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Christoph S. Eberle

Wanderer, du

ISBN 978-3-95655-021-8 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die Zukünftige suchen wir.

Hebräer 13,14

Über Grenzen fliegen

Ich bin heute früh aufgestanden. Der Mond hat sein Licht der Sonne noch nicht zurückgegeben. Vom Balkon meines Hotelzimmers im vierten Stock kann ich zusehen, wie langsam der Morgen graut. Aber nicht dieses immer gleiche Schauspiel hält mich wach, noch das untergründig-dumpfe Tönen irgendwelcher Nachtmusik aus Bars und Klubs, die um- und umgelegen. Nein, das ist es weniger! Ein langes Jahr liegt hinter mir, das längste Jahr in meinem Leben, weil ich warten musste und mir Geld fehlte, bis ich einem gegenseitigen Verlangen folgen konnte. Auf meiner Reise der Sonne entgegen bin ich nun wieder gezwungen zu warten. Plötzlich lostobende Sandstürme hatten vorgestern den Piloten jede Sicht genommen, und die Fluggesellschaften besorgten uns Betroffenen Unterkunft bis zum Weiterflug. So verlängerte sich eine geplante Zwischenlandung am Persischen Golf zum ungeplanten Aufenthalt. Seine Dauer kam mir ewig vor, weil meine innere Aufregung mich ganz woanders hintrieb.

Fern und doch so nah erschallt über Lautsprecher die Stimme des Muezzins hoch aus dem Minarett. Manara nennen es die Araber, wie mir Einheimische sagten. Künden Muezzine von Marokko bis Indonesien wirklich an Plätzen, die Feuer oder Licht erleuchten? Dann verstärkt dies noch die Bedeutung ihrer Worte, auch wenn sie Einfaches sagen. Bei Allah, dem Allmächtigen rufen sie zum Gebet, eindringlich, erhaben, klangvoll. Mich beeindruckt dieses Ritual einer Weltreligion. Und immer mehr wird die Nacht zum Tag. Gleich nach dem Frühstück heute Morgen sind wir losgefahren. Unterwegs fühle ich mich, als würde ich einen Bannkreis verlassen. Alles beginnt sich zu entfernen. Hier die Stadt, die mich einen Tag länger behielt als vorgesehen, dort die Wüste, die sich mit dem Wind verbündet hatte, um ihren aufgewirbelten Sand in die Stadt zu tragen.

„So heftige Sandstürme gab es zu dieser Jahreszeit noch nie“, versichert mir der freundliche Taxifahrer, der uns durch erwachende Straßen zum Flughafen bringt. Ich glaube ihm; welchen Grund wüsste ich, ihm zu widersprechen. Bis vor zwei Tagen hatte die Wüste versucht, Sturm zu laufen gegen diese Festung der Menschen, gegen dieses Inselreich der Zivilisation, das ihr Widerstand leistet. Aber sie ist geduldig geworden, mächtig und viel zu groß, um je endgültig besiegt  zu werden. Mit ihren Heeren lagert sie vor der Stadt seit Jahrhunderten, wartend auf ihren Tag. Denn dem Menschen geht es längst nicht mehr darum, gegen sie zu kämpfen, nur noch um seinen Überlebenskampf in ihr. Wenn jener einfache Ladenbesitzer jetzt vor seiner Tür die Straße fegt, vielleicht wird ihm bewusst, dass auch seine Stadt nur auf Sand errichtet ist, und die Wüste, wann immer sie sich mit dem Wind verbündet, will ihn daran erinnern, ihn und alle, die hier leben und ihre Zukunft aufgebaut haben.