, schlägt sich durch und wartet. Gerade du ... Jetzt, wo du heimkommst ...“

Er stockte, brach ab. Mit jedem Wort war ihm deutlicher bewusst geworden, dass Jan - der Blick, der Nacken, der gesamte Körper - erstarrte. Nun, schien es Martin, lauschte der Freund, als horche er in sich hinein, als überlege er fieberhaft. Oder als warte er auf weitere Argumente.

„Ich an deiner Stelle ...“

„Ich“, begann zugleich auch Jan, „ich red doch nicht von mir! Um dich geht’s, um deine Sache!“

„Um mich?“

Martin schluckte, betroffen und gleichzeitig verwundert. Mehr als die Behauptung selbst hatte ihn der Ton überrascht, diese jähe Aggressivität, und wie überrumpelt er auch war - etwas in ihm misstraute den Worten, ahnte atemzuglang, dass Jan damit ablenken wollte. Aber während er, noch unschlüssig, ihn musterte, sein Profil, die kräftige Nase, sprach Johann bereits weiter und stieß dabei, jeden Satz bekräftigend, mit dem Kopf zu wie ein Vogel, der auf sein Opfer einhackt, ihm keine Zeit zur Besinnung lässt.

„Natürlich um dich, Mann! Um dich und die Sallai!“

„Ach“, entfuhr es Martin, „du weißt …“

„Na, hör mal!“, erwiderte Johann fast heiter. „Das hat doch längst jeder mitgekriegt.“

„So, jeder? Längst ...“ - Martin, nun endgültig abgelenkt, schluckte wie gewürgt.

„Sei bloß froh“, sagte Johann, „dass es die Sallai ist! Bei so einem Onkel …“ Er machte eine majestätische Geste.

Martin schien weder die Gebärde noch die Anspielung wahrzunehmen. Wie vom Rande eines Abgrunds wandte er sich um und fixierte Jan.

„Und warum sagst du mir das erst jetzt?“

„Weil ...“ - Johann wich einen Lidschlag lang dem Blick aus und sprach dann doch; es klang, als habe er sich diese Antwort schon längst zurechtgelegt.

„Weil ich dachte, das wär nun überstanden, nach euerm Abschied gestern und überhaupt, wenn du erst mal da unten bist, in der Slowakei, und sie hier in Kiew. Wenn wir geflogen wären, hätt ich kein Wort verloren; aber nun, falls du ihr noch mal über den Weg läufst …“

Im selben Moment war Martin bewusst, dass er auch, um Kati abzupassen, ihr so bald wie möglich zu begegnen, hier auf diesem Kistenstapel saß.

Wahrscheinlich, überlegte er, ist sie unterwegs für ihre Organisation in der Stadt. Trotzdem, wenn sie jetzt daherkäm, wenn sie ausgerechnet heute erreicht hätte, dass sie heimfliegen darf, mit uns in die Slowakei ...

„Übrigens“, sagte er, „Kati will mitmachen bei den Partisanen.“

„Kati?“, fragte Johann, als kämen seine Gedanken weither. „Ach, die Sallai! - Als Frau bei den Partisanen? Als Ungarin?“

„Na und? Es gibt eine Menge Gruppen mit Frauen. Und außerdem sind der Lajos und der István auch Ungarn.“

„Die“, erwiderte Johann prompt, „stammen aus einer Gegend, die schon immer ungarisch war und immer ungarisch bleiben wird; mit denen haben die Slowaken oder die Tschechen keine offene Rechnung. Die Sallai aber, oder auch du und ich - wir werden wohl rausfliegen, wenn der Schlamassel endgültig vorbei ist: die Sallai aus ihrer Kaschauer Ecke und du aus deinen Sudeten.“

„Lausitzer Gebirge“, sagte, erneut betroffen, Martin wie in Gedanken.

„Was ist?“, fragte Jan.

„Nichts, nur eine Kleinigkeit: Die Sudeten liegen südöstlich von uns. Aber sonst hast du vom Prinzip her recht: Nach dem Krieg wird Kaschau vielleicht Kosice heißen. Und Reichenberg - Liberec.“

„Erwartest du etwa was anderes?“

„Wär ich dann hier?“, erwiderte Martin im gleichen Tonfall, einer Mischung aus Wehmut und Spott.

„Hast recht, Schweiger“, sagte Jan, indem er Martin auf die Schulter klopfte und sich mit einem Seufzer erhob. „Hast recht.“

Und dann, schon unterwegs zur Baracke, den schlaffen Rucksack an einem Gurt in der Hand, fügte Johann hinzu: „Und die Sallai - die schafft, was sie sich in den Kopf gesetzt hat; die sieht ganz danach aus. Also, nimm dich in acht, Schweiger! Weiber bringen unsereinem nur Schererei.“

Er sagte das beiläufig und doch offenbar aus tiefster Überzeugung, und die Worte hakten sich, wie seltsam sie ihn auch berührten, in Martin fest. Sie begleiteten ihn durch den dämmrigen Korridor der Baracke, mischten sich in das Stimmengewirr, das aus einem der Zimmer drang - eine der üblichen Debatten im Anschluss an die Nachrichten, an der sich Martin minutenlang zerstreut beteiligte -, und sie folgten ihm auf sein Lager und bis in den Schlaf.

Auch nach dem Heraufdämmern verschmolzen bald wieder Wahrnehmungen und Erinnerung zu einer Art Wachtraum, einer Vision. Da sah Martin, auf dem Rücken liegend, vor der rissigen, grob gefügten Decke eine Frau, eine junge, den Kopf in den Nacken geworfen, stolz und scheinbar unnahbar wie Vera und zugleich wie Kati ein wenig kokett, und plötzlich verschwamm der Hintergrund, wurde zum Baumspalier, zum Wald auf einer Höhe im Lausitzer Gebirge nahe der Grenze, und die Frau, nun eindeutig Kati, fiel aus selbstbewusstem Schreiten in Lauf, begann zu rennen, bedrängt, in Gefahr ...

Martin schreckte auf und wischte sich über das schweißfeuchte Gesicht, über die schweren Lider.

So ein Quatsch! dachte er. Wird Zeit, dass es losgeht; sonst fängt man noch zu spinnen an.

Er war dabei in die Schuhe gefahren, hatte die Bänder straff gezogen und verschnürt. Benommen vom Schlaf und etwas taumelig, ging er zum Fenster und stieß die Flügel auf.

Draußen die Luft schien zu vibrieren, so heiß war es mittlerweile geworden. Die Sonne stand schräg über dem Dach, dessen Schatten hart an grell beschienenen Staub grenzte. Geblendet schloss Martin atemzuglang die Augen.Wie auf Wellen drang es an sein Ohr: ein Summen und Rauschen, gleichförmig, nachmittäglich, beladen mit dem Klang schläfriger Stimmen, von einem Knacken, einem kratzenden, sich klärenden Geräusch plötzlich überlagert.

Die Nachrichten, dachte Martin. Das Neuste von den Fronten. Vom Aufstand, wenn überhaupt was, wahrscheinlich dasselbe wie heute früh ...

Spärlich waren die Meldungen aus Banská Bystrica geworden, kürzer und zurückhaltender die Kommentare, schmerzlich verschieden von den enthusiastischen Berichten vor drei oder zwei Wochen, ja selbst noch vor ein paar Tagen. Das befreite Gebiet schrumpfte beängstigend zusammen. Gewiss, die Aufständischen kämpften, setzten sich verbissen zur Wehr, und jeder Tag, jede Stunde, die sie durchhielten, beschleunigte den Untergang der Faschisten, half mit, diesen verdammten Krieg zu beenden; gewiss, und doch ...

Die Augen längst wieder offen, seufzte Martin und warf, im Ohr die verschwimmende, von anderen Sendern bedrängte Stimme des Nachrichtensprechers, noch einen Blick auf das Gehölz, das hier bis nah an die Baracken reichte.

Die Blätter der Birken am Rande der Lichtung waren bereits vergilbt, und auch der Ahorn hatte sich schon verfärbt. Braun war sein Laub gesprenkelt, rostbraun wie von verspritztem Blut.

Herbst, dachte Martin. Klar, wir haben ja bereits Ende September. Nicht mehr lange, und der Winter steht vor der Tür.

Während nebenan am Radio gedreht, eine schwermütige Melodie eingestellt wurde, ging Martin vorbei an Jan und den anderen, die ausgestreckt auf den Betten lagen, und verließ den Raum. Die Melodie, ein ukrainisches Volkslied, begleitete ihn über den schwülen, stickigen Korridor, und draußen vor der Baracke empfing ihn ein frischer, fast kühler Luftzug.

Abermals fühlte sich Martin an den Herbst erinnert, und zugleich verspürte er Hunger.

Die Kantine war jetzt, am Nachmittag, natürlich geschlossen, doch in der Hosentasche fand er noch ein paar Krümel Machorka. Er holte aus der Litewka ein Stück Papier, drehte einen dünnen Trichter, schüttete den Tabak hinein, klemmte die Zigarette zwischen die Lippen ...

Und erstarrte aufblickend, hielt den Atem an - erschrocken, von Freude übermannt.

„Spitschka?“, fragte Kati, und sie riss ein Streichholz an und hielt das Flämmchen, es mit beiden Händen schützend, so niedrig, dass Martin die Starre brechen, sich bücken, ein wenig vorbeugen musste. - Im selben Moment streifen ihre Lippen sein Haar.

Er verschluckt sich am Rauch, wirft entsetzt einen Blick nach rechts, nach links.

„Bist du verrückt?“

„Ach, Martin, ich bin froh!“

„Wenn jemand uns sieht!“

„Ach, Medwed - deutscher Bär ...“

„Na, ist doch wahr!“, erwidert Martin, bereits gefasster. Und schweigt dann, holt einen tiefen Zug aus der Zigarette und stößt den Rauch hörbar erleichtert aus.

Mit einem zweiten Blick hat er sich vergewissert, dass sie allein vor der Kantine stehen. Nur drüben bei den Baracken sitzen ein paar Männer, und von den Garagen her, noch weit entfernt, kommt gerade ein Offizier, doch keiner scheint sie beide zu beachten.

„Martin, leb wohl!“, sagt Kati leise. „Doppelter Abschied ist ein glücklicher Abschied: Man hat sich noch einmal gesehn.“

Er will etwas erwidern, aber sie legt ihm rasch die Hand auf den Mund.

Und zieht sie ebenso schnell wieder weg und lässt sie, gleichfalls anders als gestern, sinken, und auch der Glanz in ihrem Gesicht, ein feuchtes Schimmern, ist neu.

„Leb wohl. Liebster! Und wart auf mich in Bystrica!“ -

Stunden später fährt ein Lastkraftwagen, hinter sich eine Staubfahne, mit dröhnendem Motor auf dem Platz vor den Baracken vor.

Erster Teil

Erstes Kapitel

1

Eine Dreiviertelstunde vor Mitternacht näherte sich von Nordosten her ein Flugzeug der Front. Die Maschine flog in großer Höhe, und die Motoren dröhnten beruhigend gleichförmig, und doch wirkten die Männer im Rumpf nervös. Ihre Gesichter, angespannt vor Erwartung, zuckten bisweilen und verhärteten sich dann wieder - Bewegungen in einem matten rötlichen Licht, die Martin beinah gespenstisch erschienen.

Dabei war ihm diese Situation durchaus vertraut. Oft schon hatte er, sogar auf dem gleichen Platz und mit fast denselben Genossen, in einer solchen Maschine gesessen und auf das Kommando gewartet, den Befehl zum Öffnen der Luke, zum Sprung, und auch heute Nacht hockte er, ein Glied in einer Doppelreihe, nicht anders als sonst in dem tunnelförmigen Gewölbe. Äußerlich war alles genauso wie vor einem der Übungssprünge über den Vorbergen des Ural, und doch unterschieden sich dieser Flug und das, was ihm folgen würde, für Martin wie für die meisten Männer der Gruppe grundsätzlich von jedem bisherigen Auftrag.

Jetzt wurde es Ernst. Die nächsten Wochen und Monate, vielleicht schon die nächsten Stunden mussten beweisen, was man gelernt hatte, begriffen während der Ausbildungszeit und in den zwanzig, dreißig Jahren zuvor. Auf welche Bewährungsproben man auch zurückblicken konnte, der bevorstehende Einsatz würde alle an Härte weit übertreffen.

Martin ahnte das, und dennoch versuchte er, erneut die Erinnerung an überstandene Gefahren zu beschwören, so an jene Nacht vor acht Jahren im Grenzwald, als die Streife ihn hetzte und Querschläger über ihn hinwegschwirrten. - Vergebens. Die Eindrücke von damals blieben heute seltsam verschwommen, ohne Resonanz, und wurden bald gänzlich verdrängt von unmittelbaren Wahrnehmungen.

Noch fiel ein rötlicher Schimmer stetig auf die Rippen des Rumpfes, auf die Männer in voller Ausrüstung, auf die gepackten Schirme, noch dröhnten die Motoren, ohne zu stocken, zu verstummen, noch flog die Maschine unablässig ihrem Ziel entgegen.

Nur das, sagte sich Martin, ist wichtig. Alles andere - was soll’s?

Selbst Kati erschien ihm jetzt fremd, die gemeinsame Zeit im Ural und bei Kiew durch mehr als die räumliche, ständig wachsende Distanz entrückt, beinah unwirklich die scheinbar zufälligen Begegnungen im Zwielicht der Dämmerung auf unwegsamem Gelände, die leisen und tastenden Worte, die hastigen, heftigen Umarmungen. Sogar ihr Gesicht an einem Fenster der Frauenbaracke, dieser letzte Anblick bei der Abfahrt, wirkte nun wie ein Teil einer versunkenen Welt und weckte in der Erinnerung lediglich einen dumpfen, drückenden Schmerz in der Magengrube.

Anders der Abschied auf dem Flugplatz, der endgültige nach all den „Probeläufen“: Die Schüsse beim Einsteigen in die Maschine, die kurze, knatternde Salve, das Valet der zurückbleibenden Kameraden - das kam schon näher, blieb haften; das war prickelnd über die Kopfhaut gefahren, hatte die Männer minutenlang in einen geschwätzigen, rauschartigen Zustand versetzt.

Dann aber, als die Maschine abhob, als der Erdboden, die gastliche Stadt, die Geborgenheit zurückwichen- spätestens danach verstummte die hörbare Begeisterung, und bald kehrten sich die Blicke der meisten nach innen, verkrochen sich gleichsam.

Auch jetzt schwiegen die Männer neben Martin und ihm gegenüber, gedankenversunken oder sichtlich nervös, hart die Gesichter in bohrender Zwiesprache oder angespannt in unbestimmter Erwartung. Plötzlich ergriff heller Schein die Bordfenster, ließ sie augenblicklang aufleuchten - nach dem rötlichen Dämmer blendend, fast grell.

Gleich darauf stand der Himmel wieder schwarz hinter dem runden Glas, dunkel zumindest, doch eigenartig unruhig.

Oder flackert es nur mir vor den Augen? fragte sich Martin.

Im nächsten Moment wurde die Maschine erneut von einem Lichtstreifen erfasst, und gleichzeitig schrie der Pilot etwas, was Martin nicht verstand, was unterging im Dröhnen - im Stottern? - der Motoren, im Hämmern der eigenen Herzschläge oder bereits im Pfeifen und Bersten der Geschosse.

Die Front! Sie beschießen uns! Die haben uns mit ihren verdammten Scheinwerfern erwischt!

Tatsächlich wich das zuckende Licht nicht mehr von den Fenstern, und immer dichter und eindeutiger wurde der Lärm krachender Explosionen, vorbeisirrender Splitter, und einmal, schien es Martin, ließ ein Schlag die Maschine erzittern.

„Fertigmachen!“, befahl der Kommandeur, als habe er bloß noch darauf gewartet. „Wir springen ab, wenn’s sein muss.“

Martin und sicher auch die anderen Männer lasen ihm die Worte von den Lippen ab; denn zu verstehen war nichts, zumal der Pilot die Motoren gerade auf Hochtouren jagte.

Und dann, zufrieden mit ihrer Leistungsfähigkeit, mit dem Ergebnis ihres Spurts, brummten sie wieder gleichförmig, beinah behäbig, und die zudringlichen Lichtbündel begannen zu flackern, gaben es auf und schwenkten zurück. Eine Weile waren noch Detonationen vernehmbar, dumpf schon, fernab.

Geschafft, dachte Martin, ungläubig, überrascht und erleichtert. „Geschafft!“ - „Vorbeigeballert!“ - „Schießt nur, ihr Hunde!“ - „Na, wartet!“ - „Lajos, geschafft!“

So schwirrte es Martin um die Ohren, russisch, slowakisch, tschechisch, ungarisch, deutsch, begleitet von heftigen, ausfahrenden Bewegungen, und unversehens ertappte er sich dabei, wie er selber gestikulierte und schrie.

Die Feuertaufe! Schoss es ihm durch den Sinn. Das war unsere Feuertaufe. Die Fritzen haben uns die Weihe verpasst. Nun kann es losgehn.

Auch die anderen blieben, nachdem die Hektik sich gelegt hatte, erregt und zugleich gelockert, hochgestimmt. Keinen hielt es mehr recht auf den Bänken, und niemand dachte daran, den Schirm wieder abzuschnallen; nach der Beherrschung, der stundenlangen Erwartung, drängten nun alle zum Aufbruch, zum Sprung.

Und doch kam das Signal dann für Martin unverhofft, überraschend zeitig - kein Befehl vorerst, nur eine Geste: Der Kommandeur hob, Aufmerksamkeit gebietend, die Hand, und abermals lasen ihm die Männer den Sinn der Worte von den Lippen ab.

„Achtung! Gleich ist es so weit.“

Jetzt bemerkt auch Martin, dass die Maschine sinkt, ruckweise tiefer geht, und atemzuglang hebt es sich ihm in der Magengrube.

„He, Pilot!“, vernimmt er Sergej Michailowitsch, den Kommandeur. „Verdirb’s nicht mit uns zu guter Letzt!“

Martin verzieht das Gesicht, und Johann, ihm gegenüber, scheint gleichfalls zu lächeln; angestrengt, ein wenig gequält entblößt er die Zähne und nickt.

Alter, denkt Martin, halt die Ohren steif!

Und plötzlich wünscht er, die heisere, stets ein wenig gepresste Stimme zu hören, ein väterliches: „Bursche, Hals- und Beinbruch!“ Irgendwann öffnet sich die Luke, schiebt die Tür sich mit einem Knall in die Halterung, und frischer, kalter Wind fegt herein.

Da steht der erste bereits hinten am Ausstieg, geduckt, und der Pilot setzt zu einer Kurve an und kippt die Maschine leicht auf die rechte Seite.

Später erhascht Martin einen Blick auf die Signalfeuer unten, drei glimmende Punkte in schwarzer, unruhiger Nacht.

Er springt als drittletzter - Arme, Beine, Nacken, der gesamte Körper angespannt, und eine Weile, die ihm wie immer endlos erscheint, rauscht nur gewaltiger Sturm an seinen Ohren vorbei.

Erde, slowakischer Boden, Land, wo ich geboren bin - wie nimmst du mich auf?

2

Die Minuten zwischen Absprung und Landung, den Fall aus nächtlichem Himmel auf unbekanntes Terrain, eine Strecke im Weglosen mit unausweichlichem Ziel - diese Spanne durchlebte Martin in banger, zuversichtlicher, ungewisser Erwartung. Als der Schirm sich bereits geöffnet hatte, wie immer mit einem beruhigenden Ruck, als Martin schon im Gurtzeug hing - da erst wurde ihm erneut bewusst, dass er ja als Deutscher kam, als Angehöriger desselben Volkes, mit dem die Slowaken im Krieg standen, als einer, den seine Sprache verraten könnte.

Unsinn! sagte er sich. In einer sowjetischen Uniform vermutet keiner einen Deutschen, und mein Russisch ist gut genug. - Und wenn nun die Faschisten Fallschirmjäger absetzen, getarnt als Rotarmisten wie angeblich damals in Jugoslawien? - Quatsch! Ein Gerücht, ein Hirngespinst! Außerdem werden wir erwartet; die Signale waren für uns, eindeutig.

Die Feuer, diese drei glimmenden Punkte unten - nach ihnen hielt Martin Ausschau, seitdem er das dunkle Land unter sich sah. Einmal noch, als er bereits an der Luke stand, hatte er geglaubt, sie neben der Tragfläche wahrzunehmen; aber die Maschine, schräg und beständig kreisend und mittlerweile kaum mehr als tausend Meter hoch, war weitergeglitten und hatte das Zeichen verdeckt.

Wo die Kameraden niedergingen, die vor und nach ihm gesprungen waren, wusste Martin nicht, doch versuchte er fast bis zuletzt, die fahlen Kappen ihrer Schirme zu erkennen. Vergebens. Die Nacht ringsum war zu dunkel, der Mond offenbar hinter Wolken verborgen; denn auch die Erde, wie nah sie schon sein mochte, lag noch immer in gestaltloser Finsternis.

Bis plötzlich gewellte Schwärze auf Martin zukam.

Ein Acker! Schoss es ihm durch den Sinn.

Im nächsten Moment verspürte er bereits das Erdreich unter den Füßen, rollte, wie oft geübt, ohne sich in den Leinen zu verfangen, ab und erhob sich auf unsichere Beine und tat, hinter sich die zusammensinkende Schirmkappe, drei Schritte auf weichem, glitschigem Boden und schaute sich um.

Ein Acker, tatsächlich - feucht, nach einem Regen. Und dort drüben die Zacken, schwarz vor dem dunklen Himmel - sicher ein Wald. Von den anderen keine Spur. Weiß der Teufel, wohin sie getrieben sind.

Irgendwo oben, nur erkennbar am gedämpften, immer leiser werdenden Brummen, flog die Maschine ab.

Na denn, dachte Martin, als das Geräusch verstummt war, Kumpel, Pilot, komm gut heim!

Er stand noch eine Weile, die Hand am Auslöser der Maschinenpistole, ohne sich zu rühren, auf dem feuchten, schwärzlich glänzenden Acker. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und auch sein Gehör war angespannt. Im Blick den Waldsaum gegenüber, lauschte er in die Runde und horchte zugleich, den Atem angehalten, in sich hinein.

Und plötzlich begann in ihm etwas zu klingen, eine Melodie, und wie von selbst stellte sich ein Text ein, der Refrain zu einem Lied: Slowakei, Schwester der tschechischen Länder, Geschwisterpaar - du, mein ...

Er brach ab in Gedanken, lächelte wie ertappt und sagte sich: Heimatland! So viel Sentimentalität auf einmal!

Die Ergriffenheit blieb trotzdem, behauptete sich gegen die Selbstironie. Während Martin die Schnallen öffnete, sich vom Gurtzeug befreite, war ihm unvermindert feierlich zumute.

Gelandet, dachte er. Endlich angekommen, bereit zum Kampf, zum direkten! Nicht länger an einem Radio hocken und darauf warten, dass einem der Heimweg geebnet wird, von anderen frei geschossen, mit ihrem Blut bezahlt. Selber die Banditen vor der Knarre haben, mit ihnen abrechnen für damals, Oktober achtunddreißig, für alles! Heimkehren! - Heim?

Er stockte abermals. Die Fallschirmkappe an einem Zipfel in der Hand, raffte er in einer Wallung plötzlich die leichte, weiche Seide zusammen, wickelte sie in die Leinen, warf das Bündel samt Gurten zu Boden, hob den Fuß und trat zu.

Verflucht! Als Deutscher geboren, auf fremdem Gebiet, und - verdammt! - man hängt auch noch an diesem Land - hol’s der Teufel! - und kommt nicht los davon!

Er hielt inne, ernüchtert, beschämt, und unvermittelt vernahm er hinter sich einen Laut.

Im nächsten Atemzug unterschied er bereits Winseln, unterdrücktes Hundegeblaff und gedämpfte, befehlende Stimmen, und dann erkannte er im Schimmer des Mondes, der hinter einem Wolkenschleier schwebte, drei Männer - Slowaken offenbar, zwei große und ein untersetzter: Nebeneinander, zu ihren Füßen einen huschenden, knurrenden Schatten, kamen sie unverwandt auf Martin zu.

Bauern, stellte er fest mit einem Blick auf die Beine in Hosen aus hellem Gewebe. Bedächtig wie Bauern oder Holzfäller. - Und vorsichtig wie eine Streife, wie eine misstrauische Patrouillenkette.

Da waren sie - der Untersetzte ein Gewehr mit blinkendem Lauf in den Händen - eben in etwa zehn Schritt Entfernung stehen geblieben, und nun gewahrte Martin auch die gekerbten Hüte, die ihre Gesichter im Dunkeln hielten.

Wie Jánosiks Brüder, dachte er, abermals ergriffen, hochgestimmt. Drei Recken, der Sage entstiegen, drei Gefährten des Helden der Berge, drei Nachfahren ...

„Kto tam?“, fragte im selben Moment einer, vermutlich der Untersetzte, der mit dem Gewehr neben dem Köter. - „Wer dort?“

Sie haben dich russisch angerufen! Schoss es Martin durch den Sinn. Oder slowakisch - egal; Hauptsache, sie wittern in dir nicht gleich den Deutschen.

Und erfreut über dieses günstige Zeichen, gab er sich als sowjetischer Partisan zu erkennen, und während er auf sie zulief und sie ihm entgegenkamen und der Hund sie alle kläffend umsprang, redete Martin, nun doch erregt, etwas vom Flugzeug, das längst wieder fort sei, von Signalfeuern, von vielen Kameraden und wies dabei zum Himmel und zugleich in die Runde, fragend, unbestimmt.

„Dobrý, dobry!“ - „Gut, gut!“, beteuerte der Untersetzte beschwichtigend. Die anderen seien wahrscheinlich auf der Flur eines Nachbardorfes gelandet.

Und dann packte er Martins Hand, dieselbe, die vor wenigen Sekunden noch auf dem Auslöser der Maschinenpistole geruht hatte, schüttelte sie, hieß den „Towarisch Partizán“ willkommen auf slowakischem Boden, und plötzlich umarmte er Martin, klopfte ihm auf den Rücken, wobei die Waffen, das Gewehr und die MPi, klirrend aneinanderstießen.

„Dobrý! - Charascho!“

Auch die beiden Hageren, ein Älterer und ein Junger, offenbar Vater und Sohn, begrüßten Martin, und der Jüngere erklärte, sie seien gleichfalls Partisanen, slowakische Partisanen - Gruppe „Tod den Okkupanten!“

„Euer Lager“, erkundigte sich Martin, wobei er das tschechische Wort benutzte, im Unklaren, ob es dem slowakischen glich, „befindet sich euer Lager hier in der Nähe?“

„Tábor?“, wiederholte der junge Partisan. Sie hielten sich meist daheim auf, im Dorf. Dort drüben ...

Er wies dabei auf eine Bodenwelle, die dem Waldstreifen gegenüberlag - die Richtung, aus der sie gekommen waren, aus der gerade, vom Hund neben ihnen eifersüchtig erwidert, gedämpftes Bellen drang.

„Gehn wir!“, sagte der Untersetzte, und er bedeutete Martin, dass es Zeit zum Schlafen sei.

„Moment!“, rief der Junge. Mit ein paar Schritten war er beim Fallschirm, dessen Kappe sich fahl vom schwarzen, matt glänzenden Acker abhob, und ebenso rasch kehrte er, das Bündel unterm Arm, zurück.

„Ladislav!“, begann, in der Stimme unüberhörbarer Tadel, sein Vater.

„Horák, lass ihn doch!“, bat der Untersetzte, und an Martin gewandt, fügte er entschuldigend hinzu, Laco sei halt noch ein wenig - unerfahren.

„Seide“, erklärte indessen der junge Partisan beschwörend, eifrig, „echte Fallschirmseide ist ausgezeichnet für Hemden, für - alles Mögliche!“

„Pass nur auf“, versetzte der Alte, „dass ich diese Susa nicht in einer Bluse aus deiner Fallschirmseide erwisch!“

Der Junge zuckte die Schultern, verlegen und aufsässig zugleich.

„Jammerschade“, sagte er, Martin im Blick, „so was zu vergraben, in den Boden zu stampfen.“

„Hast recht“, erwiderte Martin. „Meinetwegen kannst du ihn behalten.“

Auch der Untersetzte nickte und brummte etwas von einer Vorschrift, kehrte sich nach einer Geste, die weitere Debatten abschnitt, um und schritt los, dem Hund, der vorauslief, der immer wieder winselnd stehen blieb, hinterher.

Martin folgte, in die Mitte genommen, die Maschinenpistole nach wie vor am Riemen vor der Brust und die Hand unwillkürlich in Nähe des Auslösers. Als ihm das bewusst wurde, hob er die Schlaufe über den Kopf und hängte sie über die Schulter. Und veränderte nach ein paar Schritten die Lage der Waffe erneut: drehte sie, sodass sie nun - wie vor ihm das Gewehr des Untersetzten - mit dem Lauf nach unten wies.

Währenddessen hatten sie den Acker verlassen und einen flachen, stellenweise buschbestandenen Bergwall erstiegen. Der Mond über ihnen verschwand von Zeit zu Zeit hinter Wolkenfetzen. Als er wieder einmal in eine Lücke trat, fiel sein Licht auf ein Dutzend schräger, matt glänzender Dächer zu ihren Füßen - eins neben dem andern, zwei Zeilen in einem schmalen Längstal, das am Hang gegenüber von Hochwald, offenbar Fichten, wie von einer Mauer begrenzt wurde.

„Das Dorf“, sagte Laco, der hinter Martin stehen geblieben war. „Unser Dorf!“

„Kommt endlich!“, rief der Untersetzte den Hügel herauf. „Sie warten schon.“

Auch diesmal hatte Martin nicht jedes Wort, wohl aber den Sinn verstanden, und doch war er dann überrascht, erfreut und gerührt.

Vor den Häusern, hier und da mit einem flackernden Kienspan über dem Kopf, standen - ein tuschelndes Spalier - Mädchen und Frauen, Männer, Halbwüchsige und Greise, und neben ihnen, seitlich der Rinnen eines ausgewaschenen Weges, drängte sich, eigenartig zurückhaltend, wenigstens ein halbes Dutzend Hunde.

Das gesamte Dorf - zu meinem Empfang: jetzt, weit nach Mitternacht!

Unfähig, Worte zu äußern, trat Martin zur ersten Tür, drückte er, gleichfalls stumm, auch vor der zweiten die Hände.

„He, russischer Partisan, mein Junge, komm!“, lässt sich im nächsten Moment eine dünne Frauenstimme vernehmen, und ein Mütterchen, gekrümmt, ein Tuch tief in die Stirn gebunden, legt Martin den Arm um den Nacken, zieht den Kopf zu sich herab und berührt ihn flüchtig mit ihrer Wange.

„Die Johanka!“- „Habt ihr das gesehn?“ - „Ruhe!“ - „Nicht zu glauben!“ - „Ach, ihr Affen ...“ - „Nein, die Johanka!“ -„Ruhe!“

Wie sehr sich auch der Untersetzte um Aufmerksamkeit, um Ordnung bemüht - die meisten rufen, lachen, kichern, schreien nun durcheinander, dringen auf Martin ein, und die Hunde, ein aufgescheuchtes Rudel, springen kläffend, übermütig zwischen den Gruppen umher, und über allem schwanken die qualmenden Kienspäne.

Nichts zu machen, bedeutet der Untersetzte.

Alles in Ordnung, erwidert Martin in gleicher Weise.

Und dann ist die stürmische Begrüßung vorbei, und irgendwoher tauchen plötzlich ein Tisch auf und Hocker, und eine Frau bringt auf einem Brett eine Flasche und Gläser und Teller mit Brot und Speck und Käse, und Martin leert seine Taschen, lässt drei Päckchen Zigaretten, seine Reiseration, herumgehen und brennt sich selber die erste slowakische „Detva“ an ...

„Sa wasche sdorowje!“, erklärt er, bedeute dasselbe wie: „Na vase zdravie!“ - „Auf Ihre Gesundheit!“

Den deutschen Wortlaut behält er für sich, und auch sonst verrät er sich nicht. Überhaupt wird er an seine Herkunft nur einmal erinnert in dieser Nacht an der Tafel unter freiem, fleckig bewölktem Himmel.

Da ist längst die erste Flasche geleert, und die meisten Umstehenden sind schon gegangen, und sogar die Frage des Quartiers hat der Untersetzte bereits gelöst, mit befehlsgewohnter Stimme zu seinen Gunsten entschieden: „Schluss nun! Matka, richte das Bett! Wir schlafen auf dem Heuboden!“

„Wie heißt eigentlich unser Gast?“, fragt im nächsten Moment Johanka, die Alte, die bei der Begrüßung den Bann gebrochen hat, die Martin nun in Verwirrung stürzt, einen Atemzug lang in Schrecken. Dann ist die Verlegenheit überwunden, die Scheu, die Scham.

„Martin“, wiederholt die Alte sinnend. „Ein schöner, ein slowakischer Name. Wie Svätý Martin, der Heilige …“

Schweiger, Martin Schweiger, der Deutsche, nickt. Den Irrtum aufzuklären, bringt er nicht übers Herz, und gleich darauf ist die Gelegenheit vorbei, die erste dieser Art auf slowakischem Boden.

3

Noch im Traum oder erst beim Erwachen - Martin wusste nicht, wann Kati ihm erschienen war. Als er, schwebend zwischen Dämmer und Klarheit, die Lider hob, als er die Helligkeit vor dem winzigen Fenster wahrnahm, kurz bevor ihm bewusst wurde, wo er sich befand - in dieser flüchtigen und kostbaren Spanne glaubte er, die Geliebte bei sich zu haben, an seiner Seite, nah und untrennbar.

Bereits im nächsten Augenblick war ihm der Irrtum klar, und einen Atemzug lang befiel ihn ein dumpfes, bedrückendes Gefühl.

Was soll’s? fragte er sich, indem er die Decke zurückschlug, sich von dem weichen, ein wenig stockigen Lager erhob. Sie ist in Sicherheit, und hier - wer weiß, was sie daheim erwarten würde?

Seitdem er, leicht gebückt in der niedrigen Stube, auf beiden Beinen stand, war ihm seine Lage wieder voll gegenwärtig, und während er sich mit dem bereitgestellten Wasser in einer Schüssel wusch und sich anzog, ließ er in Gedanken noch einmal die Ereignisse der letzten Nacht vorbeiziehn. Der Absprung, die Begrüßung auf dem Acker, die herzliche Aufnahme im Dorf - das alles tauchte auf, gewiss, und doch verschwamm es bald, verdrängt von einem anderen Bild, von den forschenden oder bloß neugierigen Augen der Alten, vom Blick dieser Johanka nach ihrer Frage: „Wie heißt eigentlich unser Gast?“

Ob sie was ahnt? überlegte Martin. Sie oder ein anderer?

Und wenn auch, sagte er sich gleich, vorzuwerfen habe ich mir nichts. Höchstens, dass ich geschwiegen habe zu der Bemerkung vom heiligen Martin.

Er lächelte, unsicher, ob er belustigt oder gerührt sein sollte, und mit einem Seufzer nahm er die Schüssel vom Hocker und trug sie zur Tür.

Wahrscheinlich, ging es ihm durch den Sinn, habe ich Grund für beides: für Rührung wie für Verwunderung. Überhaupt sieht halt in der Wirklichkeit alles ein wenig anders aus, menschlicher eben. Tu was dagegen! Auch dir geht ja deine Kati nicht aus dem Kopf, dem Auftrag zum Trotz.

„Na, wie geruht?“, ließ sich unvermittelt eine Männerstimme vernehmen, und eine Frau erkundigte sich: „Ist er schon auf?“

Der Untersetzte, der neben der Dachtraufe auf einem umgekippten Hackklotz saß, brummte etwas über die Schulter und bedeutete Martin, das Wasser ruhig auf den Weg zu kippen. Und rückte dann zur Seite und lud mit einer Geste den Gast zum Platznehmen ein.

Martin gab ihm die Hand und begrüßte mit einem Zuruf auch die Hausfrau, die gerade in einem schuppenartigen Anbau, offenbar dem Stall, eine Ziege molk.

„Einen Moment noch!“, rief sie. „Gleich gibt es frische Milch zum Frühstück.“

„Rauchen wir inzwischen eine!“, schlug der Hausherr vor, sagte er, wie Martin plötzlich auffiel, auf tschechisch.

Er hielt dem Gast eine Schachtel „Detva“ hin, bediente sich selbst und schwieg dann, stieß nur von Zeit zu Zeit den Rauch aus, hörbar.

Martin, hellwach, tat es ihm gleich, bis ihn unversehens zu frösteln begann.

„Kühl hier“, sagte er, ebenfalls tschechisch.

Der Untersetzte schien es zu bemerken, doch im selben Augenblick verließ seine Frau, den Melktopf in der Hand, den Stall, und eine Weile wurde das Gespräch slowakisch und russisch fortgesetzt.

Bis die Hausfrau hinter der Tür verschwunden war, um den Tisch zu decken, und der Untersetzte, scheinbar absichtslos, wieder zum Tschechisch überwechselte.

„Übrigens, deine Kameraden sind drüben bei Staré Miesto gelandet - ein, zwei Kilometer von hier.“

„Ist ja wunderbar!“, rief Martin. „Da werd ich bald mal losgehn. - Woher weißt du’s eigentlich?“

„Laco - du kennst ihn - antwortete der Untersetzte, „der Junge war dort, heute Nacht mit deinem Fallschirm, mit der Seide bei seiner Susa; er hat’s mir vorhin erzählt.“

Martin nickte, nickte mehrmals und dachte: Na und? Was noch? „Scheint ja eine ziemlich bunte Truppe zu sein, eure Einheit“, sagte der Untersetzte nach einem tiefen Zug aus der fast aufgerauchten Zigarette. „Russen, Ukrainer, Slowaken, Tschechen, Ungarn. Und angeblich sogar ein Deutscher?“

„Johann“, bestätigte Martin. „Er heißt Johann Schlichter. - Übrigens“, fügte er hinzu, im Blick, ohne ihn wahrzunehmen, den glimmenden Stummel in seiner Hand, „auch ich bin Deutscher; ich komme aus einem Dorf bei Liberec.“

Er hielt inne, hielt den Atem an.

Und nahm wahr, wie neben ihm der Untersetzte den Rest seiner Zigarette ausdrückte, sich räusperte, wie er, um Beiläufigkeit bemüht, begann.

„Liberec, Nordböhmen ... Muss eine schöne Gegend sein, landschaftlich und so. - Auch sonst: die ,Reichenberger Linke‘ hat immmerhin unsere Partei mitbegründet. Und wir haben dem Henlein mehr als einen Haken verpasst: mit der ,Linken‘ - was?“

„Und ob!“, fiel Martin ein, erleichtert, und angesteckt von dem unverhofften Heiterkeitsausbruch, schmiss er das heiße Zigarettenende übermütig mitten auf den Dorfweg. „Und ob wir’s ihnen gegeben haben, die Tschechen und wir!“

„Stimmt schon“, sagte, plötzlich wieder ernst, der Untersetzte, „in solchen Zeiten müssen wir Proleten zusammenhalten. Gut, dass ihr jetzt hier seid; denn bei uns sieht’s nicht gerade rosig aus: Der Westen und die ganze Ostslowakei - verloren. Die Hunde, sie nehmen uns in die Zange, und die Karpatenoffensive stockt. Aber das weißt du ja sicher selbst.“

Martin nickte. „Wenigstens ist Dukla gefallen, die Stadt“, sagte er. „Hoffentlich kommen die Unsern nun auch bald über den Pass!“

„Hoffentlich!“

Der Untersetzte seufzte, erhob sich, ging ein paar Schritte zur Tür. Und stockte vor der Schwelle, blieb stehn.

„Was ich noch sagen wollte: Der Laco ahnt nichts, und auch die Frau braucht nichts zu erfahren. Keiner im Dorf! Sie alle sind gut auf ihre Art, die meisten aber in diesen Dingen ein bisschen - unerfahren. Klar?“

Dankbar nickte Martin, und von da an sprachen sie wieder die Mischung aus Slowakisch und Russisch, wortkarg geworden, nachdenklich, nachdem das Wichtigste gesagt war.

So machten sie Frühstück - Brot mit Butter und Käse, mit Speck, heißem Kräutertee und Milch -, und so brachen sie auf.

Beim Abschied fuhr sich die Hausfrau plötzlich mit einem Zipfel des Kopftuchs über die Augen.

„Wie unser Josko, damals ...“

Sie brach ab, lief schluchzend zurück ins Haus, verschwand im Dämmer der niedrigen Stube.

„Komm!“, sagte der Untersetzte rau, und er ging, den Nacken seltsam steif, voraus. Und blieb schweigsam, auch als Martin zerstreut hier und da eine Hand drückte, mit ein paar Worten, einem mühsamen Scherz, einem Gruß sich verabschiedete von den Nachbarn, meist alten Leuten, von allen, denen sie begegneten.

Und dann lag die letzte Behausung - blockhüttenartig wie die anderen, das Dach wie ein Kopftuch tief herabgezogen - in ihrem Rücken, und der Weg, nicht mehr und nicht minder als vorher zerfurcht, von Gewittergüssen ausgewaschen, wand sich vor ihren Füßen neben einem Bach nordostwärts. Irgendwo rechts von ihnen stand die Sonne, abgewehrt von jenem Berg mit den Palisaden des Hochwalds, den Martin bereits während der Nacht wahrgenommen hatte. Am Nachmittag würde es ihr vielleicht gelingen, einen flüchtigen Blick in dieses Tal zu werfen, einen herbstmatten Strahl, aber jetzt war es kühl hier unten, kalt wie in einem Keller und modrig.

„Im Dezember“, sagte Martin wie in Gedanken, „wenn’s schneit, in einem strengen Winter - da müsst ihr ja ziemlich abgeschnitten sein.“

„Im Dezember?“, erwiderte der Untersetzte, als habe er auf dieses Stichwort gewartet. „Manchmal fällt schon im Oktober der erste Schnee, und von da an - Kälte, Nässe, Trostlosigkeit …“

Er verstummte, jäh, wie er begonnen hatte, um den Mund den gleichen Zug wie nach dem Ausbruch seiner Frau. Und fing dann zu reden an, abgehackt, bitter, untröstlich.