Impressum

Wolfgang Held

Flugfunken

Prosa für Minuten-Leser

ISBN 978-3-96521-031-8 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 2013 im BS-Verlag Rostock.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860-505 788

E-Mail: verlag@edition-digital.de

Internet: http://www.edition-digital.de

 

Für Gisela

Zum Geleit

Ihre Bahn ist kurz, winzig das Feuchten und nicht von Dauer. Gestresste, geistige Dickbrettbohrer, Schlagzeilengläubige und Fans von Events der höheren Steuerklassen haben weder Auge noch Sinn für eine derart flüchtige Erscheinung, an denen nicht einmal die Provinzpresse bis hinab zu den Lokalsendern Interesse zeigen, ganz zu schweigen davon, dass kein ernsthafter Wissenschaftler auf den Gedanken gekommen wäre, sich mit dieser Erscheinung zu beschäftigen.

Also absolut bedeutungslos? Total im Null? Wahrscheinlich wäre das der Fall, gäbe es da nicht die Träumer, die Kinder, eine unüberschaubar weit verstreute Schar derer, die fähig und geübt geblieben sind im Entdecken des fein verborgenen Reizvollen. Sie verstehen die flinken Lichtpünktchen als Signale, helle Textsplitter, kurze Wortmeldungen aus meinem Literatur-Atelier. Texte, die ich „Flugfunken“ nenne, wohl nicht ausreichend gewichtig, um bibliothekarisch in die Listen langlebiger Belletristik aufgenommen zu werden. Nein, es ist Besinnliches oder Heiteres vom Band der Festplatte her zusammengeweht in dieser schmalen Herausgabe für Leseminuten auf der Reise, zur Nacht vorm Einschlafen, für Erinnerung an dieses oder jenes bereits Vergessene ...

Also finde nun jeder reichlich das ihm Gemäße!

In heimischer Wolle gefärbt

Wer es nicht fühlt, der wird nie verstehen, was wohl jedem geborenen Thüringer tief im Innern bewegte, wenn er vom Südhang des Ettersberges einen langen Blick über das Weimarer Land bis hin zu den Horizonten gleiten lässt, dann zum ehemaligen Nazi-Konzentrationslager wandert und dort, im Krematorium vor den Verbrennungsöfen, still das Haupt gesenkt eine ungemessene Weile bleibt.

Mir wäre meine Thüringer Heimat mit dieser Schuld, die uns Hiergeborenen in besonderem Maß aufbürdet ist, sicher eine lebenslang heimliche, nie gänzlich heilende Wunde, wenn es nicht auch eine Kraft gäbe, die über alle Last hinaus jenen schönen Raum öffnet, der Freuden und Lust in Fülle für uns „Einheimische“ in ganz besonders herznaher Weise schafft. Und gegen allen Spott: Wir haben das Exklusivrecht für solche anmaßenden Schwärmereien! Es erlaubt sogar uns, den „in der heimischen Wolle gefärbten Thüringern“, stille Empörung, wenn wir mit unseren durchaus ehrenwerten sächsischen Nachbarn bis hin zu den fundamentalen, schmerzhaft-dialektischen Unterschieden verwechselt werden.

Hier sei eine kleine bittere Randbemerkung aus anderer Richtung erlaubt, sozusagen ein letztes Wort zur besonderen, die erinnerungsfähigen Weimarer begleitenden Scham. Diesem und jenem geschichtsbewussten Bürger und manchem Zeitzeugen gerät immer wieder eines der auch mich durch die Jahre quälenden stadtgeschichtlichen Ereignisse in den Sinn. Mir jedenfalls wird diese Bürde wohl niemals genommen werden. Es geht um den erbärmlichen Umgang einer Schar intoleranter Weimarer mit einem Kommunisten in der so genannten Wendezeit.

Walter Krämer, Laienarzt im KZ Buchenwald, vom Staat Israel ausgezeichnet als „Gerechter unter den Völkern“, in der DDR geehrt mit seinem Namen und einer Büste für die Medizinische Fachschule in Weimar. Der Schulname und die Büste wurden im Herbst 1989 hysterisch und mit fanatischem Eifer beseitigt, als würde es sich bei diesem tapferen Antifaschisten um einen Verbrecher handeln. Der wohl einzige in unserer Stadt verehrte „Gerechte unter den Völkern“ blieb seither ohne eine seiner historischen Leistungen tatsächlich entsprechende öffentliche Würdigung.

Weshalb ist trotz alledem Weimar im Land Thüringen dessen heimliche, mit den Herzen der Eingeborenen einstimmig gewählte Hauptstadt? Das gilt jedenfalls für mich. Ohne wenn und aber! Der Grund ist leicht zu erklären.

Mit meinem ersten Augenaufschlag war über mir der Himmel Thüringens gespannt, die ersten Schritte wagte und übte ich nahe des Ettersberges und bei Oma und Opa am Rennsteig. Meine Sprache wuchs Wort für Wort hier an Ilm und Saale, wurde dabei einigermaßen geschützt gegen allzu östliche Färbungen, dafür veredelt mit feinem Beiklang aus den Wäldern zwischen Kickelhahn, Schneekopf und Inselsberg.

Aber genug der landschaftlichen Schwärmereien. Heimat, das ist unverzichtbar die große Familie der Landsleute, in die ich hineingeboren bin. Menschen mit allen Schwächen und Stärken, mir heimatlich vertraut in freundlich gefärbter Mundart, gepflegt in unterschiedlichen, südlichen oder nördlichen, städtischen, ländlichen oder von den Wäldlern geprägten Nuancen.

Kann es nach dem Geschilderten eine Frage sein, weshalb ich hier lebe? Nein, es gibt auf Erden keinen Platz, an dem ich frohen Herzens und freien Atems anderswo auf Dauer existieren könnte. Das ist geprüft!

Meine Neugier lockte mich in weitentfernte Winkel der Erde. Ich durfte neben Plätzen bittersten Elends auch Orte traumhafter Schönheit kennenlernen, aber bei allen zauberhaften Aufenthalten gab es keinen, an dem mich nicht mehr oder weniger zeitig Heimweh erreicht hätte.

Draußen begegnen mir die reizvollsten Geschichten und originellsten Einfälle, doch die Kraft zum Schreiben, die Geduld am literarischen Stoff, die schöpferische Ruhe – das alles, was mich zum Schriftsteller werden ließ, es ist aus einer wundersamen, nicht austauschbaren und den Berufenen nie versiegenden Quelle geschöpft.

Sie heißt HEIMAT.

Eine Mumie im Trabi

Je älter eine Stadt ist, um so zahlreicher sind ihre „Friedhofsgeschichten“, selten irgendwo niedergeschrieben, häufig für die Enkel aufbewahrt von den Großmüttern, in geselliger Runde von kundigen Alteingesessenen zum Besten gegeben oder zuweilen auch gänzlich in Vergessenheit geraten.

Kurioser freilich ist eine Geschichte, die in den sechziger Jahren passierte und von den damaligen Stadtoberen nicht zuletzt auch aus Gründen der Pietät streng vertraulich behandelt wurde. Allerdings erwies sich Weimar, wie schon von alters her, als feste Heimstätte der Geschwister Klatsch und Tratsch. Es dauerte keine drei Tage und die Sache war in den Friseursalons, den Kneipen und rings um den Neptun auf dem Marktplatz in aller Munde.

Es geschah in einer mondhellen Sommernacht. Ein junger Mann überstieg heimlich wie ein Dieb die alte Mauer des historischen Friedhofes. Wer nun vermutet, dass es dem respektlosen Eindringling – wie schon des Öfteren vorgekommen – um die frischen, dem Andenken der Verstorbenen gewidmeten Blumen auf den Gräbern ging, der irrte. Der nächtliche Besucher hatte keineswegs die Absicht, seine finanzielle Lage am nächsten Vormittag auf dem Theaterplatz oder irgendwo sonst in der Stadt mit gestohlenem Grabschmuck aufzubessern.

Unbeirrt suchte er sein Ziel zwischen den wie schwarze, zwergenhafte Wächter, den schmalen, die Wege säumenden Kreuzen und Steinen. Kein Laut störte die Totenstille. Das Mondlicht umgab mit mattem, goldenem Schein die Fürstengruft mit den Sarkophagen von Goethe und Schiller. Daran angrenzend die im russisch-byzantinischen Stil errichtete Grabkapelle. Nicht weit davon entfernt, an die alte Friedhofsmauer gelehnt, dämmerte ein seltsames, vom Alter sichtlich geschundenes Bauwerk dahin. Ein Gebeinhaus. In seiner Tiefe überdauerten kunstvoll gestaltete Särge die Zeiten. Hochgestellte Persönlichkeiten hatten hier vor Jahrzehnten eine letzte Ruhestätte gefunden, seitdem waren keine weiteren Beisetzungen erfolgt.

Der junge Mann verharrte vor dem schmucklosen Bauwerk. Er lauschte. Sein Blick wanderte über das Gräberfeld. Nicht das leiseste Fürchten – auch nicht für ihn! Er benötigte, offenbar sehr vertraut mit dem gesicherten Zugang, nur wenige Sekunden, um in die Gruft des Gebeinhauses einzudringen. Der grelle Strahl seiner Taschenlampe huschte über die Sargreihe und blieb bei einem der Totenschreine.

Ohne jede Scheu trat der Eindringling heran. Er legte die Lampe zur Seite und hantierte an dem Deckel des Sarges. Leises Knarren widerhallte schwach von den kalten steinernen Wänden der Gruft.

Das Lampenlicht traf einen vor mehr als hundert Jahren hier beigesetzten Leichnam. Es war eine weibliche Person. Mumifiziert durch die besonders hier herrschenden klimatischen Bedingungen. Die noch einigermaßen erhaltene Kleidung ließ erkennen, dass es sich um eine Angehörige der höheren Stände handelte, wahrscheinlich eine Hofdame der großherzoglichen Residenz.

Wenig später strebte der junge Mann mit seiner unheimlichen Bürde über den düsteren Friedhof. Wohl mehr seine Erregung als die geringe Last machte ihm den Atem kurz. An einer Bank legte er die aus der Totenruhe gerissene Mumie ab und verschnaufte.

Eine Viertelstunde danach lag der historische Friedhof mit all den letzten Ruhestätten bedeutender Persönlichkeiten aus Weimars klassischer Zeit wieder still und ungestört im nächtlichen Himmelslicht.

Weit weniger ruhig und besinnlich ging es, wie erzählt wird, schon bald nach Sonnenaufgang an verschiedenen Plätzen des Ilmstädtchens zu. Die Turbulenzen begannen mit dem schrillen, vom blanken Entsetzen erfüllten Schrei einer jungen Friseuse. Noch leicht verschlafen, hatte sie eilig ihre Wohnung verlassen, um pünktlich bei den Damen im Salon zu sein. Sie hätte die kleine, schmale Gestalt in einem Winkel des Hausflures vermutlich kaum beachtet, wenn gerade dort nicht in den vorhergegangenen Wochen des Öfteren von irgendwelchen Schweinskerlen, ohne erwischt zu werden, ein Strahl abgesetzt worden wäre. Ihre lautstarke Entrüstung war wirkungslos geblieben, also war sie dem vermeintlichen Übeltäter auf Greifweite nähergetreten und – im nächsten Augenblick schaudernd erstarrt, bis sich ihr Schreck in einem das ganze Haus alarmierenden Schrei entlud. Ein vergilbtes, fleischloses Totengesicht schaute die junge Frau an. Wahrscheinlich von plötzlicher Angst und Reue eingeholt, hatte der Grabschänder die mumifizierte Tote kurzerhand in diesen dunklen Winkel des Hausflures gelehnt und hastig das Weite gesucht.

Indessen meldete eine ältere Frau, die im Sommer allmorgendlich zur Pflege der Gräber ihrer drei verstorbenen Ehegatten zum Friedhof kam, bei der Verwaltung eine merkwürdige Entdeckung. Auf einer Bank am Rande eines Gräberfeldes hatte die Witwe uralte, morsche Kleiderfetzen gefunden. Sicherlich wären diese unansehnlichen Reste von ihr achtlos weggefegt worden, hätte sie nicht sachkundig erkannt, dass es sich dabei ganz zweifellos um einst sehr kostbare, echte Spitzen aus Plauen handelte.

In der Friedhofsverwaltung rätselte man noch um die Herkunft des seltsamen Fundes, als das Telefon klingelte. Die Kriminalpolizei – im unverwechselbar Weimarer Dialekt – fragte eine etwas heisere Männerstimme: „Fäähld bei Ihnen ehne Leiche? So ehne Ard Mumche?“

Die Anfrage alarmierte. Eine gezielte Suche begann. Es dauerte keine halbe Stunde, bis die Antwort gefunden war. Die Kriminalisten nahmen ihre Arbeit so auf, wie man es in jener Zeit mit allen Vorkommnissen hielt, die nicht so recht in das Bild des friedlich-reizvollen Goethe-Schiller-Städtchens passen wollten: Strengste Geheimhaltung! Keine Silbe in der Presse! Trotzdem blieb der makabre Vorfall, wie schon berichtet, den stets hellhörigen und schwatzmunteren Weimarern keinen halben Tag lang verborgen. Ob auf dem Wochenmarkt, beim Friseur, in den Wartezimmern der Ärzte, in den Skat- oder Kränzchenrunden, überall in der Stadt und im näheren Umkreis lieferte der Mumienklau, wie bereits erwähnt, faszinierendschauerlichen Gesprächsstoff.

Es sprach sich auch schnell herum, dass die Polizei den Täter gefasst habe. Es sei, so hieß es, ein Bursche mit krankhafter Vorliebe für Totenköpfe und ganze Skelette, aber: Nichts Genaues weiß man nicht!

Als einige Zeit später die nicht öffentliche Gerichtsverhandlung stattfand, war den Leuten in der Stadt die Geschichte bereits wieder aus dem Sinn. Allein die Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung wurden, wie man im engen Kreis hinter vorgehaltener Hand tuschelte, in der Sache noch einmal vor ein Problem gestellt. Die von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht nicht mehr als Beweismaterial benötigte Mumie sollte abgeholt werden. Die Polizei fühlte sich für derartige Transporte ebenso wenig zuständig wie das Bestattungsinstitut. Also machte sich ein Kollege vom Friedhof mit seinem kleinen Trabant auf den Weg und sorgte für ein in der skurrilsten Stadtgeschichte Weimars, ein sowohl einmaliges, wie streng verschwiegenes Ereignis: Eine mumifizierte Edelfrau des großherzoglichen Hofstaates wurde rund hundertfünfzig Jahre nach ihrem Ableben ausgerechnet in einem Trabi noch einmal durch die einstige Residenz gefahren. In aller Stille und ohne jedes Aufsehen kehrte sie in die Gruft zurück. Die Friedhofsverwaltung ließ bald danach den Eingang zum Gebeinhaus so fest vermauern und sichern, dass nunmehr die ewige Ruhe der Verstorbenen nicht noch einmal von einem kaltherzigen Übeltäter gestört werden kann.