Impressum

Christiane Baumann

Verhängnis in der Grotte

Nora Grafs dritter Fall – Schwerin-Krimi

ISBN 978-3-96521-238-1 (E-Book)

ISBN 978-3-96521-240-4 (Buch)

 

Foto und Gestaltung Titelseite: Susanne Schiebler

Foto der Autorin: Sylvana Warsakis

Lektorat: Dr. Volkhard Peter

 

Ich danke Bettina, Volker und Ulrike fürs Probelesen und ihren Zuspruch.

Mein besonderer Dank gilt Jan Peter für seine konstruktiven Hinweise und Vorschläge.

 

Alle handelnden Personen und ihre Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Manche Örtlichkeiten und Gegebenheiten sind im Buch anders als im wirklichen Leben.

 

© 2020 EDITION digital
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Tag 1   Freitag, Tag der Entführung

Nora Graf

Nora blinzelte mit den Augen. Wo war sie? Alles, was sie sah, war eine gelbe Zimmerdecke und an den Wänden gelbe Kacheln. Und es roch komisch, jedenfalls ungewohnt, nach abgestandener Luft und frischer Farbe zugleich. Immerhin, es war Luft da, und sie konnte atmen. Drei in die Decke eingelassene LED-Leuchten spendeten mattes Licht. Wo war sie hingeraten?

Alles in Ordnung, wollte ihr Gehirn ihr vorgaukeln, bevor sie den Schmerz fühlte. Nacken und Hals taten fürchterlich weh und waren kaum zu bewegen. Schlagartig wurde ihr klar: Sie war nicht zu Hause in ihrem Bett, sondern lag wie festgetackert auf einer nackten Matratze! Nein, reine Panik. Natürlich konnte sie sich bewegen. Die Arme, die Beine … Warum dachte sie so schwerfällig? Der steife schmerzende Hals bereitete ihr Schwierigkeiten. Wenn sie ihn mit der Hand stützte, konnte sie sich aufrichten. Nun saß sie in ihren Straßenklamotten, Schuhe, Jeans und Daunenjacke, auf einer Matratze in einem schlecht beleuchteten gekachelten Raum ohne Fenster. Verdammt, was war das?! Ein besonders hartnäckiger böser Traum? Ja, so musste es sein. Gleich würde Tom sie wach rütteln und küssen.

Nora wurde schwindlig, und sie schloss die Augen. Als sie die Augen öffnete, war alles wie zuvor. Gelb gestrichene Decke, gelbe Kacheln an den Wänden und … wieso sah sie es erst jetzt? Ein paar Meter weiter vorn ein über den ganzen Raum gezogener Vorhang aus festem dunkelbraunem Stoff. Dahinter würde sicher die Tür sein.

Nora stand vorsichtig auf. Der Schmerz saß hartnäckig im Nacken. Dort, wo der Schlag sie getroffen hatte. Ja, daran erinnerte sie sich. Ein heftiger, unerwarteter Schlag. Aber warum? Und von wem? Was war geschehen? Sie machte einen wackligen Schritt vorwärts und stieß etwas um. Wasserflaschen. Hilfe, wollte Nora rufen. Hilfe! Doch kein Ton kam aus ihrem Mund.

Berthold Hansen

Er fühlte Wut in sich aufsteigen. Nora war nirgends aufzutreiben, und ihr Handy war aus. Es war fast drei; Nora war seit zwei Stunden überfällig. Eine unverschämt lange Mittagspause. Ab sofort würde er neue Seiten aufziehen. Er war viel zu nachgiebig mit ihr. Sie missachtete seine Anweisungen, stellte eigenen Regeln auf und meinte wohl, weil sie beide verwandt waren, konnte sie tun und lassen, was sie wollte. So würde es nicht weitergehen.

Hansen zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich damit die Stirn ab. Er dachte an die Wodkaflasche in der untersten Schreitischschublade, ein Gläschen zur Beruhigung. Oder um das flaue Gefühl im Magen zu vertreiben. Mittag hatte er ausgelassen, und seit dem Frühstück war es eine ganze Weile her. Dafür war es ungewöhnlich üppig ausgefallen: Rührei mit Schinken und Tomaten. Zubereitet von seinem Sohn Johannes. War für ihn extra früh aufgestanden. Ohne Hintergedanken zu haben? Oder hatte Jack, wie seine Freunde ihn nannten, ein schlechtes Gewissen? Hatte er wieder mal etwas verbockt? Oder veranstaltete er das Theater, weil er Geld vom Vater wollte? Etwa wieder für Drogen?

Mit einem ärgerlichen Murren stieß Hansen mit dem Fuß leicht gegen die Schublade. Verdammte Angewohnheit, das mit dem Schnaps.

Der Schweiß perlte erneut auf seiner Stirn. Hansen stand auf und öffnete das Fenster. Begierig sog er die frische Oktoberluft ein. Seit Tagen hatte er ein beengendes Gefühl, als ob sich auf seiner Brust eine fette schwarze Katze niedergelassen hätte. Vielleicht sollte er doch mal einen Arzt konsultieren. Ja, das würde er in Angriff nehmen, wenn Zeit wäre, redete er sich ein. Ein neuer Fall hatte immer Vorrang, und den hatten sie seit gestern. Alina Vollmer, eine junge Touristin aus Berlin, war in der Grotte im Burggarten von einem Unbekannten angegriffen und lebensgefährlich verletzt worden. Er brauchte alle Leute und ihren vollen Einsatz. Und was trieb Nora? Shoppen?

Sein Blick ging hinunter zum Parkplatz der Kriminalinspektion. Holger Klein und Antje Siggelkow stiegen aus einem Auto und steuerten zielstrebig auf das Gebäude zu, in dem er saß. Die beiden würden ihm berichten, wie es um Alina Vollmer stand.

Das Verbrechen hatte den Burggarten erobert! Wo sollte das enden? Direkt im Schloss?

Antje Siggelkow

Sie fuhr zum Schlosspark-Center am Marienplatz und stellte ihr Fahrzeug auf dem äußeren Parkdeck ab, wie Nora es immer tat. Die hatte ihr am Vormittag erzählt, dass sie dort im Spielwarengeschäft in der Mittagspause ein Geschenk für ihre Nichte kaufen und danach noch eine Kleinigkeit essen wollte. Das alles konnte keine Stunden dauern. Und dass Nora ihr Handy ausstellte, war für sie sehr untypisch. Antje hatte es im Büro nicht mehr ausgehalten, wo Noras verwaister Schreibtisch direkt vor ihrer Nase stand. Kurzentschlossen war sie den Spuren ihrer Kollegin gefolgt. Ohne Hansen zu informieren; aber Holger war eingeweiht. Ihm schien Noras überlange Abwesenheit egal zu sein. Die Gräfin, wie er abfällig bemerkte, würde sich schon wieder einfinden. Er war manchmal wirklich ein Blödmann.

Antje blieb im Auto sitzen, nachdem sie den Motor abgestellt hatte. Auf einmal fand sie sich selbst etwas übergriffig. War doch vorstellbar, dass Nora jemanden getroffen hatte oder einem wichtigen Hinweis zu Alina Vollmer, der Frau aus der Grotte, nachging und dabei ungestört sein wollte. So oder so, Nora hätte Hansen mitteilen können, wo sie war und warum sie sich verspätete. Der Chef war auf der Palme. Sein Gesicht war gefährlich rot, wie sie es nie zuvor an ihm gesehen hatte. Allein wegen Noras Verspätung? Oder lag es daran, dass sie und Holger keine positiven Neuigkeiten aus dem Krankenhaus vermelden konnten? Die Ärzte hatten wenig Hoffnung, dass Alina Vollmer je wieder aus dem Koma aufwachen würde. Bei ihren schweren Kopfverletzungen war es fast ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte. Und sie als Ermittler hatten keinen Ansatzpunkt, wer ihr das angetan haben könnte.

Antje stieg aus, schloss das Fahrzeug ab und begann, die geparkten Autos in Augenschein zu nehmen. Leute mit vollen Tüten warfen ihr misstrauische Blicke zu. Es war Freitag, viel Betrieb. Sie fiel auf, weil sie – gänzlich ohne Einkäufe – durch die Reihen der Autos streifte, als hätte sie die Absicht, eins zu klauen. Und was, wenn sie ihrer Kollegin hier gleich über den Weg laufen würde? Sie wäre gezwungen, Nora anzulügen oder ihr die Wahrheit zu sagen: Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Nora würde sie auslachen.

Auf einmal traute Antje ihren Augen kaum: Sie stand vor Noras neuem Auto, einem fünftürigen dunkelroten Mitsubishi, vor zwei Monaten gekauft. Na, das Auto an sich hatte wenig zu bedeuten, versuchte Antje sich einzureden.

Sie ging um den Wagen herum, ohne an ihm Auffälliges zu bemerken. Antje zog Schutzhandschuhe über und zog vorsichtig am Griff der Fahrertür. Zu ihrer Überraschung war die Tür unverschlossen. Der Autoschlüssel fehlte. Auf der Rückbank lag eine Papiertüte mit dem Logo eines Spielwarengeschäftes. Der Kofferraum war bis auf einen Regenschirm leer. Antje richtete sich auf und ließ ihren Blick über den Parkplatz streifen. Sie hatte das Gefühl, dass Nora gleich lächelnd auf sie zukommen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Antje nahm die Papiertüte in die Hand; darin ein kleiner Teddybär und ein Kassenzettel. Die Uhrzeit auf dem Kassenbon: 12. 45 Uhr. Jetzt war es 15. 32 Uhr. Antje war zutiefst beunruhigt. Aufgeregt rief sie Hansen an.

Nora

Den Schmerz an Hals und Kopf vergessend, hastete Nora auf den braunen Vorhang zu und riss ihn zur Seite. Tatsächlich eine Tür! Sie war vermutlich aus Stahl, aber auch relativ niedrig. Oben und unten jeweils ein massiver, zirka fünfzig Zentimeter langer Sperrriegel. Nora nahm ihre Kräfte zusammen und versuchte, die Riegel zu bewegen, was sie jedoch sogleich bereute. Wie ein Blitz raste der Schmerz von den Armen in Hals und Kopf und zurück. In gekrümmter Haltung wartete sie, bis der Schmerz erträglich wurde. Sie ließ von der Tür ab und sah sich um. Was, zum Teufel, war das hier? Ein Zimmer zum Überleben? Es gab ein Waschbecken, ein WC, vier stabile mannshohe Regale, zum Teil leer und zum Teil gefüllt mit Gemüse- und Obstkonserven, die leicht zu öffnen waren. Daneben andere Lebensmittel und Kisten mit Dingen des täglichen Bedarfs wie Toilettenpapier und Kerzen. Nora inspizierte das alles sehr oberflächlich, denn langsam verließ sie ihre Kraft. Sie wankte erschöpft zur Matratze zurück. Bevor sie sich setzte, zog sie ihre Daunenjacke aus und durchsuchte ihre Hosen- und Jackentaschen nach Brauchbarem. Ein enttäuschendes Ergebnis: ein Haargummi, ein bisschen Hartgeld, zwei Papiertaschentücher und der Parkschein vom Schlosspark-Center. Kein Handy, kein Schlüssel, kein Ausweis … Nora ließ die Daunenjacke auf die Erde gleiten. Sie griff sich eine Wasserflasche und nahm einen langen Schluck. Danach fühlte sie sich besser. Schalte deinen Verstand ein, forderte sie sich selbst auf. Du musst die Lage analysieren und daraus Schlüsse ziehen. Keine Panik, Nora! In den Flaschen war Wasser und wenn in den Dosen tatsächlich war, was drauf stand, würde sie vorerst weder verhungern noch verdursten. Die Kollegen suchten sicher längst nach ihr und würden sie finden. Das musste sie fest glauben.

Nora hockte mit angezogenen Beinen am oberen Ende der Matratze und bemerkte erst jetzt, dass ihre Armbanduhr fehlte. Hatte sie die verloren, als man sie hierher verschleppte? Wer sollte das getan haben? Ein Mann hätte die Entführung allein bewältigen können, eine Frau hätte dabei Hilfe gebraucht. Also ein Mann. Aber wer und warum? Leider fehlte ihr ein Großteil der Erinnerung vom Freitag. Sie war am Morgen neben Tom aufgewacht, sie hatten gemeinsam gefrühstückt – so weit war alles klar. Was den übrigen Freitag betraf, verlor sich der Faden. War überhaupt noch Freitag?

Nora streckte sich aus. Wieder diese unbändige Müdigkeit. Ah ja, sie war ganz normal zur Arbeit gefahren … ihr schönes neues Auto … ein unbekanntes Gesicht … Noras Kopf sackte zur Seite, und sie schlief ein.

Thomas Weller, genannt Tom

Was erzählte Hansen ihm da? Nora war weg, wahrscheinlich entführt? Antje hatte Noras unverschlossenes Auto auf dem Parkplatz des Centers gefunden. Der betreffende Teil des Parkplatzes wurde spurentechnisch untersucht, die Videoaufnahmen gesichert, das ganze Programm lief ab wie am Schnürchen. Hansen forderte ihn auf, sich umgehend zu melden, falls Nora in der Wohnung auftauchen oder ihn kontaktieren sollte.

Tom holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich. Alles in ihm weigerte sich zu akzeptieren, dass Nora verschwunden war. Entführt! Nein! Fieberhaft grübelte er nach, wo sie sein könnte und telefonierte in seinem Bekanntenkreis herum. Es war ein sinnloses Unterfangen. Wieso sollte Nora auch bei einem seiner Kumpels rumsitzen? Er versuchte es erneut auf ihrem Handy. Es war tot. Er hatte Nora seit dem Vormittag nicht mehr erreicht, das kam öfter vor. Deshalb hatte er sich keinen Kopf gemacht. Gewöhnlich rief er sie tagsüber immer mal zwischendurch an. Heute wollte er erfahren, ob der Tag so verlief, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ob sie das Geburtstagsgeschenk für die Nichte gekauft hatte und ob der Ballettbesuch am Abend trotz ihres neuen Falls gesichert war.

Tom war kein Theaterfreak, wie er die regelmäßigen Besucher des Staatstheaters salopp nannte. Aber zum Rockballett hatte er sich von Nora überreden lassen. Sie wollte die Aufführung unbedingt sehen. Er hatte die geheime Hoffnung, dass ihm wenigstens die Musik gefallen würde. Rockmusik, was sollte da schiefgehen? Die Theaterkarten lagen griffbereit auf der Kommode im Flur. Und was erzählte Hansen? Nora war unauffindbar? Weil sie ein paar Stunden nicht erreichbar war, sollte gleich ein Verbrechen geschehen sein?

Wie gewöhnlich, hielt Tom sich in Noras Wohnung in der Schelfstraße auf. Es war kurz vor sieben. Das Ballett sollte um halb acht beginnen. Was, wenn Nora direkt dorthin kam? Ein Hoffnungsschimmer. Kurzentschlossen nahm er sein Handy, steckte die Karten ein und lief zu Fuß zum Theater.

Nora träumt

von Tom: Wie leicht er sich anfühlte. Wie kalt sein Körper war. Und sein Gesicht, es war ungewöhnlich blass. Er fror, darauf hätte sie früher kommen können. Sie würde ihn wärmen. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus und griff ins Leere. Tom! Er war weg. Wo …?

Mit einem Schrecken schlug Nora die Augen auf. Wieder dieser verdammte Bunker! Warum war sie hier? Und wieso schlief sie überhaupt so viel und fühlte sich ständig müde? Nora roch an der angebrochenen Wasserflasche. Unauffällig. Sie prüfte die Verschlüsse der anderen Flaschen; sie waren geöffnet worden! Irgendein fieses Zeug war drin. Und wer immer das hineingetan hatte, machte sich keine Mühe, das zu verbergen. Deshalb fühlte sie sich benebelt, wie betäubt, und deshalb schlief sie dauernd. Würde sie eben Leitungswasser trinken. Sie ging zum Waschbecken und drehte den Hahn auf: Nichts! Kein einziger Tropfen! Dieser Scheißkerl!

Sie betätigte die Wasserspülung der Toilette; die funktionierte wenigstens. Notfalls konnte sie sogar das Klowasser trinken. Ob sie beobachtet und abgehört wurde? Sie konnte keine Kamera entdecken. Nora ignorierte den Schmerz am Hals und hämmerte erneut gegen die Tür. „Was willst du? Sag mir, was du willst. Warum bin ich hier? Sprich mit mir, bitte! Ich will mit dir reden. Hörst du mich?“

Keine Reaktion.

„Gib mir ein Zeichen, dass du mich hörst. Ein kleines Zeichen. Klopf gegen die Tür. Bitte!“ Absolute Stille. War sie ganz allein? War draußen niemand? Vielleicht war es Nacht, und der Entführer schlief. Ja, das war eine vernünftige Erklärung. Sie beruhigte Nora für eine Sekunde. Dann kam die Angst zurück: Was, wenn der Entführer längst abgehauen war und sie hier verrotten lassen wollte? Was, wenn ihr Verlies so tief unter der Erde lag, dass niemand sie je hören und finden konnte?

Tom

Er wartete bis eine halbe Stunde nach Beginn der Ballettaufführung vor dem Theater auf Nora. Die Besucher waren an Tom vorbei geströmt, und er hatte alle genau gemustert, als bestünde die Möglichkeit, Nora könnte sich verkleidet einschleichen.

Es fing an zu regnen. Dicke Tropfen fielen auf seine Jacke und zerplatzten. Wie Träume, dachte er. Mehr und mehr wuchs die Gewissheit, dass Nora etwas Schreckliches passiert sein musste. Und damit auch ihm. Nora würde nicht mehr kommen. Jemand hatte sie ihm entrissen und hielt sie vor ihm versteckt. Dieser Jemand konnte ihr weh tun oder hatte es schon getan.

So schnell er konnte, rannte Tom zurück zu seinem Auto in der Schelfstraße vor Noras Wohnung und fuhr zur Kriminalinspektion.

Tag 2   Samstag, am Tag nach der Entführung

Hansen

Er hatte Wochenenddienst angeordnet und war vor seinen Kollegen im Büro, um noch einmal die Lage zu überdenken. Hansen war müde, die Sorge um Nora hatte ihm den Schlaf geraubt. Er hatte Stunde um Stunde gegrübelt, was geschehen sein könnte und fand keinen Grund für ihr Verschwinden: kein übertriebener Stress in der Arbeit oder im Privatleben. Deshalb schloss Hansen ein freiwilliges Abtauchen von Nora aus. Obwohl ihm der gehässige Gedanke gefiel, sie hätte endlich erkannt, dass Thomas Weller ein unpassender Partner für sie war und sie hätte sich irgendwo eine Auszeit genommen.

Aber Nora war kein feiger Typ. Wenn sie den Weller verlassen wollte, würde sie ihn verlassen. Es passte nicht zu ihrer Art, sich ohne ein Wort abzuseilen und damit alle, die sie liebten und denen sie viel bedeutete, in Angst und Schrecken zu versetzen. Andererseits, sie hatte ihr Verhältnis monatelang vor ihrem Ehemann Robert geheim gehalten. Seit ein paar Tagen war die Katze aus dem Sack. Nora wollte ihr Leben neu ordnen und hatte mit Ehemann und Tochter über ihren Scheidungswunsch gesprochen. Das nötigte ihm Respekt ab. Er, Hansen, dagegen rang seit Jahren mit sich, ob er die Scheidung einreichen sollte, obwohl er schon lange von seiner Frau getrennt lebte.

 

Hansen hörte laute Stimmen vor dem Büro. War das etwa wieder der Weller? Wie der sich gestern Abend aufgeführt hatte. Als würden sie Däumchen drehen, während Nora womöglich in Gefahr schwebte! Unverschämtheit!

Er unterdrückte gerade ein Gähnen, als es klopfte, und seine engsten Mitarbeiter Antje Siggelkow, Gesine Romer und Holger Klein nahmen vor ihm Platz. Eine Frage brannte dem Chef auf den Nägeln, und er wandte sich direkt an Antje: „Wo ist Noras Waffe?“

„Sicher in ihrem Schreibtisch.“

Hansen nickte erleichtert; wenigstens diesen Punkt konnte er abhaken. Er schaute einige Augenblicke in die ernsten Gesichter seiner Kollegen. Sie waren seit vielen Jahren ein Team und konnten einander vertrauen. Zusammen würden sie auch diese Krise durchstehen. Und er, der Chef, musste jetzt besonders stark sein, auch wenn er sich angeschlagen fühlte.

Und so begann Hansen, wie gewöhnlich, ohne weitere Umschweife. „Seit Noras Einkauf im Center-Spielwarengeschäft um 12. 45 Uhr gestern sind gut 18 Stunden ohne Lebenszeichen von ihr vergangen. An Noras Auto wurden keine verdächtigen Spuren festgestellt. Ihr Handy ist aus und die Handtasche fehlt, in der sich Ausweis, Schlüssel und Geld befunden haben müssen. Ich habe bisher keine Idee, was vorgefallen sein könnte. Es deutet vieles auf eine Entführung hin.“

„Nora lässt niemals ihr Auto unverschlossen stehen. Zumal es neu ist“, unterstützte Antje diesen Gedanken, „die Situation auf dem Parkdeck wirkte, als wäre sie nach dem Einkauf unerwartet abgelenkt worden.“

„Zeigen die Videos vom Parkplatz was dazu? Ist Nora drauf zu sehen?“, fragte Holger.

„Ja, drei Mal“, antwortete Hansen. „Bei der Einfahrt 12. 24 Uhr mit dem Auto, wie sie gleich darauf ins Center geht und wie sie um 13. 12 Uhr mit Handtasche und Tüte das Center verlässt und in eine Richtung läuft, wo ihr Auto steht. Das ist erst mal alles. Die Videoaufnahmen werden in der KTU intensiv ausgewertet.“ Er ruckte unmerklich auf seinem Sessel hin und her, bevor er eine Tatsache aussprach, die Widerspruch hervorrufen würde: „Die Ergebnisse gehen an Gerd Pankow, Chef der Vermisstenstelle. Wir konzentrieren uns auf Alina Vollmer. Es besteht Verdacht auf Tötungsabsicht, und damit ist das unser Fall.“ Den aufkommenden Protest unterdrückte er mit einer energischen Handbewegung. „Mir wäre es auch lieber, wir könnten uns selbst um Nora kümmern. Aber ihr kennt die Regeln. Also, bitte keine Diskussion. Wir werden selbstverständlich engen Kontakt mit den Kollegen halten.“

„Das ist doch wohl ein Witz“, entrüstete sich Holger. Ja, gestern hatte er den falschen Riecher gehabt, doch inzwischen schien die Lage eindeutig: Nora war gekidnappt worden. Er lag oft quer mit ihr, aber das war vergessen. Nora gehörte zum Team, und sein Kumpel Tom war in die Gräfin immer noch über beide Ohren verliebt. „Nora ist verschleppt worden, und wir warten ab?“

„Der Chef hat recht“, entgegnete Gesine, „Nora wird vermisst. Dafür ist die Vermisstenstelle zuständig und viel schlagkräftiger aufgestellt.“

„Dann sag das mal Tom so cool ins Gesicht“, meinte Holger, „er ist völlig fertig mit den Nerven und verlässt sich auf uns.“

„Tom tut mir sehr leid“, sagte Antje mitfühlend, „wenn mein Freund ohne Vorwarnung abhandenkommen würde …“ Sie stockte und sah verstohlen zu Holger. „Das alles ist schrecklich für Tom. Jemand muss für ihn da sein, soll ich das übernehmen?“

„Thomas Weller hat Familie und Freunde, die ihn unterstützen können, wenn er das will. Hauptsache, er lässt uns unsere Arbeit machen.“ Hansen hoffte, die Gemüter würden sich langsam beruhigen. „Zurück zu Alina Vollmer, dem Opfer des Überfalls in der Grotte im Burggarten. Gibt es dazu Neuigkeiten?“

„Ich glaub, mich tritt ein Pferd“, brabbelte Holger verärgert vor sich hin. „Gehen wir einfach zur Tagesordnung über? Schön, das zu wissen! Falls man mal in eine ähnliche Lage kommt.“

„Spinnst du!“, zischte Antje ihn an.

Hansen bedachte Holger mit einem grimmigen Blick. „Wenn wir uns unbedingt mit Gefühlen beschäftigen müssen, wäre es angebracht, an Noras Ehemann und ihre Tochter zu denken. Ich habe Robert Graf gestern Abend gesprochen. Sein Kontakt mit Nora tendierte seit Wochen gegen Null, und er hat keinen blassen Schimmer, was los sein könnte. Er wollte sich gleich ins Auto setzen. Davon war er gerade noch abzuhalten. Aber heute wird er hier aufschlagen.“

„Und wo will er wohnen?“, fragte Antje, mit einer Spur Kälte in der Stimme. „Zu Noras Wohnung hat er keinen Schlüssel mehr.“

Davon hörte Hansen zum ersten Mal. Erzählte Nora tatsächlich Antje, dass sie ihrem Ehemann den Schlüssel zur Schweriner Wohnung entzogen hatte? Wieso hatte er davon keine Ahnung?

„Robert Graf wird ein Hotelzimmer finden“, grummelte Hansen, „können wir uns endlich Alina Vollmer zuwenden? Holger, was hast du rausgefunden?“

Holger schluckte seinen Ärger runter und raffte sich. „Alina Vollmer ist 37 Jahre alt, ledig, keine Kinder. Geboren wurde sie in Kiel, hat eine jüngere Schwester Carolin, lebt seit drei Jahren in Berlin und arbeitet dort in der Verwaltung eines Krankenhauses. In ihrer Freizeit singt sie in einem Chor. Zwölf Mitglieder dieses Chors machten seit Donnerstag einen Ausflug zu uns, nach Schwerin. Elf Frauen und der Chorleiter. Alina nahm dafür zwei Tage Urlaub.

Zum Donnerstag, dem Tattag. Die Gruppe reiste mit einem Schnellbus am späten Vormittag an. Sie bezogen ihre Zimmer in einem Hotel in der Goethestraße, wo alle gemeinsam zu Mittag aßen. Um 14 Uhr Besichtigung des Doms. Danach war Kuchen essen im Café Prag angesagt und ein kurzer Spaziergang durch den Schlossgarten. Wurde ja langsam dunkel. Das Schlossmuseum sollte Freitag besucht werden. Beim Spaziergang sonderte Alina sich ab, sie wollte noch einmal durch die Laubengänge laufen. Ab diesem Zeitpunkt, das war ungefähr gegen halb fünf, hat niemand mehr Alina gesehen. Der Rest der Gruppe verließ den Park gemeinsam, auch, weil es anfing zu regnen. Somit können wir die Gruppenmitglieder als Täter ausschließen.“

„Genau. Das stimmt auch mit den Ergebnissen der Befragungen überein“, fiel Antje ihm ins Wort, „keine Widersprüche in den Aussagen. Die Frauen waren sehr betroffen über den Überfall auf ihre Freundin. Eine sagte, das hätten sie sich in Berlin vorstellen können, aber bei uns in Schwerin? Am helllichten Tag dazu.“

„Kann ich mal ausreden?“, beschwerte Holger sich über die Unterbrechung.

„Bitte“, meinte Antje schnippisch.

„Mögliches Szenario zum Tathergang: Der Angriff fand ohne Vorwarnung von vorn statt. Alina hat an beiden Oberarmen ausgeprägte Hämatome. Sie wurde festgehalten und dann mehrmals mit dem Kopf kräftig gegen eine der Steinsäulen in der Grotte geschlagen. Dabei erlitt sie schwere Schädelfrakturen und wurde vermutlich ohnmächtig. Ich gehe von einem Mann als Täter aus. Er hatte wohl vor, die Verletzte in den See zu werfen, damit sie ertrinkt, falls sie noch lebte. Es gibt entsprechende Schleifspuren zum See runter. Ein japanisches Pärchen fand Alina kurze Zeit später. Alinas Handtasche wurde wahrscheinlich vom Täter mitgenommen. Im unmittelbaren Uferbereich des Sees war sie unauffindbar.“

„Die Japanerin wollte unbedingt in der Grotte fotografiert werden“, konkretisierte Gesine, „mit dem See als Hintergrund. Sie postierte sich möglichst dicht am Ufer. Dort entdeckte sie die Schwerverletzte. Es könnten schon vorher Leute durch die Grotte gelaufen sein, ohne dass ihnen etwas auffiel. Tatmotiv ist unklar. Alina trug Schmuck und Armbanduhr. Von daher kein Raub. Andererseits sind Handtasche mit Geld, Papieren, Schlüssel und Handy weg.“

„Um die Identität des Opfers zu verschleiern“, meinte Antje.

„Das ist naheliegend“, stimmte Holger zu.

„Ja, wenn wir annehmen, dass der Täter keine Ahnung hatte, dass Alina zu einer Gruppe gehörte, die sie jederzeit identifizieren kann“, überlegte Hansen.

Gesine wandte sich an Antje: „War was Auffälliges bei den Befragungen der Chormitglieder? Ich meine, hat sich jemand vom Chor über Nora aufgeregt oder Ähnliches?“

„Nein. War alles normal. Nora geht mit Zeugen immer sehr einfühlsam um.“

„Warst du dabei? Ich denke, sie hat die Frauen hier in der Inspektion befragt, und du warst zur gleichen Zeit im Hotel beim Chorleiter“, hakte Holger nach.

„Wir haben uns hinterher ausgetauscht. Wenn Nora ein Problem mit einem Chormitglied gehabt hätte, wüsste ich davon.“

Oder ich, dachte Hansen. Sein Telefon läutete. Robert Graf war angekommen.

Robert Graf

Seit Freitagmittag kein Lebenszeichen von Nora! Nein, es war unbegreiflich. Wieso sollte jemand Nora entführen?! Wo blieb die Lösegeldforderung? Keine Forderung nach Geld, keine Entführung. So einfach war das doch, verdammt! Hansen irrte sich. Die Vermisstenstelle irrte sich. Die alle mit ihren ewigen mutmaßlich, vermutlich und wahrscheinlich.

Robert lief um den Pfaffenteich. Unmöglich, jetzt im Pensionszimmer herumzusitzen, er brauchte dringend Bewegung an frischer Luft. Nora war immer gern um den Teich spaziert. Bei jedem seiner Besuche in Schwerin gehörte dieser Rundgang zum Pflichtprogramm. Aber damit war es ja seit einiger Zeit vorbei. Nora wollte sich von ihm trennen. Er hatte lange gehofft, sie würde wieder zur Vernunft kommen und den Weller in die Wüste schicken. Er wollte alles verzeihen, sich auf alle Kompromisse einlassen. Schließlich hatten seine zahlreichen Affären einen beträchtlichen Anteil daran, dass das Fundament ihrer Ehe etwas brüchig geworden war.

Doch seine Reue kam zu spät. Nora wollte ihn endgültig verlassen. Alles Bitten war vergeblich. Wie kalt sie zu ihm gewesen war. Scheidung! Und das kurz vor der Silberhochzeit!

Gleich am Tag nach diesem Telefongespräch war er nach Schwerin gefahren; ohne dass Nora davon wusste. Mit dem einzigen Ziel: Die Scheidung verhindern. Und was machte er? Lief ziellos durch die Stadt, drückte sich um ein Treffen und lungerte vor ihrer Wohnung rum. Diese peinliche Nummer hatte er natürlich vor Hansen und dem Pankow von der Vermisstenstelle für sich behalten. Obwohl es nun auch egal war. Nora wurde vermisst. Verschleppt! Hätte sie nur nie die Stelle in Schwerin angenommen! Klar, sie konnte hier wieder als Mordermittlerin arbeiten, aber privat war der Weggang von Berlin der Anfang vom Ende. Erst das Verhältnis mit dem Weller, jetzt die Entführung! Dieses Unglück betraf außer ihn und Daphne die ganze Familie, Noras Vater und ihre Brüder. Heute hatte Noras Nichte Geburtstag. Eine Feier, bei der er schon unerwünscht war. Aber wahrscheinlich fiel die sowieso ins Wasser.

Robert blieb schwer atmend stehen. Er musste den Tatsachen endlich ins Auge sehen. Es wurde Zeit, Daphne schonend beizubringen, dass ihre Mutter spurlos verschwunden war. Oder sollte er vorher mit Daphnes Freund Jakob Sieben, einem Polizisten, sprechen, damit der seine impulsive Tochter von einer unüberlegten Handlung abhielt?

Nora

Sie glaubte zu wissen, wer sie entführt und eingesperrt hatte: jemand, der bestimmte Katastrophen, wie Bürgerkrieg und Epidemien, überleben wollte. Jemand, der für einen möglichen Ernstfall einen Schutzraum, einen sogenannten Panic-Room, baute, der ihm und seinen Nächsten für einige Zeit ein autarkes Leben garantierte. Mit Wasser, Strom, Luft und Lebensmitteln. Und unter Umständen auch mit Waffen, um sich gegen Angriffe von Menschen zu wehren, die im Ernstfall Hilfe vom Nachbarn erwarteten. Die alle Warnungen in den Wind gestoßen hatten. Die niemals auch nur eine Konservendose für den Notfall vorrätig hielten.

Der Entführer gehörte zu den sogenannten Preppern. Das Wort kam vom englischen prepare, vorbereiten. Nora hatte erst kürzlich im Fernsehen einen ausführlichen Bericht über diese Leute gesehen und sich gewundert, dass jemand im Fall des Falles seine Landsleute Tage oder Monate überleben wollte, während rings herum alles kaputt ging oder verseucht wurde. Wenn die Welt zugrunde ging, machte das eigene Leben dann noch Sinn?

Nora hatte keine Waffen gefunden. Vielleicht konnte sie den Dosenöffner, den sie zu ihrer Überraschung entdeckt hatte, zur Verteidigung benutzen, oder sie konnte sich mit ihm umbringen.

Außer den vier Wasserflaschen, in denen ein Schlafmittel oder sonst eine Droge war, gab es kein Trinkwasser, auch keine Säfte oder alkoholischen Getränke. Der Entführer war offensichtlich ein Prepper, dessen Werk unvollendet und eher provisorisch war, deshalb auch die teilweisen leeren Regale. In den Dosen waren vorrangig Mischgemüse, Bohnen, Kartoffeln, Gemüsesuppen, Erdbeeren, Pfirsiche und Apfelmus. Außerdem waren ein paar Kekspackungen, Knäckebrot und Pumpernickel, Nudeln, Reis und etliche Tafeln Vollmilchschokolade eingelagert. Auch eine Wolldecke, einen Schreib- und einen Zeichenblock, Bunt- und Bleistifte und einige Kugelschreiber gehörten zur Ausrüstung.

Ob ihre Entführung etwas mit den Katastrophenvorbereitungen zu tun haben könnte? Fühlte er sich durch sie gefährdet? Hatte sie ihn gestört? Aber soweit sie sich erinnern konnte, war sie in letzter Zeit bei niemandem angeeckt. Und falls sie unbemerkt jemandem auf die Füße getreten war – es war nicht verboten, Vorräte anzulegen, wo auch immer.

Nora fröstelte in ihrem Gefängnis. Sie hockte sich auf die offensichtlich unbenutzte Matratze und schlug ihre dicke Daunenjacke um sich. Warm eingepackt, knabberte sie an Vollkornkeksen und dachte an ihre letzten Worte, die sie hinterlassen wollte. Für den Fall, ihr Leben würde in diesem Loch enden.

Tom

Er musste die Wohnung in der Schelfstraße verlassen, weil sie von der Spusi nach Hinweisen zu Noras Verschwinden durchsucht wurde. Die Aktion war für die Katz, war Tom sich sicher. Denn er hatte bereits Noras Hab und Gut durchsucht. Ihre zwei spärlich möblierten Zimmer. Wie erwartet, ohne Ergebnis.

Sie wollten gestern Abend ins Theater, und heute, am Samstag, wollte Nora zur Familienfeier nach Berlin, zu ihrer Nichte Rosalie, die drei Jahre alt wurde. Das waren die Pläne fürs Wochenende gewesen. Ansonsten war ihr gemeinsames Leben verlaufen wie immer. Einzig der Theaterbesuch war zumindest für ihn etwas ungewöhnlich. Nora zuliebe hatte er die Karten besorgt.

Wie skeptisch die Kollegen ihn beäugten! Als könnte er Nora Böses angetan haben. Seiner Nora! Er wachte jeden Morgen auf und beglückwünschte sich, dass diese tolle Frau neben ihm lag; dass sie sich begehrten. Er liebte Nora und vertraute ihr. Er war ihr treu; was keine seiner bisherigen Freundinnen von ihm sagen konnte.

Tom spürte Angst, dass nun alles kaputt ging. Er sah einen dunklen Tunnel vor sich, durch den er durch musste, ohne Gewissheit, am Ende heil herauszukommen.

Nora

Wie viel Zeit war vergangen? War schon Samstag? War gerade Nacht oder Tag? Nora rätselte, wann sie das letzte Mal in Freiheit was gegessen hatte: Freitagmittag? Dann erst wieder die Kekse in diesem Bunker. Vor ein paar Stunden? Sie kam durcheinander, weil sie so viel geschlafen hatte; wahrscheinlich auch wegen des mit irgendwelchen Mittelchen durchsetzten Wassers. Und wenn man schlief, hatte man keinen Hunger. Oder?

Egal, ob Freitagabend oder Samstag früh … alle würden sie vermissen: Tom, Daphne, Robert, ihr Vater und ihre Brüder mit Anhang. Und Hansen, Antje, Gesine. Sogar Holger, dieser ehrgeizige Jungspund.

Nora nahm eine Erbsendose in die Hand, reckte sich, versuchte, Spannung in ihren Körper zu bringen, hob den Arm und warf die Dose, ohne Kopf und Nacken zu bewegen, mit aller Kraft an die gegenüberliegende Wand. Peng! machte es hell, und die Dose fiel mit einem dumpfen Scheppern auf den Boden; nun mit einer kleinen Delle versehen. Eine Kachel hatte sie bereits auf diese Art zertrümmert und festgestellt: die Wand dahinter war aus festem Beton.

Nora wurde durstig, öffnete eine Dose Mischgemüse und trank von dem Saft.

„Du Scheißkerl“, rief sie laut, „denkst du, ich trinke dein verseuchtes Wasser? Oder aus dem Klo?“

Sie rechnete nicht damit, dass der Entführer sich zeigte. Nein, er hatte ihr den heftigen Schlag versetzt und sie hier hinein geschleift. In den Schutzraum für seine Familie. In sein Allerheiligstes. In sein geheimes Versteck. Damit hatte er es ihr verraten. Das tat kein Prepper ohne Not. Ohne existentielle Not. Etwas musste geschehen sein, was sein Leben aus der Bahn geworfen hatte. Weshalb er den Bunker aufgab, in dem seine Arbeit, seine Zeit, seine Mühen und sein Geld steckten. Weil er keine Idee hatte, wo er sonst mit ihr hin sollte. Ein Indiz, dass es eine spontane Tat gewesen war. Aber, warum?

An den Donnerstag konnte sie sich allmählich ganz gut erinnern. Büroarbeit am Vormittag, und in der Mittagspause war sie in die Altstadt gefahren. Ah ja, dort war sie Daniel Tanner begegnet.

Nora vor zwei Tagen, Donnerstag, Viertel nach 12 Uhr

„Auch mal wieder da?“ Der Mann mit dem goldenen Hut schaute kurz von seinem Bratrost auf.

„Erinnern Sie sich an mich?“, fragte Nora erstaunt zurück. Sie ließ sich ja nur ab und zu bei seinem Imbiss in der Mecklenburgstraße blicken.

„Sie sind so ziemlich die einzige, die Wurst mit Kakao will.“

„Heute auch wieder. Aber ich möchte den Kakao erst nach der Wurst.“

Sie wartete an den auf dem Bürgersteig aufgestellten Stehtischen. Es war ungewöhnlich warm für Oktober. Wenige Wolken strichen über den blassblauen Himmel. Der Wetterbericht hatte Regen für den Nachmittag vorhergesagt. Doch noch war es ein schöner Tag, den auch etliche Touristen genossen. Nora bildete sich ein, sie inzwischen auf einen Blick von den Einheimischen unterscheiden zu können.

Ihre Gedanken gingen zu Robert. Bei ihrem Telefonat, dem ersten seit Wochen, hatte sie sich taktisch sehr unklug verhalten. Fiel gleich mit der Tür ins Haus und verlangte die Scheidung. Eigentlich wollte sie ihm in einem Brief erklären, was sie zu diesem Schritt bewegte. Dass sie keine Zukunft für sie beide sah, dass sie sich gefühlsmäßig von ihm getrennt hatte und niemals und unter keinen Umständen zu ihm zurückkehren würde. Aber wie sie den Brief auch anfing, sie verhedderte sich in den mühsam formulierten Sätzen. Sie wirkten hohl und gestelzt und wenig glaubwürdig.

Robert hatte das Gespräch abrupt beendet. Ihr Wille, sich scheiden zu lassen, traf ihn offenbar heftiger, als sie angenommen hatte. Dass er noch so an ihr hing, hätte sie nie vermutet. Doch ihr Entschluss stand fest. Die unentschiedene Situation mit Robert konnte nicht ewig dauern. Sie war jetzt über ein Jahr fest mit Tom liiert und wollte mit ihm zusammen bleiben. Klar, es war ein Risiko, dass sie ein paar Jahre älter war als er. Auch wenn Tom immer sagte, dass ihm ihr Alter piepegal wäre …

„Huch!“ Nora erschrak von einer Berührung an der Schulter. „Was, zum Teufel … machen Sie denn hier, Herr Tanner?“

Daniel Tanner reichte ihr die Hand, im Gesicht ein breites, zufriedenes Grinsen. Er zeigte zwei Reihen unregelmäßig gewachsener kleiner Zähne. „Ich folge Ihnen unauffällig, Frau Kommissarin. Nein, im Ernst, ist reiner Zufall. Aber es freut mich, Sie zu sehen. Sie scheinen mir verträumt und etwas hungrig. Eine interessante Mischung.“

Nora war einige Sekunden irritiert über seine beinahe euphorisch vorgetragene Begrüßung. „Was treiben Sie in Schwerin? Sind Sie beruflich unterwegs wegen Ihrer Krimiserie? Wie hieß die noch mal?“

„SOKO Wismar. Läuft alles bestens.“ Er lehnte sich näher zu ihr über den kleinen runden Esstisch. „Jedes Mal, wenn ich in Schwerin bin, begegne ich Ihnen. Das muss was zu bedeuten haben.“

„Und was sollte das sein?“

„Wir sollten es rausfinden.“

Er hatte was von einem Kasper an sich, fand Nora. Ein verkleideter, leicht gealterter Kasper in Jeans und Lederjacke, der zweimal im Jahr in Schwerin war und dann ausgerechnet ihr über den Weg lief. Sie hatte den Regisseur der Fernsehserie vor einem reichlichen halben Jahr kennengelernt, als sie beim Ausparken sein Auto touchierte.

Ihre Bratwurst war fertig, und sie holte sie sich.

„Guten Hunger“, wünschte Daniel Tanner.

„Wollen Sie mir beim Essen zugucken? Sie haben bestimmt Wichtigeres in Schwerin vor.“

Er trank ein Bier und sah ihr beim Essen zu. „Übrigens“, bemerkte er zwischendurch, „gefallen Ihnen die Fotos von Ramses? Sie haben nie reagiert.“

Seit sie ihm einen verwaisten Kater anvertraut hatte, der nach dem Tod einer alten Dame zurückgeblieben war und den sie vor dem Tierheim bewahren wollte, schickte er ihr öfter Aufnahmen von ihm aufs Handy. Zwar ohne Kommentar, aber jedes Foto sagte ihr: Hier bin ich. Wenn Sie wollen, hier bin ich.

„Mir genügt zu wissen, dass der Kater gesund ist, Fressen und Zuneigung hat. Das glaube ich Ihnen und vor allem Ihren Kindern auch ohne Fotobeweise.“ Nora wischte sich den Mund ab, und der Mann mit dem Hut brachte ihr einen Pott mit Kakao raus. „Vielen Dank.“

„Eine weitere interessante Mischung“, wiederholte Tanner, „Bratwurst und Kakao.“

Nora trank das heiße Getränk aus, so schnell es eben ging. Sie winkte dem Verkäufer zu und wollte sich von Tanner verabschieden.

„Darf ich Sie ein Stückchen begleiten?“, fragte er.

„Ich muss Richtung Marienplatz.“

„Das passt, ist auch mein Weg.“

Seine Augen waren von einem verwaschenen Grün und erinnerten Nora an Ramses. Vielleicht war das der Grund, warum sie seine Begleitung annahm. „Aber mit den Ramses-Fotos hört es auf.“

„Einverstanden. Es sei denn, er will es unbedingt.“

„Es hört auf, Herr Tanner.“ Nora wählte den Weg durch das Kaufhaus Kressmann und die Marienplatz-Galerie, wo es kaum möglich war, nebeneinander her zu gehen und sich gleichzeitig zu unterhalten. Im Freien schob sich Daniel Tanner sofort wieder an ihre Seite. „Ich denke oft an unser Gespräch über Mordmotive. Wäre schön, wenn wir das irgendwann fortsetzen könnten. Wäre überhaupt schön, wenn wir einmal mehr Zeit miteinander hätten.“

Nora nickte abwesend, denn sie hatte auf einmal das Gefühl, beobachtet zu werden. Unauffällig checkte sie die Umgebung.

„Frau Graf?“

Nein, es war ein Irrtum, niemand folgte ihr. Es waren eben einfach viele Leute auf dem Platz. „Wie war das? Ach ja, Sie wollen sich mit mir über Mordmotive austauschen. Das mache ich lieber mit meinen Kollegen.“

„Darf ich wenigstens von einer Chance träumen?“

„Träume sind frei, Herr Tanner. Alles Gute.“

Nora im Bunker

Wie ging es nach dem Zusammentreffen mit Tanner am Donnerstag weiter? Da fehlte ihr ein Stück. Aber der Einsatz am Abend im Burggarten war einigermaßen klar. Von einem japanischen Pärchen war in der Grotte eine schwer verletzte Frau gefunden worden. Nora erinnerte sich, wie der nasse Kies unter ihren Schritten knirschte, als sie sich auf die Grotte zu bewegte. Wie im Film sah sie sich den Uferweg entlang gehen, links der See und rechts die Silhouette des Schlosses. Geradezu die Grotte, eingetaucht in das helle Licht der Scheinwerfer der Spurensicherung. Ein gespenstischer Anblick. Die zu Stelen aufgetürmten großen Steine mit ihren unregelmäßigen Spitzen, Ecken und Kanten warfen skurrile Schatten. Die Grotte ragte zu einem kleineren Teil in den See hinein. In diesem Teil hatte das Opfer gelegen, auf einem schmalen sandigen Uferstreifen. Die Frau war bereits ins Krankenhaus transportiert worden, als sie dort eintraf. Jemand machte sie auf einen stark blutverschmierten scharfkantigen Felsbrocken aufmerksam, wo der Angriff auf die Unbekannte geschehen sein musste. Wie war nur deren Name?

Inzwischen hatte Nora jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wollte auf ihren Bauch hören und schlafen, wenn sie müde wurde; essen, wenn sie Hunger spürte und ein wenig Gemüsesaft trinken, wenn sie durstig war. Sie warf keine Konservendosen mehr gegen Kacheln. Mit Lebensmitteln musste sie vorsichtig umgehen. Wenn sie überleben wollte. Überleben! Vor allem, wenn sie an Daphne dachte, schwor sie sich, nie aufzugeben. Daphne, ihr armes kleines Mädchen. Wenn die Mutter für immer verschollen blieb, wie sollte ihr Kind das verkraften?

Tom

Gerade fuhr er die Güstrower Straße entlang und wollte nach links abbiegen, Richtung Ziegelinnensee. Plötzlich lief sie direkt vor ihm. Nora! Die Größe, die blonden Haare, der zielstrebige Gang, die dunkelblaue Steppjacke. Das war Nora! Den ganzen Samstag schon suchte er sie in der Stadt. Von wegen vermisst! Ohne Rücksicht auf den nachfolgenden Verkehr zu nehmen, ging Tom voll in die Bremsen und sprang aus dem Auto. „Nora! Nora, warte!“, rief er, sprintete ihr nach und hielt sie an der Schulter fest. Die Frau befreite sich schreiend aus seinen Händen. „Lassen Sie mich los! Weg von mir! Hilfe! Hilfe!“

Tom trat von der Fremden zurück. „Bitte, entschuldigen Sie, ich habe Sie verwechselt. Tut mir sehr leid.“

„Haben Sie keine Augen im Kopp?!“ Wütend funkelte sie ihn an. „Dösbattel!“

 

Es passierte ihm heute das zweite Mal, dass er meinte, in einer blonden Frau mit einer blauen Jacke Nora zu erkennen. Er musste mit dieser sinnlosen Rumkurverei aufhören. Sie führte zu Halluzinationen, oder er wurde ganz und gar verrückt.

Tom fuhr zu seiner Wohnung in der Stauffenberg-Straße auf dem Großen Dreesch, seit Wochen das erste Mal wieder. Pflanzen gab es keine zu versorgen, ein befreundeter Nachbar rief an, falls er Behördenpost bekam, und seine am häufigsten gebrauchten Klamotten hatte er bei Nora gebunkert. Im Grunde war seine Bude überflüssig geworden. Er wollte sowieso weg von hier, seit in seinem Flur vor einem halben Jahr das tote Mädchen gelegen hatte. Eine Leiche bei ihm! Was für ein Albtraum! Nora war nachts über sie gestolpert. Wenn er dran dachte, wie couragiert sie mit dieser Katastrophe umgegangen war …

Wenn Nora zurück war, würde er ihr vorschlagen, gemeinsam in eine größere Wohnung zu ziehen. Bisher waren sie dezent um das Thema herumgeschlichen. Er, weil er sie nicht drängen, und sie, weil sie erst die Scheidung hinter sich bringen wollte. Tom vermutete zudem, dass Nora beides wollte: unabhängig sein und mit ihm zusammen. Immerhin hatte sie sich zur Scheidung durchgerungen. Die Freude, die er über diese Nachricht empfunden hatte, war restlos verflogen. Hauptsache, Nora war bald wieder gesund in seinen Armen; alles andere war im Augenblick egal.

Tom lüftete, drehte danach die Heizung hoch und inspizierte den Kühlschrank: Schmalz, Zitronensaft, ein Stück Salami, abgepackter Käse und einige Flaschen Bier. Er hatte keinen Antrieb zum Einkaufen.

Er setzte sich an den Küchentisch und öffnete eine Bierflasche. Widerwillig begann er, den kleinen Stapel Post durchzusehen, den der Nachbar ihm auf den Tisch gelegt hatte. Das meiste war Werbung; dazu eine Erinnerung von seiner Autowerkstatt, dass der TÜV fällig wurde. Tom fegte den Papierhaufen mit einer wütenden Geste vom Tisch. Da erst fiel ihm ein gefalteter weißer Zettel auf. Eine Nachricht von Nora? Rasch bückte er sich, faltete den Zettel auseinander und las: Du bist der nächste, ich kriege dich!

Hansen am Samstagabend

Kaum hatte Hansen an die Zimmertür in der Pension geklopft, wurde sie ruckartig aufgerissen. „Habt ihr Nora gefunden?“, bestürmte ihn Robert Graf.

Hansen schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nein, sonst hätte ich Sie natürlich umgehend angerufen. Ich oder einer der Kollegen.“ Er folgte Noras Ehemann in ein großes, gemütlich eingerichtetes Zimmer, an das er eine ziemlich genaue Erinnerung hatte: Hier hatte Nora in ihrer Anfangszeit in Schwerin mehrere Monate lang gewohnt. Bei seinen seltenen Besuchen hatten sie sich im Erker gegenübergesessen und spanischen Rotwein getrunken.

Nun hatte Noras Mann im selben Zimmer Quartier genommen, und auch er führte seinen Gast zum Erker, von dem aus man einen schönen Blick auf den Pfaffenteich hatte. Eine kleine Sitzgruppe aus Korbgeflecht füllte den Erker fast vollständig aus. Die Vorstellung, sich erneut in einen, für seine Körperfülle viel zu engen Sessel zwängen zu müssen, löste bei Hansen eine Schwitzattacke und einen leicht erhöhten Puls aus. Er drehte sich mit dem Rücken zu Robert Graf und tat, als genieße er die Aussicht auf den Pfaffenteich, über den sich allmählich die Dunkelheit legte. Heimlich wischte er sich den Schweiß ab, dann erst setzte er sich.

„Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Herr Kommissar?“

„Ein Glas Wasser, wenn’s keine Umstände macht. Haben Sie mit Ihrer Tochter Daphne gesprochen?“

Robert nickte, goss Wasser in zwei Gläser und nahm Hansen gegenüber Platz. „Das war ein Schock für Daffi. Sie hat mir sehr übel genommen, dass ich ihr nicht gleich Bescheid gegeben habe und ohne sie hergefahren bin. Wir müssen damit rechnen, dass sie morgen oder übermorgen hier aufkreuzt.“

„Es wird alles getan, was möglich ist, um Nora zu finden. Das versichere ich Ihnen. Deshalb rate ich, nach Berlin zurückzufahren, zu Ihrer Tochter.“

„Ich soll Nora allein lassen? Niemals! Ich bin ihr Ehemann und habe ein Recht auf umfassende Informationen. Von Allgemeinplätzen habe ich genug. Es wird alles getan und bla bla bla. Was genau unternehmen Sie?“

Hansen nahm einen Schluck. „Mein Besuch ist mehr oder weniger privat. Sie sind der Mann meiner Cousine Nora, und damit sind wir beide durch Heirat auch irgendwie verbandelt. Leider hatten wir bisher keine Zeit, uns kennenzulernen. Trotzdem, ich schlage vor, uns zu duzen. Ich bin Berthold.“

„In Ordnung. Robert. Was kannst du mir zur Lage sagen?“

„Dir ist bekannt, dass Nora kein Fall der Mordkommission ist, sondern der Vermisstenstelle. Und darüber bin ich wirklich sehr erleichtert. Selbstverständlich werde ich über die Ermittlungen der Kollegen auf dem Laufenden gehalten.“

„Schön für dich. Und was ist mit mir?“

„Wenn es eine Spur zu Nora gibt, werde ich dich sofort unterrichten. Ich weiß, das hört sich auch nach bla, bla an. Aber glaube mir, du hilfst allen am meisten, wenn du Daphne beistehst und sie von spontanen Aktionen abhältst, wie hier einfach aufzukreuzen und Hektik zu verbreiten.“

Hansen sah sich demonstrativ im Zimmer um. „Wieso bist du in diese Pension gegangen? Noras Wohnung ist frei, die Spurensicherung hat ihre Arbeit dort längst beendet, und Thomas Weller ist vorübergehend ausgezogen.“

Robert sprang aus seinem Sessel auf. „Dieser Weller! Mit dem fing das ganze Unglück an. Der ruiniert meine Ehe! Wenn ich den in die Finger kriege!“

Roberts Empörung kam Hansen etwas gekünstelt vor. Von Nora wusste er, dass beide seit vielen Jahren nebeneinander her gelebt hatten. Aber vielleicht war Noras Mann in diesen ungewissen Tagen auch besonders empfindlich und reagierte deshalb so heftig. „Ich kann dich gut verstehen. Aber bleiben wir sachlich und bei der Wahrheit. Setz dich bitte wieder.“ Hansen wartete einen Augenblick ab, bevor er seine Frage wiederholte: „Wieso bist du nicht in Noras Wohnung?“

Robert setzte sich und mit einer hilflosen Geste ließ er die Arme auf seine Oberschenkel fallen. „Ich nahm an, dass der Weller sich dort einquartiert hat, außerdem habe ich keinen Wohnungsschlüssel mehr. War‘s das, was du hören wolltest?“