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Jutta Schlott

Klare Verhältnisse

Erzählungen

978-3-95655-092-8 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1989 im Verlag Neues Leben Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Peter Festersen
 

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Meilenweit

Wenn Evelyn Vitense, was sie selten tat, über ihr Leben nachdachte, erschien es ihr als eine notwendige und logische Folge von Jahren und Ereignissen. Die Entscheidungen, die sie hatte treffen müssen, waren nicht von Zweifeln überschattet. So und nicht anders hatte es kommen müssen, und es war müßig, darüber nachzudenken, ob es je andere Möglichkeiten gegeben hatte.

Sie war das späte und einzige Kind des Stellmachermeisters Karl Vitense und seiner Frau Marga. Des Meisters Lebensmaxime war es, aus jeder Lage das Beste hervorzukehren, und er nahm es als Bestätigung dieser Haltung, dass ihn sein durch Kinderlähmung verkürztes Bein davor bewahrte, in den Krieg zu müssen.

Karl Vitense ging auf sein fünfzigstes zu, als seine um zehn Jahre jüngere Frau nach zwanzig Jahren Ehe schwanger wurde. Sie gerieten darüber in Verwirrung, sie hatten seit Langem nicht mehr mit einem Kind gerechnet. Einmal, zaghaft, zogen sie in Erwägung, es nicht auf die Welt kommen zu lassen. Sie rechneten sich ihr Alter aus, wenn es zehn, wenn es zwanzig Jahre alt sein würde, dazu die unsicheren Zeiten.

Sie verwarfen den Gedanken, kaum dass sie ihn weitschweifig umschrieben geäußert hatten. Es gab so viel Sterben ringsum, warum sollten sie sich Schuld aufladen und Leben verhindern. Ohnehin hatten sie in ihren ersten Ehejahren ihre Zukunft stets für ein, zwei Kinder mitgedacht. Das bescheidene Unternehmen warf genügend ab, und da Karl Vitense auch die Särge für die zimmerte, die in dem kleinen märkischen Dorf begraben wurden, war nicht zu befürchten, dass es einmal nicht florierte.

Das Mädchen wurde im letzten Kriegsjahr geboren, aber als es seinen ersten Schrei tat, war schon eine Woche Frieden, und die Vitenses nahmen es als gutes Omen. Sie erwarteten, dass das Mädchen den Eltern gleich ein stilles, blondes Kind sein würde. Evelyn kam mit den für Neugeborene seltenen langen, schwarzen Haaren auf die Welt. Zwar fielen sie nach einigen Wochen aus, es wuchsen ihr aber genauso dunkle nach.

Die nicht mehr jungen Eltern erzogen das zierliche Mädchen — wie ihnen schien — im ausgewogenen Maß von Güte und Strenge und ohne sie mit überschwänglicher Zärtlichkeit zu erdrücken. Marga erinnerte sich, da das Kind oft so ungebärdig und wild reagierte, an die Geschichten über die Schwester ihrer Großmutter, die in der Familie erzählt wurden. Auch sie sei schwarz und launisch gewesen und schließlich mit einem französischen Soldaten auf und davon.

Das Mädchen hieß im Dorf die wilde Evi. An der Schule zeigte sie kaum Interesse, aber auch sonst kein ausgeprägtes anderes. Sie tobte mit den Jungen aus der Nachbarschaft und fürchtete sich nicht, allein in den Kiefernwald zu gehen und dort Himbeeren oder Pilze zu sammeln.

Evelyn, als sie älter wurde, suchte oft die Gesellschaft der Haushälterin Dora. Sie war eine Frau von unbestimmbarem Alter, die nach Evelyns Geburt in das Bodenzimmer einzog und bald anstelle der immer häufiger kränkelnden Frau den Haushalt in der Hand hatte. Dora war nie laut, aber resolut und genau. Sie duldete nicht, dass ihr Evelyn auf der Nase herumtanzte, wie sie es mit den Eltern oft tat. Dora sah unerbittlich darauf, dass das Mädchen seine kleinen Pflichten erfüllte.

Die unscheinbare Frau, eher verschlossen als redselig, antwortete Evelyn auf jede Frage, die sie beantworten konnte. Sie erklärte ihr ohne Umschweife das Warum, als das Kind Hunde sich paaren sah, und ließ sie wissen, was ein Mädchen über sich selbst erfahren musste.

Den Wünschen der Eltern war die Heranwachsende fast ganz entglitten. Sie hätten es gern gesehen, wenn Evelyn in der Kreisstadt Friseurin gelernt hätte oder Textilverkäuferin. Das Mädchen hatte aber sofort — und ohne vorher Vater und Mutter um Erlaubnis zu bitten — zugesagt, als in der Abgängerklasse für landwirtschaftliche Berufe geworben wurde. Geflügelzüchterin schien ihr ein passabler Beruf, und den Ausschlag gab, dass das Gut, auf dem sie lernen sollte, weit im Norden, schon im Mecklenburgischen lag.

Die Eltern wussten um die wahre Ursache ihres Entschlusses. Das Mädchen wollte weg aus der Stille des Elternhauses, die nur von den entfernten sanften Geräuschen aus der Werkstatt des Vaters und abends durch die des Fernsehers unterbrochen wurde. Nach kurzem, heftigem Kampf gaben die Eltern auf. Aber auch Dora billigte ihren Entschluss nicht. Sie redete auf Evelyn ein, dass diese Verantwortung für ihre Eltern trage, und ähnliche altmodische und unverständliche Dinge, die Evelyn nicht begriff und nicht begreifen wollte.

Evelyns Auszug aus dem elterlichen Haus einen Tag vor Lehrbeginn war ein endgültiger, das wussten alle Beteiligten. Dora zeigte offen ihre Verärgerung.

Evelyn wusste, dass sie den Eltern wehtat. Sie ahnte aber auch die uneingestandene Befriedigung der alternden Leute, dass Stille und Geruhsamkeit in ihr Leben zurückkehren würden. Das machte die Halbwüchsige trotzig, und sie gab den Eltern schuld, dass es so war.

Vom ersten Tag ihrer Lehrzeit an wusste Evelyn, dass sie sich richtig entschieden hatte. Die Anfangsschwierigkeiten der Mädchen, mit denen sie zusammen wohnte, waren ihr fremd. Ohne Mühe vergaß sie, wie sie bis jetzt gelebt hatte. Das eigene Zimmer vermisste sie nicht. Sie fühlte sich wohl in dem engen Miteinander der Zimmergenossinnen und holte auf, was ihr die Kindheit an Geschwistern und Gleichaltrigen vorenthalten hatte.

An den Heimfahrtswochenenden fuhr sie auch lieber mit einem der Mädchen nach Hause, als dass sie in das ruhige Stellmacherhaus ihrer Eltern zurückgekehrt wäre. Dort zu sein machte sie verlegen und beklommen. Alles ging bei ihnen fast geräuschlos vonstatten, und die Eltern brauchten kaum noch Worte, um sich zu verständigen. Wenn nicht gearbeitet wurde, hingen sie ihren Gedanken nach, oder der Fernseher lief.

Evelyn, die Turbulenz des Wohnheims gewöhnt, fand nichts, worüber sie gemeinsam hätten sprechen können. Was sie unter den Lehrlingen bewegte, hatte nichts mit den Eltern zu tun. Das Haus schien ihr doppelt leer, seit Dora nicht mehr hier lebte. Die Eltern wollten sie halten, aber Dora hatte entschieden alle Angebote abgelehnt und sich in dem Jahr, als Evelyn ihr Lehre begann, als Gehilfin bei der Gemeindeschwester einstellen lassen. Kurz nach Weihnachten war sie aus dem Stellmacherhaus ausgezogen. Aus einem Grund, den sie selber nicht nennen konnte, nahm Evelyn ihr das übel, und während der seltenen Besuche im Heimatort konnte sie sich nicht ein einziges Mal entschließen, zu ihr hinzugehen.

Wie in der Schule gehörte Evelyn auch in der Lehre zu den Mittelmäßigen. Was mit den Tieren und dem Praktischen zu tun hatte, erledigte sie bereitwillig und anstellig. Im Theoretischen sah sie keinen Nutzen. Sie blieb die wilde Evi, wenn sie jetzt auch die schicke Abkürzung Ev vorzog. Sie lachte gern und war schlagfertig, das machte sie bei Jungen und Mädchen gleichermaßen beliebt.

Evelyn waren die Abende, die sie in Gesellschaft der anderen Lehrlinge verbrachte, die liebsten.

Sie fuhren im Sommer mit Fahrrädern zum See. Im Winter saßen sie im Fernsehraum zusammen; weniger um ein Programm zu sehen, als sich zu unterhalten.

Evelyn hatte sich keinem Mädchen enger angeschlossen, hatte aber auch keinen Freund, wie es spätestens in der zweiten Hälfte des ersten Lehrjahres allgemein üblich war. Es bot sich von allein keine Gelegenheit, dass sie mit einem ging, wie es unter ihnen hieß. Es schien ihr ein Verlust, wegen der eifersüchtigen Freundschaft einer oder eines einzigen das Zusammensein mit den anderen aufzugeben.

Sie fragte ihre Gefährten nach Eltern, Geschwistern, nach den Städten und Dörfern aus, in denen sie aufgewachsen waren. Oft glaubte sie, einzig ihr Leben sei eintönig und fade verlaufen, das der anderen aber von Geheimnissen und Abenteuern umglänzt.

Da man sie mochte und die Ausbilder wussten, dass sie arbeiten konnte, gehörte sie zu den ersten, denen günstige Angebote von den Genossenschaften vorgelegt wurden. Sie entschloss sich, einen Vorvertrag mit einem jungen Betrieb, der noch aufgebaut wurde und eher einer Fabrik als einem Hühnerstall ähneln sollte, zu unterschreiben. Die neue Arbeitsstelle war nicht sehr entfernt. Man hatte ihr ein Zimmer im betriebseigenen Wohnheim angeboten, das sie mit einem anderen Mädchen teilen sollte. Die Aussicht gefiel ihr. Am ehesten schien sie so ihr jetziges Leben weiterführen zu können.

Im Mai wurde sie achtzehn. Von den Eltern kam einige Tage vorher eine Geldanweisung mit hundert Mark zusätzlich; das hieß, dass sie nicht unbedingt zu Hause erwartet wurde. Sie kaufte sich eine neue Bluse und lud für den Rest des Geldes die Mädchen aus ihrem Zimmer und ein paar Jungen, mit denen sie in den letzten Wochen zusammengearbeitet hatte, am Sonnabend ins Kulturhaus ein.

Auf dem Rückweg, man ging eine halbe Stunde bis ins Lehrlingsheim, blieb sie mit Gerhard Werner hinter den anderen zurück. Anfangs redeten sie unbefangen miteinander. Als ihnen bewusst wurde, dass sie beide allein waren, stockte das Gespräch, und schließlich schwiegen sie. Gerhard sah sich um und griff nach ihrer Hand. Er redete wirres Zeug, das er irgendwo aufgeschnappt haben musste. Evelyn fand es komisch: aber dass er sie berührte, war ihr nicht unangenehm.

Am Wohnheim versuchte Gerhard, sie mit leisen, zärtlichen Worten, die seine eigenen waren, zu überreden, mit zu ihm ins Zimmer zu kommen. Er wohnte mit drei Jungen aus dem ersten Lehrjahr zusammen, und die hatten Heimfahrtswochenende. Evelyn ging schließlich mit. Sie wusste, was Gerhard von ihr erwartete. Sie hatte Angst, aber sie redete sich zu, dass sie nun achtzehn sei und bestimmt die letzte aus dem ganzen Lehrjahr, die noch nicht ... Außerdem war sie erwachsen, und mit jemandem ins Bett zu gehen, gehörte dazu. Gleichzeitig und ganz im Widerspruch zu ihrer Angst fühlte sie eine neue, unbekannte Freude. Die Berührung mit dem heißen Körper des Jungen tat wohl. Als er versuchte, ihre neue Bluse aufzuknöpfen, sagte sie schnell, dass sie sich selber ausziehen könne. Sie tat es zu seinem Erstaunen ohne Scheu, wie eine Arbeit, die verrichtet werden müsse. Die ungeschickten Zärtlichkeiten des Jungen erwiderte sie bereitwillig. Ihre Befürchtung, sie könne etwas nicht wissen oder verkehrt tun, verlor sich gänzlich dabei.

Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, erst lange danach, wagte sie, die Augen wieder zu öffnen. Sie sah im Fastdunkel des Zimmers ihre beiden hellen Körper nebeneinander ausgestreckt wie zwei Teile eines Ganzen. Es war auf einmal keine Frage mehr, ob das mit Männern, so nannten es die Mädchen aus ihrem Zimmer, etwas Verdorbenes sei oder zum Schämen. Sie hätte Gerhard gern erklärt, wie froh sie war, aber sie besaß keine Worte dafür. Der nackte Junge schien ihr schön, und das sagte sie ihm. Er setzte sich auf und zog sich wortlos seine Turnhose wieder an.

Sie verlangte eine Zigarette und sah sich im Zimmer um. Sie empfand Dankbarkeit, und Gerhard tat ihr leid, weil er wohl nicht von der gleichen Freude und Wärme ausgefüllt war wie sie. Noch nie war es ihr so gut gegangen. Als sie sich von ihm verabschiedete und insgeheim hoffte, er werde sie zurückhalten, blieb er stumm im Zimmer zurück. Eine Verabredung mit ihm hatte sie abgelehnt. Sie sahen sich ohnehin jeden Tag.

Am nächsten Wochenende ging sie ins Jungenwohnheim und fragte Gerhard, ob er mit ins Kulturhaus zum Kino käme. Sie wäre längst unter irgendeinem anderen Vorwand zu ihm gegangen, die Tage seit Sonnabend kamen ihr endlos vor, aber die Mädchen hatten sie zurückgehalten. Das mache man nicht, von selber zu einem gehen.

Sie hatte sich dem nicht gern gefügt. Zu heftig wünschte sie die Wiederholung dieser neuen Freude, die keine Anstrengung forderte, keinen Schmerz bereitete. Man musste sie sich weder verdienen noch bezahlen. Sie wurde ihr einfach geschenkt, dafür, dass es ihr gut gehe.

Gerhard kam vor die Zimmertür und sagte, er müsse noch für die letzte Prüfung lernen. Außerdem hätte sie sich neulich über ihn lustig gemacht.

Sie war mehr verblüfft als enttäuscht. Sie fuhr den anderen, die sich schon auf den Weg ins Kino gemacht hatten, mit dem Fahrrad hinterher. Erst schien ihr, Gerhards Ablehnung würde ihr nichts ausmachen, aber als im Film eine Liebesszene kam, nicht einmal eine traurige, musste sie nach draußen gehen, weil sie die Tränen nicht zurückhalten konnte. So etwas war ihr noch nie passiert.

Nach einer Weile, sie hatte sich gerade etwas beruhigt, kam ihr Dieter hinterher. Sie saß draußen auf der Vortreppe, und als sie auf sein: Kommst du mit? nickte, nahm er ihr Fahrrad und schob es. Nach der Hälfte des Weges bog er zur Jagdhütte ab, einem sechseckigen Holzbau, der jetzt als Regenunterkunft für die Feldbauleute diente. Der Junge, erfahrener und forscher als Gerhard, machte ihnen aus Zweigen und hastig abgerissenen Grasbüscheln ein Lager, von dem sich Evelyn getröstet wieder erhob.

Von da an suchte sie Gelegenheit zu solchem Zusammensein. Es hatte kaum mit den Jungen zu tun, mit denen sie für ein paar Stunden zusammenlag. Die Jungen gehörten ihr und nicht umgekehrt. Es war ihre Freude, ihr Wohlsein. Ein Eigenes, das nur ihr gehörte.

Die Angebote der Jungen, sich wiederzusehen, Ausflüge zu machen oder auch, mit zu den Eltern zu kommen, schlug sie aus. Sie genoss, bevor sie in alle Winde auseinandergingen, bewusst und ein wenig wehmütig das Zusammensein in der Gemeinschaft, in der sie zwei Jahre gelebt hatte. Zudem verlieh das Geheimnis, das sie mit dem einen und anderen teilte, der Gesellschaft mit allen einen besonderen Reiz. Sie war schlagfertig und zu Überschwang geneigt wie nie zuvor.

Schon als Kind hatte sie gewusst, dass sie hübsch war. Keine Schönheit, aber dunkel von Haut und Haar, wie es in den nördlichen Gegenden nicht viele sind. Sie sah gern in den Spiegel und gefiel sich. Sie lächelte das Mädchen im Spiegel an, und es gab den Blick unbekümmert zurück.

Ein paar Tage bevor sie den Facharbeiterbrief überreicht bekamen, wusste Evelyn, dass sie schwanger war. Diese Möglichkeit hatte sie als etwas, was sich nicht ereignen konnte und durfte, nicht in Betracht gezogen. Sie wollte noch lange kein Kind.

Die Ärztin in der Poliklinik, die sie untersucht hatte und sicher nicht viel älter als fünfundzwanzig war, hatte sie angelächelt und gesagt: Ja, Sie bekommen ein Kind. Evelyn hatte gehorsam zurückgelächelt, aber als sie mit dem Versicherungsausweis und verschiedenen Formularen, die sie bis zur nächsten Untersuchung ausfüllen sollte, wieder im Wartezimmer stand, wurde ihr mit Wucht bewusst, was Unausweichliches auf sie zukam. Es war noch Vormittag. Sie ging in die Kneipe in der Nähe des Bahnhofs und war betrunken, als der Bus kam.

Je mehr sie trank, desto besser fühlte sie sich. Der Gedanke durchschoss sie, dass die Ärztin sich geirrt haben könne. Haben müsse. Als sie in den Bus stieg, war sie vom Irrtum überzeugt.

Von der Fahrt auf der holprigen Straße wurde ihr schlecht. Sie musste eine Haltestelle eher aussteigen und übergab sich vor den Augen der Fahrgäste im Straßengraben. Sie taumelte ein paar Hundert Schritte weiter, dann ließ sie sich vor Erschöpfung ins Gras fallen und blieb dort taub und stumm liegen. Als es dunkel wurde, zitterte sie vor Kälte. Sie stand auf, sammelte ihre Sachen zusammen und trottete zum Wohnheim.

Sie war vermisst worden, aber die Mädchen hatten ihr Fernbleiben vor den Erziehern zu vertuschen gewusst. Evelyn antwortete auf keine der Fragen. Sie duschte mit Gründlichkeit, legte sich ins Bett und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen ging sie zum Direktor und bat um die Zuweisung eines anderen Arbeitsortes. Sie wolle auf keinen Fall mehr im Wohnheim wohnen. Er möge sie schicken, wohin er wolle, sie sei mit allem einverstanden und habe nur eine Bedingung — ein eigenes Zimmer.

Der Direktor, in langen Dienstjahren an Sinneswandel und Sonderwünsche seiner Abgänger gewöhnt, versuchte, ihr Betrieb und Ort schmackhaft zu machen. Er merkte schließlich, dass das Mädchen ihn keiner Laune wegen bat. Trotzig und blass, mit hängenden Schultern saß sie vor ihm im Sessel. Auf seine Einwände schüttelte sie den Kopf. Er versprach ihr, sich um etwas anderes für sie zu bemühen. Sie nickte ernst, ohne den Anflug eines Lächelns. Der Direktor schloss seufzend die Tür hinter ihr.

Nach ein paar Tagen rief er sie wieder zu sich. Sie schien ihm noch mehr in sich selbst versunken. Wenn sie wolle, könne sie in einem Dorf in Mecklenburg anfangen. Aber es sei ein winziges Nest, und die Hühnerfarm, die sie dort noch hätten, würde demnächst aufgelöst. Sie müsse sich also von vornherein damit anfreunden, dass sie nicht lange in ihrem Beruf bleiben könne. Dass es dort keine Arbeit für sie gäbe, brauche sie allerdings nicht zu befürchten, sagte er lächelnd. Und ein Zimmer könne sie dort bekommen. Sogar noch ein halbes dazu bei einer freundlichen Witwe, der die Wohnung zu groß sei, nachdem die Kinder aus dem Haus seien.

Evelyn, noch immer stumpf und nicht zu Reaktionen fähig, fragte nicht einmal nach dem Namen des Ortes und sagte zu.

Den Sommer verbrachte das Mädchen im elterlichen Haus. Sie war träge und lustlos. Die beiden Alten versuchten das Stillsein ihrer Tochter vor sich mit Erwachsenwerden zu erklären, aber es war ihnen nicht wohl dabei.

Schon Mitte August, obwohl sie erst mit dem September anfangen musste, stand Evelyn Vitense mit Koffer und Tasche vor der Tür der Witwe Wendelborn. Sie war von der Frau nicht angetan. Eine dicke, aufdringliche Alte. Aber immerhin konnte Evelyn in ihren anderthalb Zimmern schalten und walten, wie sie wollte. Sie verließ kaum das Haus, außer um zur Arbeit zu gehen.

Wie man sich landläufig ein abgelegenes mecklenburgisches Dorf vorstellt, so sah Bawerin aus. Der Turm der bescheidenen Backsteinkirche überragte das gute Dutzend Gehöfte, die sich um die Gastwirtschaft, die Schmiede und die ehemalige Molkerei in der Dorfmitte scharten. Der Baweriner See gab den vier Fischerfamilien im Dorf Existenzgrundlage. Am Horizont floss der Himmel mit bläulichen Kiefernwäldern zusammen.

Evelyn horchte auf das, was in ihr vorging. Das Draußen erreichte sie nicht. Sie nahm gelassen die allmähliche Auflösung der Hühnerfarm hin. Automatisch verrichtete sie, was man von ihr erwartete.

Ihr wirkliches Leben fand in den Briefen statt, die sie schrieb und erhielt. Die ehemaligen Zimmergenossinnen berichteten amüsiert über neue Kollegen und Freunde. Evelyn erwiderte die Post im Stil des Mädchens, das sie vor ihrem achtzehnten Geburtstag war.

Abends besah sie sich vor dem Spiegel und erwartete beunruhigt die Veränderungen, die mit ihrem Körper vor sich gehen würden. Aber nur die Brüste schienen voller geworden zu sein. Der Anblick ihres nackten Körpers erinnerte sie an die Jungen, die ihn mit ihren ungeschickten Zärtlichkeiten unvollkommen, aber verheißungsvoll liebkost hatten.

Sie ließ sich aufs Bett fallen und heulte vor Sehnsucht nach etwas, was sie nicht benennen konnte. Am Morgen erwachte sie mit einem dumpfen Druck auf den Schläfen. Ständig war ihr, als ginge sie neben sich her und beobachtete voller Anteilnahme die verzweifelte andere, die sie geworden war.

Lange bevor man ihr etwas ansehen konnte, sagte sie zu Frau Wendelborn, dass sie sich darauf einstellen solle, dass sie ein Kind bekomme und dass sie in der Küche Windeln waschen werde, ob ihr das nun passe oder nicht.

Sie standen im Hausflur. Evelyn hatte die Wirtin abgepasst, als sie aus dem Garten kam. Den ganzen Tag hatte sich Evelyn mit Übelkeit geplagt. Mehr noch damit, sie vor den anderen zu verheimlichen. Das Kind und wie sie hier leben musste, empfand sie als Ungerechtigkeit. Sie dachte fast unablässig an die Zeit im Lehrlingsheim. Weniger an die Jungen aus den letzten Monaten als an das Zimmer, in dem sie mit den anderen Mädchen gelebt hatte, an das, was sie gemeinsam unternahmen. Sie schaffte es nicht, die Ev aus dem Wohnheim mit der, die sie jetzt war, zu einer Person zusammenzuführen. Ihre Hilflosigkeit machte sie wütend.

So schrie sie ihrer Wirtin ins Gesicht, sie solle die Neuigkeit nur im Dorf austratschen. Je eher, desto besser. Die Frau brüllte beleidigt zurück, sie tratsche nicht, sie solle sich gefälligst jemand anders als Zeitung aussuchen. Sie warf das Bund Mohrrüben, das sie aus dem Garten mitgebracht hatte, Evelyn vor die Füße und knallte die Tür zu ihrer Wohnung hinter sich zu.

Dass die Wirtin zurückbrüllte, fand Evelyn sympathisch. Eigentlich hatten sie sich während des Wortwechsels zum ersten Mal richtig angesehen. Sie wussten nun, was sie voneinander zu halten hatten. Frau Wendelborn schwieg wie ein Grab.

Erst als Evelyn der Leiterin der Hühnerfarm auf deren Aufforderung kratzbürstig mitteilte, sie könne nicht nach der Arbeitszeit zur Arztsprechstunde in Bawerin gehen, sondern müsse zur Schwangerenberatung in die Kreisstadt, machte die Nachricht im Dorf die Runde. Evelyn war erleichtert. Zwar fürchtete sie nun die forschenden Blicke der Frauen und die abschätzenden der Männer, aber sie waren leichter zu ertragen als die niederdrückende Vorsicht, mit keinem Anzeichen ihre Schwangerschaft zu verraten.