Impressum

Gerhard Branstner

Der Esel als Amtmann oder Das Tier ist auch nur ein Mensch

Fabeln

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

ISBN 978-3-96521-249-7 (E-Book)

 

Das Buch erschien erstmals 1976 im Buchverlag Der Morgen, Berlin.

2020 EDITION digital

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Ohne Wahrheit ist die Kunst,

was die Pflaume ohne Wurm:

ein Ding,

worüber sich kein Mensch aufregt

Missgeachtet lebt sich's schwer, unbeachtet noch viel mehr

Ein Elefant war auf seine alten Tage bösartig geworden, sodass die übrigen Tiere sich nicht anders zu helfen wussten und seinen Tod beschlossen. Es setzte einen fürchterlichen Kampf, aber endlich lag der Riese gefällt am Boden. Da kam ein Karnickel angerannt und schlug wie wahnsinnig auf den toten Elefanten ein.

Auf die verwunderte Frage der Schildkröte, weshalb es noch auf den Toten einschlage, wo es doch das einzige Wesen sei, dem der Elefant zu Lebzeiten nie etwas getan habe, rief das Karnickel: Das ist es ja gerade, was mich so wütend macht!

Wer Furcht hat, sich zu schneiden, schabt sich den Bart von Weitem

Der Igel war zu einer Hasenhochzeit geladen worden, und um sich der Ehre würdig zu zeigen, beschloss er, sich zu rasieren. Da er aber fürchtete, sich zu schneiden, führte er das Rasiermesser in so weitem Abstand, dass es die Borsten nicht einmal berührte.

Als er das Messer beiseitelegte, meinte die Frau des Igels: Du hast dich zwar nicht geschnitten, rasiert bist du aber auch nicht.

Ich hatte zwischen zwei Übeln zu wählen, entgegnete der Igel, und ich habe mich für das kleinere entschieden.

Klugheit und Mut wohnen unter einem Hut

Dem Löwen war ein Junges entlaufen, und er befürchtete, dass es einem anderen Raubtier zum Opfer fallen könnte.

Da kam das Wiesel gelaufen und sagte dem Löwen: Dein Junges wurde gefunden; es ist wohlauf und wird noch heute von der Hyäne zurückgebracht.

Über die frohe Nachricht geriet der Löwe außer sich und soff sich einen gewaltigen Rausch an. Als er so voll war, dass er nicht mehr auf den Beinen stehen konnte und unanständige Lieder zu singen begann, brachte die Hyäne das Löwenjunge, es war aber tot. Der Löwe brauchte in seinem Schumm einige Zeit, bis er das begriffen hatte. Na warte! drohte er jetzt dem Wiesel, wenn ich wieder auf den Beinen stehen kann, sollst du die Lüge büßen.

Die Lüge hat dich, entgegnete das Wiesel, in einen Zustand versetzt, in dem du die Wahrheit ertragen konntest; was soll ich da büßen?

Als der Löwe wieder nüchtern war, sagte er zu dem Wiesel: Du warst nicht nur klug, du warst auch mutig. Hätte ich die Wahrheit erfahren, als ich noch einigermaßen auf den Beinen stehen konnte, wäre es um dich geschehen gewesen.

In einem komplizierten Fall ist das Urteil oft formal

Der Seehund hatte seine Fressalien in einen Sack gesteckt und ging davon, um ein Bad zu nehmen. Da kam der Pinguin und machte sich über die Fressalien her; da er sich aber zu lange damit aufhielt, wurde er von dem zurückkehrenden Seehund überrascht. Um nicht entdeckt zu werden, schlüpfte der Pinguin in den Sack. Der Seehund besah sich den Sack, nahm einen Knüttel und schlug kräftig drauf ein. Endlich schlüpfte der Pinguin heraus, lief zum Delfin und bestellte ihn zum Richter über den Fall.

Ich habe, erklärte er, den Seehund höchstens um zwei Pfund Fressalien gebracht, dafür hat er mir mindestens zweihundert Pfund Prügel verabreicht. Und so was ist nicht gerecht.

Wir werden sehen, meinte der Delfin und befragte den Seehund. Der aber sagte: Ich kam aus dem Wasser und wollte mir, um mich zu erwärmen, ein wenig Bewegung machen. Da habe ich auf den Sack eingeschlagen. Mit meinem Sack kann ich ja wohl machen, was ich will.

Was sagst du jetzt? fragte der Delfin den Pinguin. Irgendwie hat der Seehund recht, meinte der Pinguin kleinlaut, irgendwie hat er aber auch nicht recht.

Na schön, sagte der Delfin, da können wir auch nur irgendwie Recht sprechen. Das Urteil lautet: Der Pinguin darf dem Seehund die überzähligen Prügel zurückerstatten, aber nur dann, wenn der Seehund in einem Sack steckt, der dem Pinguin gehört.

Die Schwächen der Schwachen sind die Stärke des Drachen

Zwei Hunde mussten am Hofe des Tigers die niedersten Dienste verrichten, bekamen dafür aber nicht einmal einen Knochen zu sehen.

Wenn wir uns zusammentun, sagte der eine Hund zum anderen, können wir den Tiger bezwingen und sind unserer Knechtschaft ledig. Der andere Hund war einverstanden, meinte jedoch, dass sie die Unterstützung des Schlosshundes nötig hätten.

Der Schlosshund tat auch so, als sei er mit dem Plane einverstanden. Da er aber befürchtete, die gemeinen Hunde könnten an die Macht kommen, unterrichtete er seinen Herrn und riet ihm, den beiden Hunden einige Knochen hinzuwerfen, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Der Tiger aber kannte die beiden besser und warf ihnen nur einen Knochen hin.

Wer den Mörder verschont, wird mit Leichen belohnt

Der Wolf war in eine tiefe Grube gestürzt und rief um Hilfe. Das hörte ein Lamm, und weil der Wolf ihm leid tat, suchte es eine lange Wurzel, an der sich der Wolf aus der Grube zog. Statt sich aber bei dem Lamm zu bedanken, fiel er sogleich über es her, um es zu fressen. Das Lamm zeterte laut über die Undankbarkeit des Wolfes, der Wolf aber setzte dagegen, dass es widersinnig sei, gerettet zu werden, um dann Hungers zu sterben. Diese Antwort verwirrte das Lamm, und als ein kleiner Hund daherkam, bat das Lamm ihn, die Sache zu entscheiden.

Der wird schon wissen, was ihn erwartet, wenn er nicht für mich stimmt, dachte der Wolf und war damit einverstanden, dass der Hund den Richter machte.

Der Hund überlegte eine Weile, dann sagte er: Wer einen Wolf rettet, verdient auch, von ihm gefressen zu werden. Und damit stieß der Hund das Lamm in die Grube.

Der Wolf bedankte sich für den klugen Richterspruch, sprang dem Lamm nach und machte sich über es her.

Du musst sterben, sagte der Hund zu dem Lamm, damit deinesgleichen am Leben bleibt. Und flugs zog er die Wurzel aus der Grube und zerbiss sie in kleine Stücke.

Wer oben sitzt, sieht niemals alles, am wenigsten im Fall des Falles

Der Adler baute seinen Horst auf einer alten Eiche, obwohl der Maulwurf ihn davor gewarnt hatte. Der Baum war wurzelkrank, und das konnte nur der Maulwurf wissen. Schon beim nächsten Sturm brach die Eiche und erschlug die jungen Adler.

Es war ein Fehler, sagte der Adler, dass ich auf den Maulwurf nicht gehört habe. Ein noch größerer Fehler aber wäre es gewesen, hätte ich auf ihn gehört. Das hätte ein schlechtes Beispiel gegeben, und alle Maulwürfe würden sich fortan erdreisten, uns Ratschläge zu erteilen. Wo bliebe da der Adler?

Die Freiheit hat zwei Seiten, das lässt sich nicht bestreiten

Ein Hammel trat vor den Tiger und beschwerte sich darüber, dass es den Wölfen ungestraft erlaubt sei, die Schafe zu fressen.

Euch soll Gerechtigkeit werden, sprach der Tiger. Und er erließ ein Gesetz, das den Schafen erlaubte, die Wölfe ungestraft zu fressen.

Da freute sich der Hammel und rief: Jetzt haben wir den absoluten Rechtsstaat.

Das wurde auch Zeit, meinte der Tiger, die Wölfe haben sich schon lange genug darüber geärgert, dass man ihnen vorwerfen konnte, sie seien vom Gesetz bevorteilt.

Die Kunst lässt weg, so geht die Sage. Nur, was sie weglässt, ist die Frage

Der Wolf und der Igel besuchten eine Gemäldeausstellung. Dort hing auch ein Porträt des Wolfes, das der Affe verfertigt hatte.

Der Wolf lobte das Bild über alle Maßen.

Wie kannst du so was loben, wunderte sich der Igel, selbst die Hasen werden lachen, wenn sie dich so sehen. Deine wahre Natur ist überhaupt nicht zu erkennen.

Eben deshalb gefällt mir das Bild, erklärte der Wolf.