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Heiner Rank

Meineid auf Ehrenwort

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-718-7 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1959 im Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin unter dem Pseudonym A. G. Petermann.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
 

Figuren und Fabel des Romans sind erfunden.

 

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Ein nächtlicher Bericht

Bei mir um die Ecke wohnt ein alter Mann, ein Rentner. Er wohnt dort seit vielen Jahren. Bis vor gar nicht langer Zeit kannte ich ihn nicht, nicht einmal von Ansehen. Solch ein Nebeneinanderhinleben ist in Berlin, an dessen Peripherie ich wohne, nichts Verwunderliches; desto verwunderlicher aber ist der Kriminalfall, der zum Erlebnisbesitz dieses alten Mannes gehört. Es ist ein großer Fall, außerordentlich verwickelt, scheinbar rätselhaft und zugleich charakteristisch für die Zeit, in der er sich ereignete. Wie ich mich überzeugte, waren sich, als man ihn löste, die meisten Zeitungen darüber einig, dass er „in die Geschichte der Kriminalistik eingehen“ werde. Er ist nicht in sie eingegangen. Er ist vergessen worden. Die Menschen haben ihn aus ihrem Gedächtnis ausgebucht, ihn abgeschrieben wie die Zeit, deren Umstände ihn hervorbrachten, wie die Brotmarken, den Rucksack, die Hefeflocken und das Alcolat, jenes merkwürdige Schnapssurrogat. Zu Unrecht?

Zu Unrecht!

Freilich: ihn hat man nicht vergessen, den alten Mann, der in meiner Nachbarschaft wohnt und dem dieser Fall Gelegenheit gegeben hat, die Klugheit, den Scharfsinn und die Energie seiner Klasse so erfolgreich mit der raffinierten Verschlagenheit ihrer Feinde zu messen.

Wilhelm Derdey ist heute neunundsechzig Jahre alt.

Sein linkes Bein, auf dem er schon lahmte, als ich ihn vor Jahren zum ersten Mal sah, ist inzwischen ganz steif geworden. Der Fußtritt eines Wachmannes hatte ihm in Buchenwald die Kniescheibe zertrümmert. Jetzt, da ich Derdey etwas näher kenne, übersehe ich auch nicht mehr, dass der Wagen des Arztes oft vor seiner Haustür hält. Abends brennt bei ihm lange Licht. Derdey liest. Oder er hat Besuch: Genossen, Freunde.

Er ist alt geworden, ein Invalide, ein Veteran, zu hinfällig, um im täglichen Dienst seinen Mann zu stehen; aber deshalb ist er nicht einsam. Man denkt an ihn, und er weiß das; und wo es ihm möglich ist, setzt er die ihm verbliebene Kraft noch opferfreudig ein für die Sache, der sein schweres Leben gewidmet war.

Bei solch einem Einsatz habe ich Derdey kennengelernt. Es war am Tage nach einer der letzten Volkswahlen. Der Zufall hatte es so ergeben, dass ich gemeinsam mit ihm im Wahllokal Dienst tat. Wir hatten Nachtwache, von null bis vier Uhr, um die Einrichtung und die Wählerlisten vor eventuellen Anschlägen zu schützen. Bis nach Westberlin ist es von uns aus nämlich nur ein paar Steinwürfe weit.

Wir hatten uns am Fenster des dunklen Wahlzimmers niedergelassen. Von dort aus konnte man den Hauseingang gut überblicken. Es war eine warme Juninacht voller Duft und Gesumme, sternklar und mondhell, eine Nacht, die jung macht und träumerisch. Obwohl wir uns beide vor romantischen Empfindungen hüteten, weil unsere heutige Aufgabe sich ganz und gar nicht mit ihnen vertrug, merkte ich doch, wie das eindrucksvolle Bild, das die glitzernden Gärten vor unserem Fenster boten, den alten Derdey in seinen Bann zog. Desto verblüffter vernahm ich seine plötzliche Frage.

„Du bist doch beim Film, nicht?“

Ich bejahte wahrheitsgemäß, und zwar mit einem leichten Seufzer, denn dergleichen bekomme ich oft zu hören. Meist folgt dann die Aufforderung, etwas von der in den Augen vieler Menschen anscheinend recht abenteuerlichen Filmarbeit zu erzählen. Aber das geschah diesmal nicht. Vielmehr begann Derdey nach Personen zu fragen, von denen ich einige aus meiner beruflichen Tätigkeit kannte. Von anderen aber – und das waren weit mehr – wusste ich nur vom Hörensagen, dass sie einmal in der Filmindustrie wichtige Posten innegehabt hatten. Direktor Peukert – Dr. Huppert – der Produktionsdirektor Düsterhöfft … Die Namen hatte ich wohl gelegentlich aufgeschnappt, und irgendwoher war mir auch bekannt, dass der eine oder der andere noch heute in wichtigen Funktionen tätig war. Aber mit unserem Filmstudio hatten sie längst nichts mehr zu tun. Issajew, der sowjetische Hauptdirektor? Aber wir waren doch schon seit Jahren kein SAG-Betrieb mehr, hatten also weder einen sowjetischen Hauptdirektor noch irgend sonst sowjetische Berater.

Ich sah zur Seite. Derdey hatte sich aus dem Fenster gelehnt. Seine buschigen grauen Haare bewegten sich im warmen Nachtwind.

„Ich habe sie alle genau gekannt“, sagte er leise, und mir schien es seltsam vieldeutig zu klingen. Ich beugte mich vor.

„Du warst auch im Studio beschäftigt?“, fragte ich verhalten. Ich glaube, es gelang mir, meine Verwunderung einigermaßen zu verbergen.

Er lächelte. Langsam schüttelte er den Kopf, ohne mich anzusehen.

„Ich war Kriminalkommissar.“

Kommissar? Plötzliche Neugier mischte sich in mein Erstaunen. Unter den jetzigen Diensträngen in der Volkspolizei gab es keinen Kommissar mehr, das wusste ich.

Ich fragte zurück, und er antwortete. Ich fragte eindringlicher, und er gab genauere Auskunft. Unversehens glitt er ins Erzählen hinüber, berichtete, redete sich warm.

In dieser Nacht bekam ich Kenntnis von dem absonderlichsten Kriminalfall, der mir seit langem zu Ohren gelangte und der es nach meiner Ansicht verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden.

Wenn ich offen sein will, muss ich allerdings sagen, dass ich zunächst recht ungeduldig Derdeys Erzählung folgte. Einesteils deswegen, weil die uns umgebende silbergesättigte Juninacht meine Gedanken nicht gerade in die Bahnen eines Kriminalfalles lenken wollte, vor allem aber deshalb, weil der Alte so lange Zeit brauchte, bis er auf den eigentlichen Kern seiner Geschichte zu sprechen kam. So glaubte ich wenigstens.

Derdey fragte mich aus, ob ich mich noch genau an die Handlung des Films „Meineid auf Ehrenwort“ erinnere, der Ende 1950 seine Premiere erlebt und dabei einen großen Erfolg errungen hatte. Als ich bejahte, genügte ihm das aber keineswegs, sondern er rekapitulierte mit mir die Vorgänge, die in jenem Film eine Rolle spielten, bis in jede Einzelheit. Nur widerwillig ging ich darauf ein. Er ließ sich aber durch nichts von seiner auffälligen Umständlichkeit abbringen, bis ich langsam begriff, wie wesentlich und wichtig die Vorgänge innerhalb des genannten Films für den sich anbahnenden Kriminalfall waren, ja, dass dessen Lösung im Grunde von ihnen abhing. Eine Tatsache, die um so verblüffender war, als sich die Verbrechen, von denen Derdey mir in jener Nacht erzählte, auch noch bei den Dreharbeiten zum „Meineid auf Ehrenwort“ ereignet hatten.

Zum Glück erinnerte ich mich wirklich noch sehr gut an den Film. Der unlängst verstorbene Heinz Weymuth hatte in ihm die Hauptrolle gespielt, einen kleinen Oberleutnant, der nichts von Hitlers Ostlandrausch hielt und trotzdem Hitlers Krieg führen half, der Hitlers Gräueltaten heimlich verdammte und trotzdem jenen Meineid schwor, der Hunderte Schuldloser an den Galgen brachte.

Der Filmanfang, der diesem Meineid voraufging, war mir als besonders einprägsam im Gedächtnis geblieben. In einer von deutschen Soldaten besetzten ukrainischen Stadt hatte der kleine Oberleutnant den durchreisenden Bruder seiner Frau getroffen, einen Fähnrich, den er in der Freude des Wiedersehens im Kasino bewirtete. Der Fähnrich war von der Front gekommen. Deprimiert, innerlich gebrochen, stieß er unter dem Einfluss des Alkohols heftige Verwünschungen gegen den Krieg und die faschistische Generalität hervor. Vergeblich versuchte der Oberleutnant, ihn zu beschwichtigen. Ein massiger Zivilist mischte sich ein, torkelte heran und bedachte den Fähnrich lallend mit Drohungen und Schimpfworten. Der setzte sich lautstark zur Wehr. Es kam zu einem Krawall, dann zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf der völlig betrunkene Zivilist eine Pistole hervorzog und den Fähnrich niederschoss. Der Schuss rief das Hauspersonal und den Standortkommandanten herbei. Aber jede Hilfe kam zu spät. Der Fähnrich war tot. Der Mörder, durch seine Untat ernüchtert, saß sprachlos am Tisch. Die Pistole war ihm entfallen. Schließlich raffte er sich schwerfällig auf, griff in sein Brusttasche, reichte dem Standortkommandanten seinen Ausweis und ging langsam hinaus.

Wenige Filmmeter später sah man, wie der kleine Oberleutnant in die Kommandantur geholt wurde. Oberst von Ganghofer, der Standortkommandant, sprach ihm in herzhaftem Bajuwarisch sein Beileid zu dem so jäh erfolgten Hinscheiden des jungen Verwandten aus. Und dann kam der Zivilist herein und schloss sich den Beileidsworten des Obersten an. Der kleine Oberleutnant stand starr, vor Verblüffung unfähig, dem Mörder die Hand zu verweigern. Weymuth spielte die Partie meisterhaft. Eine lange Zeit sah man hier nur sein Gesicht auf der Leinwand, und der Zuschauer erlebte die tiefe und vielfältig gemischte Erregung erschüttert nach, die sich in den Zügen des Schauspielers widerspiegelte. Auch mir als Filmbesucher war es in diesem Augenblick gewesen, als stiege mir vor der Unfasslichkeit der Situation das Blut zu Kopf, rausche in den Ohren und mache mich unfähig, sowohl das Vorhergegangene als auch das Kommende zu begreifen.

Und das Kommende war denn auch eigentlich unbegreiflich.

Oberst von Ganghofer legte nämlich dem Oberleutnant in wohlgesetzten Worten nahe, die Person des Mörders zu vergessen. Es war in der gegebenen Phase des Krieges nicht angängig, einen prominenten Vertreter der deutschen Wehrwirtschaft, der überdies wahrscheinlich die mannigfaltigsten Beziehungen in Richtung Führerhauptquartier spielen lassen konnte, wegen eines – wie sich der Oberst ausdrückte – an und für sich höchst bedauerlichen Vorfalls vor ein Kriegsgericht zu stellen. Andererseits läge es aber nicht im Interesse des Deutschen Reiches (und man könne es dem Herrn Oberleutnant auch nicht zumuten, denn der Erschossene sei ja sein Schwager gewesen), dass die Sache vertuscht werde. Es gelte also, die wahrhaft Schuldigen zu finden, diejenigen, die den tödlichen Schuss in ihren Wünschen und Gedanken täglich tausendfach abfeuerten, so dass es ein dem „gesunden Volksempfinden“ nach strafrechtlich nicht ins Gewicht fallender Umstand sei, dass dieses Mal eine andere Hand die Waffe gezogen habe. Die Ermordung eines deutschen Fähnrichs in Feindesland sei ihrem objektiven Tatgehalt nach ein gegen die „Neuordnung Europas“ gerichtetes Verbrechen; deshalb sei es nach germanischem Bewusstsein auch an den Feinden dieser Neuordnung zu ahnden.

Herr von Ganghofer, im Zivilberuf – wie aus dem weiteren Verlauf des Films zu entnehmen war – Landgerichtsrat in Passau, hatte das alles im belehrenden und zugleich leidenschaftslosen Tonfall einer Urteilsbegründung vorgetragen, völlig sicher und von der juristischen Legalität seines sophistischen Taschenspielertricks überzeugt. Jetzt war wieder der kleine Oberleutnant im Bild, auf den der aufgedunsene Zivilist seine tückisch abwartenden Blicke richtete. Wenn sie einschüchtern wollten, so verfehlten sie ihren Zweck, denn der andere bemerkte sie nicht. Mit ihm war eine erschreckende Wandlung vorgegangen. Was vorhin noch als Entrüstung und sprachloses Staunen, als Anzeichen von Auflehnung und Abscheu in seinem Gesicht gestanden hatte, war völlig verschwunden. Was übrig blieb, war der deutsche Untertan. Beklemmend einprägsam spielte Heinz Weymuth die völlige Aufgabe jeden Restes von Eigenpersönlichkeit und Eigenverantwortung. Ich sehe noch heute seine schweißglänzende Stirn sich beflissen und hastig neigen und habe noch immer den heiseren, aber unbedingten Gehorsam anbietenden Tonfall im Ohr, in dem er mit seinem: „Zu Befehl, Herr Oberst!“ die Szene abschloss, nachdem er sein Ehrenwort als Offizier gegeben hatte, über das Ansinnen des Herrn von Ganghofer gegen jedermann Stillschweigen zu bewahren.

Im weiteren Verlauf des Films schwor der Oberleutnant, vor einem Sondergericht als Zeuge aufgerufen, die ganze Wahrheit zu sagen, nichts zu verschweigen und nichts hinzuzufügen, so wahr ihm Gott helfe. Er berichtete, dass er den Angeklagten als den Mann wiedererkenne, der auf seinen Schwager geschossen und ihn dadurch getötet habe.

Der Angeklagte aber war ein Ukrainer mosaischen Bekenntnisses, vormals Heizer im Offizierscasino. Man hatte bei ihm ein von Partisanen verbreitetes Flugblatt gefunden. Das Sondergericht befand ihn des Mordes für schuldig und verurteilte ihn zum Tode durch den Strang. Als zusätzliche Vergeltungsmaßnahme ließ der Militärbefehlshaber der Ukraine mit dem Verurteilten noch weitere 249 Sowjetbürger jüdischen Glaubens hängen. Der kleine Oberleutnant wurde nach Frankreich versetzt, Oberst Ganghofer erhielt das Deutsche Kreuz in Gold, der Fähnrich ein Begräbnis mit militärischen Ehren und seine Angehörigen eine Feldpostkarte: Im Kampf für Führer und Vaterland fiel an der Ostfront der Fähnrich …

Nach diesem dramatischen Anfang zeigte der Film nun, wie in Frankreich die Karriere des deutschen Untertans begann, des kleinen Oberleutnants, der wegen seines Meineids auf Ehrenwort die Mächtigen in seiner Schuld wusste. Man sah den märchenhaften Aufstieg und schließlich das schmähliche Ende eines Verbrechers, der ursprünglich nur gelebt, gehofft, gezaudert hatte wie hunderttausend andere auch, der nur – wie sie – feige und gleichgültig gewesen war und dessen Schicksal gerade deshalb ein warnendes Beispiel für Hunderttausende bot und heute noch bietet.

Als ich den inhaltsreichen und eindrucksvollen Film vor vielleicht sechs Jahren im Kino sah, hatte ich nicht gewusst, unter welchen Kämpfen und Opfern er zustande gekommen war. Ich hatte auch nicht ahnen können, dass mit seiner Entstehung ein Kriminalfall verknüpft war, der gewiss zu den größten und bedeutendsten jener Jahre gehörte.

Und dass gar der Inhalt des Films, die Vorgänge in ihm, für die Lösung des Kriminalfalles wichtige Bedeutung haben sollte, glaubte ich auch dann noch nicht, als Wilhelm Derdey in jener herrlichen Juninacht bereits begonnen hatte, von seinen beruflichen Erlebnissen während der Drehzeit des „Meineid auf Ehrenwort“ zu erzählen.

Heute freilich weiß ich mehr. Dank den Aufschlüssen, die mir der ehemalige Kriminalkommissar während jener vier Wachestunden im Wahllokal gab, dank genauem nachträglichem Studium der inzwischen gelb und stockfleckig gewordenen Gerichtsakten und Vernehmungsprotokolle und nicht zuletzt dank ungezählten persönlichen Rückfragen bei Augenzeugen der damaligen Ereignisse im Filmstudio glaube ich jetzt, den Fall in seiner ganzen Ausdehnung, Verzwicktheit und Brutalität zu überschauen.

So ist denn das Folgende fast ein Bericht.

Und Wilhelm Derdey, der es in seiner Bescheidenheit eigentlich gar nicht gern hat, wenn man von ihm in der Öffentlichkeit spricht, wird es sicher verstehen, dass dabei auch seine Verdienste im Interesse der Wahrheit nicht unterschlagen werden dürfen.