Impressum

Hildegard und Siegfried Schumacher

Laternentraum

ISBN 978-3-96521-005-9 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1988 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

Anja empfand es wohltuend, dass im Bus nach Freienbruch noch ein paar Plätze frei waren. Sie fühlte sich abgespannt und zerschlagen wie nach einer schweren körperlichen Anstrengung. Dabei kam sie nur von einer Sitzung. Mit dem Freundschaftsrat hatte sie das Schuljahr ausgewertet und die ersten Pläne für das neue überdacht.

Ich hätte nicht schweigen dürfen, warf sich Anja vor, ich habe versagt. Sie sah sie vor sich, sah die Gesichter von Jens und Uta, von Ronald, Vera, Karin, von allen, die um den großen Tisch gesessen hatten. Wieder hörte sie Jens sagen, du kannst dich auf uns verlassen, mit dir schaffen wir das, und sie hörte sich antworten, klar, warum nicht, das ist zu schaffen, und die vielen Worte, die sie verbraucht hatte, Worte zwischen Wahrheit und Lüge, bei denen sie das Ich vermieden hatte. So konnte sie noch immer abspringen. Jedes Mal, wenn sie sich zur Wahrheit entschlossen hatte, verließ sie wieder der Mut.

War es denn so schwer zu sagen, hört her, Leute, im nächsten Jahr bin ich nicht mehr eure Pionierleiterin. Ihr müsst das verstehen. Ich habe die Chance, in Freienbruch als Unterstufenlehrerin zu arbeiten. Jetzt habe ich diese Chance. Kein weiteres Wort wäre nötig gewesen. Vielleicht hätte Ronald in seiner bedächtigen Art genickt. Wenn sie es auch alle verstanden hätten, enttäuscht wären sie doch gewesen. Daran hätte Ronalds Nicken nichts ändern können.

Anja erinnerte sich genau, damals, als sie in der Falkensteiner Schule anfing, hatte sie sich vorgenommen, ihre Pioniere nie zu enttäuschen. Und wenn ich es gesagt hätte? Anja kannte ihren Freundschaftsrat gut genug, um sich die Reaktion vorzustellen. Kein Ausweichen zulassend, doch leise, wie es seine Art war, hätte Ronald gefragt, warum hast du uns das nicht früher gesagt. Kein Laut sonst wäre zu hören gewesen. In solch einer Stille können leise Fragen laut, sehr laut werden. Und dann Uta mit ihren großen dunklen Augen. Wie sollte man unter solch einem Blick eingestehen, dass man im nächsten Jahr nicht mehr dabei wäre.

„Ich habe mich gedrückt“, hörte Anja sich sagen, und es kam ihr vor, als stünde sie neben sich, als wäre nicht sie es, die gesprochen hatte.

„Wie bitte?“, fragte der Mann neben ihr, der im „Sportecho“ las.

So beiläufig die Frage war, riss sie Anja in die unmittelbare Gegenwart hinein. Sie nahm nun alles überdeutlich wahr: den Mann, der wieder hinter seiner Zeitung verschwunden war, die abgegriffene Oberkante der Rückenlehne vor ihr, das Stimmengemurmel über dem Motorengeräusch und die verbrauchte Luft.

Der Bus bremste. Haltestelle Papierfabrik. Leute stiegen ein. Es waren so viele, dass der Bus zu bersten schien. Der Mann schaute noch intensiver in sein „Sportecho“. Wer nichts wahrnahm, brauchte nicht zu reagieren. Auch nicht auf die beiden Arbeiterinnen, die herangedrängt wurden und sich an den Haltegriff der Sitzbank klammerten. Anja war sonst immer aufgestanden. Sie kannte die Frauen seit Langem, so, wie man sich kennt, .wenn man oft den gleichen Bus benutzt. Die Mühe des Tages war ihnen vom Gesicht abzulesen. Anja fand nicht die Kraft aufzustehen. Ihr wurde heiß auf ihrem Sitzplatz. Sie hatte keine Zeitung, um sich dahinter zu verstecken, nicht einmal eine Sonnenbrille, deren dunkles Glas vor jedem Blick schützt. Auch vor Utas Augen. Ja, könnte man sich seine Probleme abschütteln, wie sich ein Hund das Wasser aus dem Fell schüttelt, dann störte weder Utas Blick noch Ronalds Frage, dann würde man leicht solch einen Satz hinsagen, ich höre auf. Oder man sagt gar nichts und bleibt einfach weg. Sie aber hatte sich vorgenommen, ihre Leute nie zu enttäuschen. Nie!

Und Kay? Konnte sie Kay enttäuschen? Für Anja war es selbstverständlich, Mann und Frau gehören zusammen. Wo du hingehst, will auch ich hingehen, wo du bleibst, da will auch ich bleiben. In guten wie in schlechten Tagen. Meine Sorgen sind deine Sorgen. Alte Sätze waren das. Sie hörten sich so einfach an, so klar.

Wieder hielt der Bus. Viele Leute stiegen aus, auch die beiden Arbeiterinnen. Ein frischer Luftzug wehte durch die Tür. Bei der nächsten Haltestelle musste Anja hinaus, Milch und Brot kaufen und den Jungen aus der Krippe abholen. Ihr kleiner Jan. Der Gedanke an ihn war wie ein Atemholen. Oder war es nur das Wasser–aus–dem–Fell–Schütteln?

Das Leben mit Kay und ihre Arbeit in der Falkensteiner Schule hatten nichts miteinander zu tun, aber die Zeit hatte ihr beides gleich wichtig gemacht. Oder machte sie sich etwas vor? Wenn sie Falkenstein aufgab, konnte sie trotzdem als Lehrerin weiter mit Kindern arbeiten, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Es gab dann nicht länger das Hin und Her zwischen Wohn– und Arbeitsort. Sie hatte nur eine einzige Klasse. Fast den ganzen Vormittag war sie mit ihren Schülern zusammen und konnte sich ihnen weit mehr zuwenden als eine Pionierleiterin den Kindern einer ganzen Schule. Halt! Das waren Kays Argumente. Schon einmal hatte sie sich von seinen Argumenten überzeugen lassen. Als Jan da war, hatte Kay sie überredet, ihren Studienplatz in Berlin nicht anzutreten. Der Kleine in einem Studentenwohnheim, die Unruhe, ob sie das verantworten könne. Kay hatte sie zuerst auf ein Jahr später programmiert und ihr bald die Anstellung als Pionierleiter in Falkenstein besorgt. Das Glück war damals vollkommen und die Liebe so neu und schön, und ihr Sohn brauchte sie, der hilflose kleine Sohn. Also hatte sie nachgegeben. Sollte sie wieder nachgeben?

Konnte man aber das eine gegen das andere stellen? Hier die Familie, dort die Arbeit. Denk an Jan, hatte Kay gesagt, der braucht dich, der muss seine Ordnung haben. Den kleinen Jan schickte er vor. Kay wusste genau, dass das bei ihr zog. Über die Liebe zwischen ihnen beiden, die so zart angefangen hatte und später so stark ihre Nächte bestimmte, sagte er kein Wort.. Darüber redete man nicht. Das hatte er von seiner Mutter. Trotzdem, ohne Jan hätte sie ihr Studium aufgenommen. Liebe übers Wochenende. Unbelastet. Nun hatten sie aber den Kleinen, waren verheiratet und eine Familie mit allem Drum und Dran. Der Alltag war gekommen. Ob Kay ihre Arbeit als Pionierleiterin überhaupt stören würde, nähme sie die nicht so ernst? Das konnte ihr jedoch als Lehrerin nur einer einzigen Klasse genauso passieren. Das gleiche Problem noch einmal. Und immer wieder, weil sie ihren Beruf nicht als Job ansah. Anja erschrak. Wo war sie mit ihren Gedanken hingeraten?

Sie stand auf und ging zum Ausstieg. Gleich hielt der Bus. Sie wollte schnell zu Jan. Er wartete schon immer. Kinder darf man nicht enttäuschen. Milch und Brot konnte sie nachher besorgen. Anja blickte auf die Uhr. Fünf Minuten bis Ladenschluss. Also doch erst einkaufen. Anja war als Erste aus dem Bus, rannte und kam gerade noch in die Kaufhalle hinein. Als sie auf dem Weg zur Krippe war, wurde ihr bewusst, wie oft sie hier entlanggerannt war, immer hatte sie es eilig.

„Hallo, Jan, mein Kleiner!“ Er kreischte vor Vergnügen, als sie ihn auf den Arm nahm. Er drückte und küsste sie. Viele kleine feuchte Kinderküsse. „Lass mich am Leben“, sagte Anja, „es ist schon spät.“

„Sehr spät“, bemerkte die Krippenerzieherin.

Da wusste Anja, dass Jan wieder einmal als Letzter abgeholt wurde. „Der Bus“, sagte sie schnell, obwohl es nicht daran, sondern an der Sitzung lag, die sie in die Länge gedehnt hatte, weil ihr der entscheidende Satz nicht von den Lippen wollte. „Spät“, redete Jan der Krippenerzieherin nach.

Als Lehrerin hätte sie früher frei und brauchte keine Sitzung zu leiten. Das macht der Direktor. Wäre die Zeit heran, würde sie aufstehen wie jede Kollegin mit Kleinkind und gehen.

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Anja.

„Sie können ja nichts dafür.“ Die Krippenerzieherin winkte ab und blickte Anja bekümmert an, als hätte sie Mitleid mit ihr und sich selbst. Sie strich Jan über den Kopf und sagte: „Schönen Feierabend.“

Der Wagen schob sich schwer. Kay hatte die Radlager noch immer nicht geölt. Jans Mund stand keine Sekunde still. Anja hörte nicht recht hin, antwortete aber mit ja und nein und schön und was einem so einfällt, wenn man nicht bei der Sache ist. Mit dem Brief hatte alles angefangen. Nein, der Anfang lag weiter zurück. Es hatte damit begonnen, dass sie sich immer wieder von Kay überreden ließ, das zu tun, was er wollte. Vielleicht wäre dann auch Jan nicht da. Anja blieb stehen und schloss die Augen. Der Anfang musste beim Brief liegen. Weiter zurückzudenken, wehrte sie sich. Am Montagnachmittag, als sie von Falkenstein kam, hatte sie den Brief auf dem Küchenschrank gefunden. Ihr erster Gedanke war, Kay hat vergessen, mir etwas zu sagen. Sie kam nicht gleich zum Lesen, weil Jan sie zu seinen Spielsachen zog. Auto schnell, schnell, plapperte er. Auf Autos war er genauso versessen wie sein Vater. Also spielte sie mit Jan Autorennen, und er krähte und kreischte und wieselte durch das Zimmer. Oft genug musste der Kleine auf sie verzichten, deshalb ließ sie sich Zeit für ihn. Erst als sie im Bett lag, fiel ihr der Brief ein. Sie war jedoch so abgekämpft und müde, dass sie liegen blieb.

Das Wochenende belastete sie noch. Kay hatte ihr übel genommen, dass sie am Sonnabend mit ihren Pionieren unterwegs gewesen war und er sich allein um Jan kümmern musste. Da lernt und strebt man die liebe lange Woche, hörte sie ihn sagen, freut sich auf zu Hause – und dann … Auch am Sonntag gab es Streit wie jedes Mal, wenn sie außerhalb der normalen Arbeitszeit in Falkenstein zu tun hatte. Von jeher verlangte Kay, dass sie zu Hause sein sollte, wenn er da war. Abends Versöhnung im Bett wie stets. Oder doch anders? Ja, anders, Kay hatte sich von ihr abgewandt, als wäre eine notwendige Sache erledigt. Sowie ihr das am Montagabend bewusst geworden war, hatte sie den Brief geholt. Kay tut es leid, hatte sie gedacht. Was sie las, traf sie wie ein Schlag: Wir müssen endlich wie eine normale Familie leben! Bemüh Dich um eine Stellung als Lehrerin in Freienbruch! Wenn Du den Pionierleiter nicht an den Nagel hängst, lass ich mich scheiden, sobald ich von der BPS zurück bin. Die Entscheidung liegt bei Dir. Kay.

Nur Kay, nichts weiter.

Sie kannte den Brief auswendig, so tief hatte sich jedes Wort eingeprägt. Die Entscheidung lag bei ihr. Kay schob sie ihr zu. Das kann nicht sein, hatte sie gedacht, wir müssen miteinander reden. Im gleichen Moment wusste sie, dass es für ihn nur ein Thema gab: Hör auf als Pionierleiter! Als ob ihre Arbeit nichts wert wäre! Sie konnte nicht verstehen, dass Kay das von ihr verlangte, er, der gute Genosse, der hervorragende Facharbeiter, der Schüler der Bezirksparteischule.

Und wenn Kay recht hatte? Er und der kleine Jan waren genauso wichtig wie die Arbeit. Vielleicht lag die Schuld wirklich bei ihr, weil sie es nicht fertigbrachte, beides in Einklang zu bringen. Nicht aus noch ein hatte sie in jener Montagnacht gewusst, war vom Fenster zur Tür und von der Tür zum Fenster gewandert, immer auf und ab, und am Morgen war sie zum Schulrat gegangen. Er hatte schon einmal geholfen. Überstürzt hatte sie ihm ihr Anliegen zu erklären versucht, aber sie brachte nur verworrene Sätze hervor, aus denen er nicht klug werden konnte. Deshalb gab sie ihm den Brief. Der Schulrat las ihn. Sein Gesicht wurde ernst. Dann lächelte er jedoch und meinte, so schlimm würde es wohl nicht werden. Sie hatte ihn ratlos angeblickt, sodass er sagte, dein Mann ist Genosse, da wird er dich schon verstehen. Hat er dich nicht immer verstanden und sich um Hilfe bemüht? Sprecht euch miteinander aus!

Was sollte sie darauf antworten? Sie schaute ihn noch ratloser an, und er erinnerte sie, dass ihre Anstellung als Pionierleiter doch einmal Kays ausdrücklicher Wunsch gewesen sei, und Streit gäbe es in jeder Ehe.

Damals wollte er das, hatte sie geantwortet. Es war ihr schwergefallen, dem Schulrat alles einigermaßen geordnet darzulegen, doch er zeigte sich geduldig und bekam mit, dass die Geschichte verfahrener war, als er geglaubt hatte. Schade, sagte er schließlich, du hast deine Arbeit als Pionierleiterin sehr ordentlich gemacht, aber Lehrer für die Unterstufe werden auch gebraucht. Er wollte sehen, ob sich eine Möglichkeit biete, und dann mit der Kreisleitung der FDJ reden. Sogar ein aufmunterndes Wort fand er zum Abschied: Kopf hoch, Mädchen, das kriegen wir hin.

Anja wartete. Da Kay am Wochenende nicht nach Hause kam, weil die Schüler der Bezirksparteischule eine Exkursion machten, um das Leben in der Praxis zu studieren, blieben ihr fast zwei Wochen Zeit. Der Schulrat arbeitete schnell. Am Freitag kam der Bescheid, dass sie in der Kreisstadt anfangen könnte. Zu Beginn der Woche wusste der Falkensteiner Direktor von ihrer Veränderung. Er bedauerte, dass sie gehen wollte. Als sie zu einer Erklärung ansetzte, hatte er abgewinkt, er verstehe sie schon, viele Kolleginnen hätten ähnliche Probleme. Dann war er ans Fenster gegangen und hatte auf den Schulhof hinuntergesehen. Pausenlärm drang herauf. Er ließe sie wirklich sehr ungern gehen, hatte er wiederholt und sich dann kurz umgedreht. Den Schülern müsse sie es selbst sagen, sie habe doch morgen Freundschaftsratssitzung.

Anja hatte genickt, denn sie hielt das für selbstverständlich. Was war schon dabei? Eine einfache Mitteilung war abzugeben. Weiter hatte sie nicht darüber nachgedacht. An Kay dachte sie, an ihr gemeinsames Leben, den kleinen Jan, und sie war glücklich, weil sich alles so einfach gefügt hatte.

Noch während sie zu der Sitzung ging, glaubte Anja, es wäre eine Kleinigkeit, die paar Worte auszusprechen. Als jedoch alle auf sie zustürmten, erzählten, fragten, als sie aus jedem Blick Vertrauen las, begriff sie, dass das ein Ergebnis ihrer Arbeit war. Sie rechneten mit ihr, und nicht einer dachte an die Möglichkeit, dass sie gehen könnte. Nein, sie hatte die paar Worte nicht herausbekommen. Sie wollte die enttäuschten Gesichter, vor allem die Betroffenheit in Utas großen dunklen Augen nicht sehen müssen. Sie durfte ihre Arbeit nicht einfach in Stich lassen, das war wie Fahnenflucht. Nicht nur für ihre Familie, sondern auch für die Schule war sie verantwortlich. Einen Moment lang dachte Anja sogar, Kay erpresst mich mit seinem Brief, aber sie schob den Gedanken so schnell fort, wie er gekommen war.

„Mammi, Auto!“, krähte Jan. Wie ein Motor begann er zu brummen, und sie begann zu laufen, bis ihr die Luft ausging. „Kein Benzin mehr, Jan.“

„Auto tanken“, forderte er.

„Morgen, heute ist die Tankstelle zu.“

„Zu“, wiederholte er, „tanken zu.“

Anja stellte den Sportwagen im Kellergang ab und trug Jan zur Wohnung hinauf. Für sein langsames Tempo beim Hinaufsteigen fehlte ihr an diesem Tag die Geduld. Anja gab ihm seine Lieblingsbausteine und drehte den Fernseher an. Sonst speiste sie Jan nicht damit ab. Anja packte Milch und Brot aus, ließ beides stehen, anstatt es wegzuräumen, lief ins Schlafzimmer, um Jans Sachen in den Schrank zu hängen, als sie ihr aber aus der Hand fielen, hob sie sie nicht auf, trat ans Fenster und starrte hinaus.

„Mammi, Sandmännchen“, rief Jan. Er kam und zog Anja ins Wohnzimmer. Sie musste sich zu ihm auf den Teppich setzen. Jan begrüßte den Sandmann und kommentierte, was er sah. Der Abendgruß war vordergründig und didaktisch. Alles lief glatt, und die braven Kinderchen taten alles, was brave Kinderchen tun sollen. Anja knipste den Fernseher aus und sagte: „Spiel mit den Bausteinen, Jan.“

„Haus bauen“, sagte er.

„Bau nur“, sagte Anja und ging in die Küche. Auf dem Schrank lag der Brief. Erst schob sie ihn zur Seite, dann steckte sie ihn zwischen die Kochbücher, damit sie ihn nicht fortwährend sehen musste. Zwecklos, dachte sie gleich darauf, du kannst dir das Wasser leider nicht aus dem Fell schütteln. Sie zog den Brief hervor und las ihn noch einmal. Wann hatte es wirklich angefangen? Solange sie das kleine Mädchen für Kay war, die junge Mutter, die nichts außerhalb der Familie kannte, so lange war alles gut gegangen. Wenn sie es genau bedachte: Je mehr sie in ihrer Arbeit aufging, desto unzufriedener wurde Kay. Vielleicht auch mit sich. Oft hatte er gesagt, kannst du nicht endlich aufhören, von deiner Schule und deinen Gören zu reden, jetzt ist Feierabend, ich juble dir ja auch nichts von unserer Autobude vor. Manchmal war es ihr vorgekommen, als ärgerte er sich, dass sie Erfolg hatte. Vielleicht fürchtete er, weniger zu gelten und zurückzubleiben. Vielleicht wollte er ihr seine Bedeutung beweisen, als er die Delegierung zur Bezirksparteischule angenommen hatte. Du wirst schon sehen, ob du ohne mich fertig wirst, hatte er vielleicht auch gedacht. Sie war fertig geworden. Er bekam es an jedem Wochenende mit.

Nein, mit dem Brief hatte es nicht angefangen. Anja sehnte sich nach den Tagen, an denen sie glücklich war. Unbeschwert. Verliebt. In der zwölften Klasse hatte sie Kay kennengelernt. Auf ihrer ersten großen Reise war es, einer Auszeichnungsreise nach Moskau. Sie hatte sie für ihre gesellschaftliche Arbeit von der FDJ bekommen. Anja erinnerte sich genau, und wie ein Film zog an ihr vorüber, was sie damals erlebt hatte.

2. Kapitel

„Anja, hast du das blaue Kleid eingepackt? Ihr werdet bestimmt ins Theater gehen“, sagte die Mutter, „und du kannst doch nicht in Jeans …“

„Alles erledigt“, unterbrach Anja sie, „die Reisetasche ist zu.“ Natürlich war das blaue Kleid nicht drin. Die helle Bluse zur dunklen Hose genügte völlig. Anja hatte nicht vor, sich allen guten Ratschlägen zu fügen. Mehr als genug musste sie schon über sich ergehen lassen: von der FDJ, denn schließlich war es eine Auszeichnungsreise, von ihren Mitschülern, der Mutter und den beiden jüngeren Brüdern, und sogar die kleine Schwester hatte ihre Nase überall hineingesteckt. Jaja, hatte Anja zu jedem gesagt und nur das beherzigt oder eingepackt, was sie nützlich fand. Sie war froh, als sie endlich neben dem Vater im Auto saß, der sie zum Treffpunkt in die Bezirksstadt fuhr, weil die Verkehrsverbindungen zu so früher Morgenstunde ungünstig waren. Der Vater hatte sich als einziger mit Reiseratschlägen zurückgehalten. Er sagte auch jetzt nichts. Konzentriert blickte er auf die Straße. Das Scheinwerferlicht bahnte eine helle Schneise in die dunkle Landschaft. Anja sah die Bäume links und rechts wie große graue Ungetüme auftauchen und zurückbleiben. Etwas sonderbar war ihr doch. Es war ihr erster Flug, rund zweitausend Kilometer bis Moskau. Anja kannte Ostsee, Harz, Dresden und Thüringen vom Familienurlaub. Ins Ferienlager war sie gefahren, seit der neunten Klasse als Helfer. Noch nie war sie im Ausland gewesen. Sie kannte niemand aus der Reisegruppe. Anja empfand es tröstlich, dass der Vater neben ihr saß. Für einen Moment legte sie ihr Gesicht an seine Schulter und spürte den rauen Stoff seiner Jacke. Der Vater begann zu reden. Seine vertraute Stimme über dem Motorengeräusch beruhigte sie. Fliegen sei schön, es werde ihr gefallen, und wenn sie wiederkomme, dann stehe Freienbruch noch auf demselben Fleck. Sie aber wisse mehr von der Welt. Er sprach vom Kreml, von anderen Sehenswürdigkeiten und was sich in Moskau seit alters her ereignet hatte. Einen regelrechten Vortrag hielt er ihr. Anja musste lächeln. Der Geschichtslehrer brach beim Vater wieder einmal durch. Das kannte sie genauso wie die fortwährenden Gespräche über die Schule. Wenn beide Eltern Lehrer sind, ist man daran gewöhnt. Anja hatte es nie gestört. Sie wollte selbst Lehrerin werden. Ihr Studienantrag wurde bald eingereicht, und wenn alles klappte, würde sie im nächsten Jahr um diese Zeit Vorlesungen und Seminare besuchen. Lehrer, dachte Anja, ein schöner Beruf. Wenn man dazu passt, sagte die Mutter immer. Anja glaubte fest, dass sie dazu passte. Sie hatte keine Schwierigkeiten, mit kleinen oder großen Schülern zurechtzukommen, wie sie in den Ferienlagern festgestellt hatte.

Der Vater redete noch immer, leiser jetzt, und plötzlich bemerkte Anja, er sprach von sich, von einem Sommerabend in Moskau. Am Puschkindenkmal hatte er auf einer Bank gesessen, nicht mit der Mutter, mit einer anderen Frau. Puschkinverse hatte sie gesprochen, und sie waren Arm in Arm die Allee hinuntergegangen, im Dunkel der Bäume, durch das hie und da Laternenlicht fiel.

Anja war verwirrt. Ihr Vater mit einer anderen Frau? „Kanntest du Mutter schon?“

„Das war, als deine kleine Schwester unterwegs war.“

Anja glaubte nicht richtig zu hören. „Du hast da mit einer andern …“ Sie verstummte und fühlte sich noch verwirrter.

Der Vater lachte leise. „Anja“, sagte er, „es ist anders, als du denkst. Trotzdem war es Liebe.“

„Platonisch“, platzte Anja heraus.

Wieder lachte der Vater. „Meinetwegen platonisch.“ Dann sagte er ernst: „Weißt du, es war eine Übereinstimmung der Gedanken. Wir wussten voneinander, was wir dachten. Wir brauchten kaum ein Wort davon auszusprechen. Es war so leicht, leicht wie ein Hauch, so schön.“

„Hast du Mutter davon erzählt?“

Der Vater schüttelte den Kopf. „Warum sollte ich ihr das Herz schwer machen.“

„Aber wenn nichts gewesen ist?“

„Anja“, sagte er, „darüber hätte deine Mutter anders gedacht.“

„Du hast niemand davon erzählt?“

„Niemand. Nun fährst du dorthin. Alles wurde wieder lebendig. Vielleicht gehst du dieselben Wege wie ich.“

Der Vater schwieg eine Weile, und dann erfuhr Anja, dass er damals auch eine Reise als Auszeichnung bekommen hatte. Die Frau war die Dolmetscherin und verheiratet und hatte Kinder wie er. Sie hatten nie wieder voneinander gehört. Und ganz unvermittelt sagte er: „Pass gut auf dich auf, Tochter.“

Sie saßen still nebeneinander. Das Motorengeräusch war da und die Scheinwerfer, die die Dunkelheit zerschnitten. Anja war noch immer verwirrt, und doch glaubte sie den Vater zu verstehen. Dass er ihr das erzählt hatte! Sie sah die beiden unter den dunklen Bäumen und die Lichtinseln von den Straßenlaternen,. Erinnerung war geblieben. Leicht wie ein Hauch, dachte Anja, und schön. Wieder legte sie ihr Gesicht an die Schulter des Vaters. Näher als je zuvor war er ihr.

Sie passierten das Ortseingangsschild der Bezirksstadt. Kleine Häuser, Neubauviertel, die Magistrale und die alte Straße zum Bahnhof. Der Vater fand einen Parkplatz, und sie stiegen aus.

Am Treffpunkt vor der Bahnhofshalle hatten sich bereits eine Menge junger Leute versammelt. „Gehörst du auch dazu?“, fragte ein Mann, der eine Liste in der Hand hielt. Anja nannte ihren Namen. „Anja Donath“, wiederholte der Mann, fuhr mit dem Kugelschreiber suchend über das Papier und hakte ab. „Ausweis, FDJ–Bluse, Freundschaftsgeschenk, alles da?“

„Alles“, bestätigte Anja.

Der Mann wandte sich ab. Sympathisch erschien er ihr nicht. Nicht einmal die Hand hatte er ihr zur Begrüßung gegeben. Der Vater bemerkte ihre Enttäuschung. „Gib ihm ’ne Chance, jeder Mensch ist entwicklungsfähig, vielleicht sogar der“, sagte er, während er sie umarmte. „Nun mach’s gut! Tschüss, Große.“

Er ging. Anja sah ihm nach. Obwohl sie dicht bei den andern stand, fühlte sie sich allein. Der Vater drehte sich um, winkte noch einmal, stieg in das Auto und fuhr davon. Sehr allein fühlte sie sich.

Ein junger Mann trat auf sie zu und fragte, woher sie käme.

„Freienbruch“, sagte Anja.

„Ich auch, irgendwie kommst du mir bekannt vor.“

Freienbruch war keine Weltstadt. Trotzdem, Anja kannte ihn nicht. Als sie ihm das sagte, meinte er, das würde er gleich ändern. „Höfel“, stellte er sich vor, „Kay Höfel. Ich arbeite beim Kraftverkehr. Schlosser.“

„Richtiger?“

„Autoschlosser, ausgelernt, drei Jahre Armee, drei Jahre im Beruf.“

So ein Alter, dachte Anja, mindestens vierundzwanzig oder fünfundzwanzig, den kann ich überhaupt nicht kennen. Da er sich vorgestellt hatte, tat sie es auch.

„Ist der alte Donath dein Vater?“

„Ist er“, sagte Anja, „aber alt finde ich ihn wahrhaftig nicht. Woher kennen Sie ihn?“ Sie traute sich nicht, ihn mit Du anzusprechen bei den vielen Jahren, die sie auseinander waren.

„Dein Vater, das Geschichtsass von Freienbruch, ist doch stadtbekannt. Im Übrigen sag Kay und du, wir sind alle FDJler.“

„Du wohl gerade noch“, sagte sie.

Er lachte. „Vierundzwanzigdreiviertel“, sagte er. „Zufrieden?“

„Klar. Ganz schön alt.“

„Aber aus dem Kindergarten bist du auch raus?“

Er sollte sich nicht einbilden, dass er sie wie ein kleines Mädchen behandeln könnte. „EOS, zwölfte Klasse.“ Dass sie noch nicht ganz achtzehn war, brauchte er nicht zu wissen.

Er grinste, als könnte er ihre Gedanken lesen. Sie merkte, dass sie rot wurde, und beugte sich zu ihrer Reisetasche, als müsste sie etwas daran ordnen. Er kam ihr zuvor und nahm die Tasche. „Schnell, der Bus!“ Ihre Tasche links und seine rechts, eilte er mit großen Schritten auf den stoppenden Bus zu. Sie musste Kay folgen, ob sie wollte oder nicht, wurde jedoch abgedrängt, und als sie endlich eingestiegen war, hatte er schon das Gepäck verstaut und den Platz neben sich für sie freigehalten. Darum hatte sie ihn zwar nicht gebeten, aber seine Hilfsbereitschaft gefiel ihr, und er war aus Freienbruch, ein Stückchen von zu Hause. „Danke“, sagte Anja, „das hast du gut gemacht.“

„Ehrensache, schließlich sind wir beide das Freienbrucher Team.“

„Alle drin?“, fragte der Mann mit der Namensliste. Weil alle weiterredeten und ihm niemand antwortete, begann er die Insassen zu zählen. Als er fertig war, winkte er einen Mann im Blauhemd herein. Mitte Dreißig schätzte Anja ihn. Er ließ sich vom Busfahrer das Mikrofon geben. „Eins, zwei, drei, überall zu hören?“ Als das auch von der letzten Bank bejaht wurde, stellte er sich als Mitarbeiter der FDJ-Bezirksleitung vor. Jugendfreunde“, begann er, „ich gratuliere euch im Auftrag der Bezirksleitung zu dieser Reise. Ihr gehört zu den aktivsten Jugendfreunden unseres Bezirks. Euch verdanken wir …“

Was er ihnen verdankte, überhörte Anja, denn Kay sagte zu ihr: „Zählen kann er, und nun noch ’ne Rede, das wird dauern.“

Inzwischen hatte der Jugendfreund ein Manuskript aus der Tasche gezogen und las ab. Er vergaß keine der immer wieder benutzten Redewendungen. „Lauter alte Hüte“, flüsterte Kay und gähnte. Auch die beiden auf der anderen Seite des Ganges gähnten. Der Jugendfreund ließ sich nicht davon beeindrucken. Er las weiter. Als aus dem Hintergrund ein Schnarchen laut wurde, hatte er den Schlusspunkt erreicht, wünschte allen eine schöne und erlebnisreiche Fahrt und sagte: „Freundschaft!“ Nachdem er das etwas müde Freundschaftsecho entgegengenommen hatte, stieg er aus und gab durch ein Handzeichen dem Fahrer die Starterlaubnis.

Der Mann mit der Liste hatte das Mikrofon wie einen Stafettenstab übernommen. Er heiße Gerhard Klein, sagte er, und sei der Reiseleiter. „Ihr dürft Gerhard zu mir sagen.“ Als drei oder vier Mann klatschten, wehrte er ab: „Nicht doch, Jugendfreunde, nicht doch! Nun kommen wir dazu, was wir dürfen und was nicht.“ Die Anzahl der Verbote war größer. .Jugendfreunde, wir müssen uns diszipliniert an die Anweisungen halten. Wir vertreten die Republik.“ Damit gab Reiseleiter Gerhard Klein das Mikrofon ab und setzte sich.

„Wir hätten uns gleich in Schönefeld treffen können“, sagte Anja.

„Es wäre schade um die schönen Reden“, bemerkte Kay. „Wo hätte man die in Schönefeld halten sollen? Im Bus ist das viel intimer.“

Er gefiel Anja. Der leicht ironische Ton hätte ihrem Vater auch gefallen. Als sie an ihn dachte, erinnerte sie sich, dass Kay ihre Frage nicht beantwortet hatte. „Warst du sein Schüler?“

Er blickte sie verwirrt an. „Ein Schüler vom alten Donath“, ergänzte sie.

„Nein, aber dein Vater ist bekannt, er sitzt doch überall drin, auch bei den Stadtverordneten.“ Kay lächelte und fügte hinzu: „Und alt ist er wirklich nicht.“

„Dein Glück“, sagte sie. Mit ihm ließ sich gut reden. Das fand Anja ebenfalls sympathisch. Kay erzählte ihr, dass er bei Verwandten in der Bezirksstadt übernachtet habe, wo er sein Auto unterstellen konnte.

„Du hast ein eignes Auto?“ Noch nicht fünfundzwanzig und schon Autobesitzer. Anja wusste, wie lange ihre Eltern dafür gespart und darauf gewartet hatten und wie stolz der Vater gewesen war, als es endlich vor dem Haus stand. „Trabbi?“

„Lada.

„Ist ja toll!“

Er winkte ab, als wäre das nicht so wild. „Altgekauft und billig. Bei drei Jahren Armee kann man ’ne Menge sparen, wenn man will, aber einen Neuen hätte ich mir nicht leisten können. Hab viel Arbeit hineingesteckt, und die Ersatzteile …“ Er winkte noch einmal ab. „… schließlich arbeite ich in ’ner Ladabude.“

„Aha“, sagte Anja, als wäre ihr alles klar.

„Hab die Karre völlig auseinandergenommen und neu aufgebaut. Mit den Händen hier!“ Er hielt sie ihr hin. „Gespritzt hab ich den Lada auch selbst.“

„Farbe?“

„Typisch Frau“, sagte er, „Farbe ist am wichtigsten. Also grün.“

„Armeegrün?“

„Hoffnungsvoller. Atlantik.“

Um nicht wie dumm dazustehen, sagte Anja wieder: „Aha.“ Atlantikgrün. Schade, dass sie noch nie am Atlantik war.

Kay erzählte weiter von seiner Armeezeit. Er hatte dort fast nur als Schlosser gearbeitet. „In der Werkstatt war ich der halbe Boss, kaum ausgelernt. Die Chance! Wo ich überall rankam, was ich entscheiden musste, du, da hab ich was gelernt. Verstehst du?“

„Ja“, sagte Anja, denn das verstand sie. Ernst genommen zu werden, selbstständig zu arbeiten und etwas zustande zu bringen, wünschte sie sich auch. Zu Hause war sie die Älteste unter den Geschwistern. Da fiel schon manchmal eine Entscheidung an. Ihre Eltern nahmen sie in gewisser Weise ernst, aber im Grunde blieb sie doch das Kind. Und in der Schule? Meist Gängelei. Wenn man tat, was gewünscht wurde, bekam man sogar eine Reise. Kay wirkte so sicher. Vielleicht kam daher sein Erfolg. Anja hörte ihm gern zu, als er weiter von sich erzählte. Er lebte mit seiner Mutter zusammen, sein Vater war seit Langem tot. Über die Sorge der Mutter machte sich Kay ein wenig lustig. Trotzdem hing er sehr an ihr. Anja spürte es aus jedem Wort, und das machte ihn noch sympathischer. Weil er seine Mutter so bald wie möglich entlasten wollte, hatte er die EOS ausgeschlagen und gleich nach der Zehnten die Lehre aufgenommen. Kay plinkerte Anja zu und meinte, große Lust auf Schule habe er nicht mehr gehabt.

„Wie Thomas“, sagte Anja. Weil Kay sie fragend anblickte, fügte sie hinzu: „Mein Bruder. Der will auch nicht auf die EOS, obwohl ihn meine Eltern laufend bearbeiten.“

„Ach so, bloß dein Bruder. Also bei einem Jungen halte ich EOS nicht für erstrebenswert, wenn er ’nen Kopf und geschickte Hände hat.“

Anja war zwar anderer Meinung, doch sie protestierte nicht. Kays Stimme klang so angenehm. Mit den Jungen in ihrer Klasse war er nicht zu vergleichen. Er war stärker, erwachsener, ein richtiger Mann eben, und er war stolz darauf, dass er sehr gut verdiente und seine Mutter unterstützen konnte. Eine Jugendbrigade leitete er, und für ihre hervorragenden Leistungen hatte er die Reise erhalten. „Du weißt doch“, sagte er, „die Verantwortlichen bekommen das längste Ende der Wurst.“

Anja widersprach nicht, obwohl sie diese Einstellung nicht teilte. Ihre Eltern dachten ebenfalls anders. Aber auch sie hatte die Auszeichnungsreise bekommen, weil sie der FDJ-Sekretär ihrer Klasse war. Bisher war ihr das nicht aufgefallen. „Ist das immer so?“

Ein wenig zögerte Kay mit der Antwort. „Immer wohl nicht.“

Anja war beruhigt. Das längste Ende von der Wurst. Sicherlich war es eine ironische Anmerkung, weil er solche Bevorzugung ablehnte. „Du musst eine tolle Stellung im Betrieb haben.“ Anja bewunderte ihn. Kay war wirklich ein Mann, der sich auskannte und mit beiden Beinen auf der Erde stand.

„Hätte ich nicht solch einen prima Job bei der Armee gehabt, wäre ich ziemlich grün zurückgekommen. Als Jungfacharbeiter nimmt dich keiner für voll, aber die alten Hasen haben Augen gemacht, als sie sahen, was ich brachte. Als der Brigadier krank wurde, musste ich ihn vertreten. Da sind einigen im Betrieb ganz schön die Kinnladen runtergeklappt. Später habe ich dann den Vorschlag mit der Jugendbrigade gemacht, und das läuft.“ Kay zog eine Taschenflasche hervor und schraubte sie auf. „Auf die Brigade“, sagte er und trank. Danach reichte er sie Anja. Ohne zu zögern, nahm sie einen Schluck, obwohl sie sich aus Schnaps nichts machte. Einem Brigadier wie Kay wollte sie jedoch zutrinken. Der Klare brannte so, dass sie sich schnell abwandte. Sie riss sich zusammen, um das Schütteln zu unterdrücken. Kay bemerkte es zum Glück nicht. Die Banknachbarn wollten auch etwas haben, und er reichte die Flasche hinüber.

„Jugendfreunde, so nicht“, protestierte der Reiseleiter und war erstaunlich fix heran. „Denkt an die Disziplin!“ Die Taschenflasche war leer. Der Jugendfreund, der sie ausgetrunken hatte, hielt sie ihm freundlich lächelnd entgegen. „Wir haben bloß auf Kays Jugendbrigade angestoßen, Gerhard.“

„Und du musst auch darauf trinken“, meldete sich einer von hinten. Er kam mit einer vollen Flasche und drückte sie dem widerstrebenden Reiseleiter in die Hand. „Oder willst du die Brigade beleidigen, Gerhard?“

Der Flaschenbesitzer war groß und sehr kräftig. Der Reiseleiter nahm einen kleinen Schluck.

„Mehr, Gerhard! Wenn du auf eine ordentliche Brigade keinen ordentlichen Hieb nimmst, setzen wir dich auf der Stelle ab.“

„Ist ’ne große Brigade, Gerhard“, rief einer, „die verlangt ’nen großen Schluck!“

„Prost, Jugendfreunde!“

„Noch ’nen Schluck, Gerhard!“

Durcheinanderrufen., Lachen. Anja fand es abstoßend, aber sie traute sich nicht, etwas zu sagen. In dem Augenblick bremste der Bus. „Flasche weg!“, forderte der Busfahrer durch das Mikrofon. „Sonst steigt der Besitzer aus!“

Der Große ließ die Flasche verschwinden. Er fiel auf seinen Platz und muckste sich nicht mehr.

„Ich hätte das nicht anfangen dürfen“, sagte Kay. „Wenn die sich volllaufen lassen, gibt es im Flugzeug womöglich Schweinerei.“

„Bist du schon geflogen?“

Kay nickte. „Hast du Angst?“

„Ein wenig“, sagte Anja.

„Es wird dir gefallen“, sagte er.

Inzwischen war es hell geworden. Der Bus verließ die Autobahn und bog in eine breite Straße ein. Anja sah zur Uhr. Zu Hause waren sie beim Aufstehen. Die Brüder knurrig, weil sie gern weitergeschlafen hätten, die lütte Doreen unternehmungslustig wie immer. Bestimmt hatte die Mutter, als der Vater aus der Bezirksstadt zurückgekommen war, schon das Frühstück fertig und wartete, was es zu erzählen gab. Auf dem Flughafen konnte man Ansichtskarten kaufen. Anja wollte sofort nach Hause schreiben. Von Moskau ging die Post sicherlich länger, als die Reise dauerte. Und doch sieben lange Tage! Sie blickte Kay an. Vielleicht ging sie mit ihm zum Puschkindenkmal und durch die Allee im Licht ferner Laternen.

Der Bus hielt. Kay blieb an Anjas Seite. Er kümmerte sich um das Gepäck, und sie schaffte es, die Karte zu besorgen und zu schreiben. Nur eine Briefmarke bekam sie nicht. Anja steckte die Karte unfrankiert ein. Der Mutter machte das Strafporto nichts aus. Hauptsache, sie hatte Post.

Im letzten Augenblick kam Anja zur Abfertigung, wo Kay schon nach ihr ausguckte. „Endlich, ich dachte schon, wir müssten ohne dich abfliegen.“

Pass- und Zollkontrolle, Warten, Busfahrt, die Gangway. Kay organisierte ihr einen Fensterplatz. Als sie zum Start rollten, wurde ihr bange. Sie schloss die Augen. Kay nahm ihre Hand und sagte: „Keine Angst, runter kommen wir bestimmt.“ Das Flugzeug hob von der Piste ab. Sie war froh, dass er ihre Hand hielt.

3. Kapitel

Anja hörte etwas poltern. Gleich darauf brüllte Jan los. Sie ließ den Brief fallen, den sie noch immer in der Hand hatte, und stürzte ins Wohnzimmer. Jan saß vor seinen Bauklötzern. Er weinte. „Haus kaputt“, jammerte er, „alles kaputt, Mammi.“

„Und wenn es kaputt ist, bauen wir es wieder auf“, sagte sie. „Komm, wir fangen von vorn an.“ Sie räumte den Platz frei und setzte den ersten Stein. Jan hörte auf zu weinen. Er sah ihr zu und sagte: „Falsch, Mammi.“

„Mach es richtig, Jan.“ Sie reichte ihm Steine zu. Würde sie auch von vorn anfangen müssen? Nein, sie hatte ihren Sohn. Ganz von vom konnte niemand mehr beginnen. Jeder hatte immer ein Stück Leben hinter sich, und mit dem neuen Abschnitt musste er in irgendeiner Weise fertig werden. Sie trug die Verantwortung für Jan. Musste sie Kay nachgeben?

Im Fernseher war die Aktuelle Kamera zu Ende. Anja erschrak. Der Junge musste ins Bett, und sie hatten noch nicht einmal Abendbrot gegessen. Jan wollte das Haus aber erst fettig bauen. Sie ließ ihm seinen Willen. Angefangenes muss man zu Ende führen. Das war ein Wort ihres Vaters. Sie sah, wie Jan die letzten Klötze aufsetzte und sich freute, dass er es geschafft hatte.

„Fein, es ist ein wunderschönes Haus geworden.“ Anja gab ihm einen Kuss, und der Kleine klatschte in die Hände.

„Komm, hilf mir beim Abendbrotmachen.“ Sie nahm ihn mit in die Küche. Er kletterte auf den Stuhl und verteilte, was sie auf den Tisch stellte. Beim Essen begann Jan zu gähnen. Er schob seinen Teller fort und streckte die Arme nach ihr aus. Anja trug ihn ins Bad. Sie wusch Jan nur flüchtig, um ihn nicht aus seiner Müdigkeit zu reißen. Als er im Bett lag, wollte er jedoch wie jeden Abend eine Geschichte hören. Sie nahm das Märchenbuch und schlug es auf. Es war die Geschichte vom fliegenden Teppich. Dem Kleinen waren die Augenlider schwer. Darum las Anja nichts vor, sondern sie begann zu erzählen: „Stell dir vor, du liegst auf einem Teppich, und er fliegt mit dir davon.“

„Mammi muss mit“, murmelte er schlaftrunken.

„Wir fliegen beide mit dem schönen bunten Teppich fort, weit in die blaue Luft hinauf, und unter uns sehen wir die Wiesen und Wälder und unsere Stadt mit all ihren Straßen.“

„Und Pappis Auto.“ Das kam kaum hörbar. Jan war eingeschlafen. Anja zog behutsam seine Bettdecke zurecht. Und Pappis Auto! Sie wusste, wie sehr Jan seinen Vater liebte, wie gern er auf dessen Schultern ritt. Über Stunden konnten beide im Wohnzimmer auf dem Teppich liegen und spielen, am liebsten mit den Autos. Sie hatte sich darüber gefreut. Kay hatte viel Zeit für Jan. Sie hatte diese Zeit nicht gefunden. Nach der Arbeit war der Haushalt an der Reihe. Anja wollte alles tun, um dem Kleinen den Vater zu erhalten. Alles? Sie wollte ihre Arbeit in Falkenstein nicht aufgeben. Das war es.

Anja ging in die Küche und räumte das Abendbrotgeschirr fort. Dann nahm sie Kays Brief. Sie las ihn von der ersten bis zur letzten Zeile. Wir müssen endlich wie eine normale Familie leben. Wahrscheinlich verstand er darunter, dass die Frau für Mann und Kind und Haushalt sorgte und ihren Beruf als etwas Zweitrangiges betrachtete. Ein Job eben, um mehr Geld heranzuschaffen. Dieser Gedanke machte sie zornig, gleichzeitig aber auch traurig. Kay hielt es sicherlich für selbstverständlich, dass sie sich in seinem Sinne entschied. Sie hatte ihm nichts in den Weg gelegt, als er sich zur Bezirksparteischule delegieren ließ, obwohl sie wusste, dass sie noch stärker belastet wurde. Nein, sie klagte ihn nicht an. Ihr Kopf war schwer vom Grübeln. Hätte sie einen Zauberteppich, würde sie fortfliegen. Weit fort zu vergangenen, glücklichen Tagen.

4. Kapitel