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Renate Krüger

Geisterstunde in Sanssouci

Bilder aus dem Leben Adolph Menzels

ISBN 978-3-86394-318-9 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung des Gemäldes „Flötenkonzert Friedrich des Großen in Sanssouci“ von 1852.

Das Buch erschien erstmals 1980 im Kinderbuchverlag Berlin.

 

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Ein Selbstbildnis: 1834

Bild

Also, Herr Erdmann Hummel, an mir soll es nicht liegen, ich führe jetzt Ihren Auftrag aus. Ich habe alle angefangenen Arbeiten weggeräumt, sitze an meinem Zeichentisch und zeichne mein eigenes Bild, ganz wie Sie es wünschen.

Ich bin es gewohnt, dass ich jedes bestellte Bild zeichne, ich muss ja schließlich meine Familie ernähren. Ja, lachen Sie nicht, Herr Hummel, Sie wissen schon, wie ich es meine. Ich bin zwar erst neunzehn Jahre alt, und in diesem Alter hat man eigentlich noch keine eigene Familie. Und doch! Seit Vater vor zwei Jahren gestorben ist — er hieß übrigens auch Erdmann, genau wie Sie, Carl Erdmann Menzel —, muss ich allein für Mutter und Geschwister, die elfjährige Emilie und den achtjährigen Richard, sorgen. Und ich kann es. Ich habe es geschafft, meines Vaters Werkstatt weiterzuführen und sogar noch zu vergrößern. Und nun kommen Sie, Herr Hummel, einer der berühmtesten Maler Berlins, und geben mir einen Auftrag, der mir zwar kein Geld einbringen wird, dafür aber Ehre und Ruhm.

Sie wollen mein Selbstbildnis für den Berliner Künstlerverein. Und ich, so meinen Sie, soll Mitglied dieses Vereins werden, obgleich ich noch jung bin und die Kunstakademie nicht bis zum Ende besucht habe. Quatsch Kunstakademie, haben Sie gesagt, deine Kunstakademie ist die Natur, Menzel, halte du dich nur an die Natur. Du sollst einer von uns werden, und als Eintrittsgeld brauchen wir dein Selbstbildnis, und nun ran an die Arbeit, zeig mal, wie du aussiehst und wie du dich selbst siehst ...

Na schön, Herr Erdmann Hummel!

Ich bin noch immer der Menzelzwerg, und daran wird sich wohl nichts mehr ändern, ich wachse nicht mehr. Meine Schwester Emilie ist fast so groß wie ich. Als sie am vorigen Sonntag zu einem Besucher sagte: „Warten Sie, ich werde meinen kleinen Bruder holen“, da habe ich ihr eins hinter die Ohren gegeben, auch wenn es mir mehr wehtat als ihr. Aber schließlich bin ich das Oberhaupt der Familie ... Auch wenn ich noch immer nicht vom Stuhl aus mit den Beinen auf den Fußboden komme und sie baumeln lassen muss wie mein kleiner Bruder Richard.

Mitglied des Berliner Künstlervereins! Bei diesem Gedanken aber fühle ich mich gleich viel größer. Und dafür will ich gern mein eigenes Bild als Eintrittspreis hergeben. Ich bin auch ziemlich neugierig, wie ich eigentlich aussehe, denn bis jetzt habe ich noch keine Zeit gehabt, mich selbst zu zeichnen. Ich hatte immer mehr als genug zu tun mit Abbildungen von Pferden und Kanonen, Pflanzen und Tieren, Handwerkern und ihren Hausbauten, Bauern auf dem Feld und im Stall.

Eigenartig ist es, wenn man sich so gegenübersitzt, sich selbst aufs Papier bringen will. Es scheint so, als blicke mir aus dem Spiegel ein fremder Mensch entgegen, mit dem ich mich unterhalten muss, damit ich ihn besser kennenlernen kann.

Woher bist du gekommen, kleiner Menzel? Na, das weiß doch fast jeder! Aus Breslau sind wir hierher nach Berlin gezogen. Vater war in Breslau Lehrer, er hatte eine eigene private Schule mit lauter Mädchen, das war ein Geschnatter im Haus! Die Mädchen mochten ihn sehr, und wer wollte, konnte eine Menge bei ihm lernen. Aber er war nicht gern Lehrer, er wollte lieber zeichnen, die Natur beobachten, Bücher illustrieren, eben das, was ich jetzt tun darf. So gab er die Schule auf und bemühte sich um Aufträge zum Zeichnen. Aber Breslau ist zu klein. Schließlich verkaufte er unser Haus, und wir zogen nach Berlin. Es war ein schönes Haus, das wir da verließen. „Zur Goldenen Muschel“ hieß es, weil über der Haustür eine Muschel aus Stein angebracht war.

Gold habe ich an ihr freilich nicht gesehen, das war schon längst abgeblättert. Unser Haus hier in der Berliner Wilhelmstraße hat keinen Namen, nur die Nummer 39, und unsere Wohnung ist auch längst nicht so groß wie die in der „Goldenen Muschel“.

Wie groß soll mein Bild eigentlich werden? Davon hat Herr Hummel nichts gesagt. Es darf nicht angeberisch werden, aber auch nicht zu klein. Dieses Blatt hier, denke ich, so groß wie eine Heftseite, wird wohl genügen. Und in welcher Technik? Ich werde es mit dem Bleistift probieren, damit arbeite ich am liebsten. Er muss ganz kurz sein. Es kommt mir dann immer so vor, als zeichne ich mit den Fingern. So wie jetzt. Ich habe nur noch einen Stummel in der Hand. Aber es geht leicht und schnell damit.

Allzu lange darf ich mich mit meinem eigenen Bild auch nicht aufhalten, denn es wartet noch andere Arbeit auf mich, und ich will meine Auftraggeber nicht enttäuschen.

Bild

Chor der alten Klosterkirche in Berlin, Aquarell 1838

 

Ich weiß noch genau, wie es war, als damals nach Vaters Tod der Inhaber einer Buchdruckerei persönlich zu uns kam, um alle Aufträge, die er uns erteilt hatte, zurückzuholen. Vater sei doch nun leider tot, und er als Druckereibesitzer und Geschäftsmann müsse sich wohl nach einem anderen Zeichner umsehen, aus unserer Werkstatt könne er ja nun nichts mehr erwarten.

„Weshalb nicht?“, fragte ich. „Ich bin ja schließlich auch noch da!“

„Du?“, fragte er von oben herab und maß mich von Kopf bis Fuß, und dabei hatte er wirklich nicht viel zu messen. Doch dann wurde er verlegen und fragte schnell noch einmal: „Sie?“

Ja, ich ... Ich war damals siebzehn Jahre alt, und es gab fast nichts mehr, was ich noch nicht gezeichnet, woran ich meine Augen und Finger noch nicht geübt hatte.

„Sie sollen pünktlich beliefert werden, verlassen Sie sich auf mich!“, sagte ich und hielt Wort.

Ich weiß auch noch genau, wie es war, als er die fertigen Zeichnungen abholte. Ja, er kam selbst, er war wohl gespannt. Allerdings wollte er mir weniger Geld zahlen als meinem Vater, aber darauf ließ ich mich nicht ein.

„Haben Sie etwas an meinen Zeichnungen auszusetzen?“

„Nein. Aber Sie haben keine Kunstakademie besucht ...“

Für den Maler Hummel spielt das keine Rolle. Es wäre ja wirklich besser gewesen, wenn ich Zeit für die Kunstakademie gehabt hätte, aber ich hatte sie eben nicht. Schließlich bezahlte der Druckereibesitzer doch den vereinbarten Preis. Mein erstes selbst verdientes Geld ...

Eigentlich kann ich jetzt den Kopf ganz schön hoch tragen und mich auch so zeichnen. Ich brauche mich nicht zu verstecken oder zu ducken.

Kopf hoch, Adolph Menzel! So sagte ich damals immer wieder zu mir selbst, wenn es schwer wurde. Jetzt kommt es auf dich an, auf deinen Fleiß, auf deine Ausdauer, auf deine Fantasie! Entweder du überwindest die Schwierigkeiten, oder du wirst von ihnen zu Boden gedrückt!

Friss, Vogel, oder stirb!

Dieses Wort habe ich von einem Handwerksburschen gehört. Er saß an der Spree und aß knochentrockenes verschimmeltes Brot. Natürlich schmeckte es ihm nicht, aber besser dies als verhungern!

Friss, Vogel, oder stirb!

Ein hartes Wort, aber manchmal hat es mir geholfen. Zum Beispiel, wenn mir die Augen vor Müdigkeit zufielen, ich aber noch weiterarbeiten musste, damit wieder Geld ins Haus kam.

Ich habe niemanden enttäuscht und alle Termine pünktlich gehalten. Tag und Nacht habe ich gezeichnet, entweder auf Straßen, Plätzen, im Museum oder hier an meinem Arbeitstisch. Und es hat sich gelohnt! Nicht jeder Berliner Zeichner hat schon eine so große Werkstatt wie ich.

Mein Arbeitszimmer ist größer als unser Wohnzimmer. Am linken Fenster steht noch immer Vaters Arbeitstisch, daneben meiner. Darauf in kleinen Gefäßen stehen Zeichenfedern in verschiedener Größe. In einer weißen Porzellandose habe ich alle meine Bleistifte zusammengestellt, in der blauen meine feinen Pinsel. Daneben Fläschchen mit schwarzer und brauner Tusche, Leinenläppchen. Das ist meine Welt, oder sagen wir besser ein Teil meiner Welt. Der andere und wichtigere ist draußen, bei den Menschen auf der Straße und in ihren Arbeitsstätten. Ein Künstler darf sich nicht in seiner Werkstatt verkriechen ... Ich will allen Menschen und dem ganzen Leben offen und gerade ins Gesicht sehen, so wie ich mich jetzt zeichne ...

Es geht ruck, zuck mit dem Bild. Menzel braucht keinen Radiergummi, jeder Strich sitzt beim ersten Mal.

Er wird schon zufrieden sein, der Herr Hummel, und die anderen Maler auch. Die Zeichnungen, die er neulich hier in Menzels Werkstatt gesehen hat, gefielen ihm sehr.

„Du hast ja schon halb Berlin in deiner Werkstatt, junger Kollege“, hatte er gesagt. Kollege, wie sich das anhört. Richtig feierlich. Menzel muss mal schnell selbst wieder in seinen Skizzen blättern. Schornsteinfeger auf dem Dach. Schusterjungen, denen die Stiefel über die Schulter baumeln. Leierkastenmänner, die ihren Bettelhut aufhalten. Frauen, die an der Pumpe Wäsche spülen. Droschkenkutscher, die ihre Pferde füttern oder striegeln. Hunde. Spielende Kinder. Hauseingänge. Soldaten, immer wieder Soldaten ...

Ich werde mein Bild noch heute zu Professor Hummel in die Kunstakademie bringen, denkt Adolph, ich habe so richtig Lust zu einem kleinen Stadtbummel. Ob der ulkige Dienstmann noch immer auf der Weidendammer Brücke steht? Mein Hauswirt, der Gemüsehändler Pritzerbe, nennt ihn immer Eckensteher Nante. Und die feinen Droschken auf der Friedrichstraße — aber heute werde ich nicht zeichnen, nur so dahinschlendern, die Friedrichstraße hinunter bis zu den Linden. Wenn ich die Zeichnung abgegeben habe, bleibt mir vielleicht noch Zeit für den Lustgarten und das königliche Schloss, dort gibt es für mich immer etwas zu sehen, und dort werde ich ganz bestimmt nicht anders können, dort muss ich dann doch wieder zeichnen.

So, fertig. Jetzt noch der Name auf das Bild. Adolph Menzel, geboren zu Breslau, den 8. Dezember 1815.