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Maria Seidemann

Pia und die Graffiti-Geister

ISBN 978-3-95655-161-1 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 2004 im Deutschen Taschenbuchverlag München.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Ein Polizist steht vor der Tür

Am Nachmittag brachten wir Mama zum Bahnhof. Als der Zug abgefahren war, sagte Papa: »Das wird bestimmt eine furchtbare Woche!«

Patrick meinte: »Wieso? Wir haben doch alles besprochen. Ich mache jeden Tag ein bisschen sauber. Pia kocht. Und du gehst in deine Schule wie immer! Alles total normal!«

Papa seufzte und schob uns ins Auto. Er setzte Patrick bei seinem Sportverein ab und mich vor unserer Wohnung. Dann musste er in die Schule zur Elternversammlung.

Als er gegen neun Uhr zurückkam, war Patrick noch nicht zu Hause.

Papa sagte mit seiner strengsten Lehrerstimme, er hätte es ja gleich gewusst, dass hier alles aus dem Ruder laufen würde, und er wollte auf der Stelle Mama anrufen.

»Stopp!«, rief ich. »Mamas Lehrgang fängt morgen früh an. Wenn du sie jetzt anrufst, dann setzt sie sich in den nächsten Zug und lässt den Lehrgang sausen!«

»Du hast Recht, Pia!«, sagte Papa. »Und ohne den Lehrgang bekommt sie die neue Arbeitsstelle nicht.«

Da klingelte es. Vor unserer Wohnungstür stand ein Polizist.

Papa ahnte sofort, dass der Mann nicht nur nach der Uhrzeit fragen wollte.

»Patrick? ... Was ist passiert?!«

»Polizeiobermeister Kröber!«, sagte der Polizist und tippte an seine Mütze. »Sind Sie der Vater von Patrick Petersen? Ihr Sohn wurde bei einer Straftat ertappt.«

»Was - was?«, stammelte Papa. »Was denn für eine Straftat??«

»Ihr Sohn hat die frisch restaurierte Mauer des Alten Friedhofs mit Sprühfarbe verunziert.«

»Wo ist mein Sohn?«, fragte Papa. »Sie können doch ein Kind nicht die ganze Nacht auf der Wache behalten - wegen einer Farbschmiererei?!«

»Ihr Sohn ist im Krankenhaus!«, sagte Kröber.

»Das sagen Sie mir erst jetzt?« Papa musste sich hinsetzen. »Was haben Sie mit Patrick gemacht?«

»Ich habe gar nichts mit ihm gemacht! Ihr Sohn hat sich der Festnahme widersetzt. Bei seinem Fluchtversuch ist er unglücklich gestürzt.«

»Was heißt denn das: Er hat sich widersetzt?«, hakte ich nach.

»Ja - also, es kam zu tätlichen Auseinandersetzungen.«

»Sie haben meinen Sohn geschlagen?«, rief Papa empört.

»Na hören Sie mal!« Kröber war beleidigt. »Ich schlage nicht mal meine eigenen Kinder! Ihr Sohn wollte weglaufen und ist auf der Treppe am Kirchberg gestolpert. Er hat sich ein Bein gebrochen!«

Papa hatte schon den Hörer in der Hand, um das Krankenhaus anzurufen.

Ich dachte: Irgendwas stimmt hier nicht. Patrick hat noch nie Farbdosen gehabt. Und das Graffiti hatte ich doch schon in der vorigen Woche an der Friedhofsmauer gesehen. Dieser Kröber log wie gedruckt!

Kröber sagte: »Also, Sie wissen ja jetzt Bescheid. Haben Sie noch Fragen zur Straftat Ihres Sohnes?«

Papa sprach mit der Unfallstation und antwortete ihm nicht. Ich schob Kröber zur Tür hinaus.

Patrick redet irre und Pia lügt

Papa zerrte seine alte Reisetasche aus dem Schrank und packte stapelweise Schlafanzüge für Patrick ein. Ich steckte Patricks Zahnbürste und seine neuen Comics in meinen Rucksack, dazu den Stoffhund Bonzo, ohne den Patrick nicht einschlafen kann - auch wenn das niemand wissen darf, weil Patrick schon fast dreizehn ist.

Wir fuhren ins Krankenhaus. Sie ließen uns zu Patrick, obwohl es schon nach zehn Uhr war. Aber das zweite Bett in Patricks Krankenzimmer war leer, sodass wir niemanden stören konnten. Und Patrick war sowieso wach. Sein linkes Bein war bis übers Knie eingegipst und an einer Art Galgen über dem Bett aufgehängt, sodass er nur auf dem Rücken liegen konnte. Patrick schlief sonst nie auf dem Rücken, sondern immer nur auf der Seite, mit Bonzo im Arm.

»Mensch, Patrick«, murmelte Papa. »Was war denn los auf dem Friedhof? Hast du Schmerzen? Was hast du dir nur dabei gedacht?«

Das ist Papas typische Lehrer-Standardfrage: Was hast du dir dabei gedacht? In einem Ton, der sagen soll: Du hast natürlich wieder mal überhaupt nicht gedacht.

Patrick sagte: »Ich weiß gar nicht genau, wie das alles passiert ist. Ich bin bewusstlos gewesen, und als ich aufwachte, war ich im Krankenhaus.«

»Du hast die Friedhofsmauer mit Sprühfarben verschandelt«, sagte Papa unglücklich. »Dabei weißt du doch genau, dass der Alte Friedhof auf die Denkmalliste soll! Herr Kröber hat dich erwischt und wollte dich mit auf die Wache nehmen. Du hast dich gewehrt und bist bei deinem Fluchtversuch die Treppe runtergefallen.«

»Fluchtversuch? Der spinnt doch! Und du glaubst das auch noch?« Empört versuchte Patrick sich aufzusetzen, was aber wegen der Galgenmaschine nicht ging. »Er hat mich gepackt und geschüttelt und mich zur Treppe geschleift und danach weiß ich nichts mehr.«

»Das Bild war doch schon seit drei Tagen an der Mauer!«, sagte ich. »Kröber kann dich also heute gar nicht erwischt haben.«

Ich holte Bonzo aus dem Rucksack und drückte ihn Patrick in die Hand. Er presste den Stoffhund an seine Brust und dabei hatte er plötzlich Tränen in den Augen.

»Patrick!«, sagte Papa ernst. »Wenn du die Mauer besprüht hast, musst du zu deiner Tat stehen.«

»Das Bild ist nicht von mir!« Patrick wischte sich die Tränen ab. »Ich schwöre! Ich wollte nur ...«

Ich kann meinen großen Bruder nicht heulen sehen. »Papa, lass Patrick in Ruhe! Er braucht jetzt unsere Hilfe!«

Aber Papa konnte es nicht lassen. »Was hattest du denn abends an der Friedhofsmauer zu suchen? Herr Kröber behauptet jedenfalls, er hätte dich beim Sprühen erwischt!«

»Die Lady hatte keine Füße«, schluchzte Patrick. »Und Zorro war blind. Der Leuchtende Wolf hatte kein Maul, deswegen konnte er nichts sagen. Aber wie er mich angeguckt hat ...«

Papa wurde blass. »Ist gut, mein Junge, sei still. Wir reden später drüber. Komm, Pia! Patrick braucht jetzt Ruhe. Und ich will sofort mit dem Arzt sprechen.«

»Papa, du musst mir glauben«, sagte Patrick leise. »Das Bild hat jemand anderes gesprüht. Die Dosen hab ich auf dem Friedhof gefunden, als wir mit unserer Klasse die alten Steinfiguren sauber gemacht haben. Ich wollte doch nur die fehlenden Körperteile ergänzen, damit Zorro und die Lady nicht so unglücklich sind.«

»Was?!« Papa starrte Patrick entsetzt an.

»Die Figuren auf dem Graffiti leben, wirklich! Sie haben mit mir gesprochen, ob ihr das glaubt oder nicht.«

»Mein Junge, das kommt alles wieder in Ordnung!« Papas Stimme zitterte. »Bleib ruhig, schlaf jetzt. Morgen sieht alles schon ganz anders aus.« Er rannte auf den Gang und rief nach der Schwester.

»Pia«, sagte Patrick, »glaubst du mir wenigstens, dass die Figuren auf dem Friedhofsbild mit mir geredet haben?«

»Klar«, antwortete ich möglichst cool. »Und wenn der Kröber Schuld hat an deinem gebrochenen Bein, dann kriegt er eine saftige Strafe und nicht du, dafür werd ich sorgen! Versprochen!«

»Danke, Pia!«, seufzte Patrick und schloss die Augen. Er sah plötzlich richtig krank aus. Ich schlich hinaus.

Am Ende des Flures verhandelte Papa mit einem jungen Mann im weißen Kittel. Der Arzt beteuerte, Patrick hätte außer dem Beinbruch nur eine ganz leichte Gehirnerschütterung.

»Aber er redet irre!«, stöhnte Papa. »Kommt das wieder in Ordnung?«

Der Arzt guckte verdutzt und ich fürchtete plötzlich, dass Patrick vielleicht noch mehr Schwierigkeiten bekommen würde, wenn der Arzt Papas Worten glaubte.

Aber der Doktor meinte, wir sollten uns keine Sorgen machen. Angehörige von Unfallopfern würden immer zur Panik neigen.

Bei dem Wort Unfallopfer zuckte Papa zusammen. »Wie soll ich das nur meiner Frau beibringen!«, jammerte er.

»Beruhigen Sie sich«, sagte der Arzt. »In einer Woche können Sie Ihren Sohn wahrscheinlich schon nach Hause holen.«

Als wir draußen ins Auto stiegen, schlug ich vor, dass wir Mama lieber nicht anrufen sollten. »Sie erfährt ja alles, wenn sie nach ihrem Lehrgang heimkommt. Bestimmt ist Patrick dann schon aus dem Krankenhaus entlassen worden.«

»Unmöglich! Wir können ihr Patricks Unfall nicht verheimlichen.«

»Das war kein Unfall, sondern Körperverletzung«, sagte ich. »Und wenn Mama das hört, lässt sie ihren Kurs sausen und kommt sofort zurück!«

»Könnte sein ...«, murmelte Papa.

»Und dann kann sie den neuen Job in der Bank vergessen! Das willst du doch nicht, oder?«

Nein, das wollte Papa nicht.