Impressum

Erich-Günther Sasse

Und hinter der Tür eine Kette

Erzählungen

ISBN 978-3-96521-233-6 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1976 im Mitteldeutschen Verlag Halle/Saale.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

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Prinzessin Barbara

Ich habe nichts gegen den Zirkus, aber wenn ich mal reingehe, gibt es mir jedes Mal einen Stich, das hat sich bis heute nicht geändert. Das ist so seit damals, siebenundfünfzig.

Ein kaltes Frühjahr war es, obwohl schon April, hatte sich in geschützten Lagen sogar der Schnee gehalten.

Da sagte meine Mutter: Die kommen. Darauf hatte meine Großmutter nur gewartet, sie sagte es, gleich zum Dachfenster raus, zu Nachbars Lydia, die es weitersagte zu Herzliebs Frieda, und so pflanzte es sich fort, von Dachfenster zu Dachfenster, von Hof zu Hof.

Es war ein Sonnabendvormittag, doch die Frauen hatten einfach ihre Wischeimer und Scheuerlappen im Stich gelassen und die Kuchenbleche dazu und hängten die Köpfe aus den Dachluken. Die Dächer waren schwarz, rot und grau.

Es war ein großes Ereignis, auf das wir warteten, die Frauen wohl am meisten. Zehn Jahre war kein Zirkus mehr in Zorndorf gewesen, einfach einen großen Bogen hatten die Wagen um das Dorf gemacht. Dabei hat hier sogar Napoleon gerastet, als er von Moskau nach Paris floh. Dem war es nicht zu poplig. Und der Zirkus blieb einfach weg, hat das Dorf ignoriert, das so gewichtig breit in der Landschaft liegt, zweikirchtürmig und halb auf einem Hügel und halb im Tal.

Die Frauen hatten keine Schuld daran, das war klar.

Viele Wege führen nach Zorndorf, Feldwege und gepflasterte, an unserem Haus geht die geteerte Chaussee vorbei, an den Seiten wachsen hochstämmige Apfelbäume. Und genau so viele führen weg von Zorndorf, über eine Hügelkette, hinter der großen Wiese, auf der immer die Gänse weiden, da, wo Himmel und Erde fast zusammenstoßen, gleich in die Stadt.

Vor zehn Jahren hatten die Zirkusleute den Weg, der wegführte aus Zorndorf, nicht rechtzeitig gefunden. Es hatte Krach gegeben, weil einer, der einen weichen Schnurrbart trug über den vollen Lippen und pomadisierte Wellenhaare, die fast die Ohren verdeckten, zur rechten Zeit sanft lächeln konnte und dabei die Richtige ansah.

Bei uns im Dorf hatten die Männer keine weichen Schnurrbärte, höchstens einen Wochenbart, weil sie sich meist nur sonntags rasierten. Wütende Fäuste hatten ihn von seiner Luftschaukel gezerrt, den Blondgelockten mit seinen träumerischen Augen, hatten ihn durch Zorndorf gehetzt und getrieben, wie man Vieh treibt, und er fand nicht rechtzeitig den Weg, der rausführt aus Zorndorf. Sie schlugen ihn zusammen. Mach, dass du wegkommst! Wir können unsere Hühner alleine treten!

Jedes Wort ein Schlag. Es reichte aus. Der rechte Arm war gebrochen, und verstohlen weinten ein paar Frauen.

Von dem Tag an kamen keine Schausteller mehr nach Zorndorf. Unser friedliches Dorf, obwohl es zwei Kirchen hat, hatte für sie einen schlimmen Ruf.

Im ersten Jahr hieß es noch: Na ja, ist nicht so schlimm, es geht auch ohne. Im zweiten Jahr hieß es das auch noch. Im dritten Jahr gab es die ersten scheelen Blicke. Ringsum in den Dörfern machten sie halt, die Leute mit den Kettenkarussells und den Luftschaukeln und Schießbuden. Nur eben in Zorndorf nicht.

Das muss doch geändert werden, sagte der neue Bürgermeister und hängte sich ans Telefon. Der alte war in Rente gegangen und sagte leise, neue Besen kehren gut.

Endlich sagte ein Schausteller zu. Er war nicht blond gelockt und konnte auch nicht sanft lächeln, ihm fehlten vorn die Zähne, deshalb hatte er einen eingefallenen Mund. Für ihn war es also in Zorndorf nicht gefährlich. Das wusste aber noch keiner. Nur, dass er ein Kinderkarussell besaß mit Schweinen und Pferden. Und Kunst stand auf dem Programm, von einem lebenden Schwein vorgeführt, das Amalthea hieß. Das Pferd Philipp, das am Tage den Wagen zog, wurde am Abend aufgemöbelt.

Das hatte der neue Bürgermeister alles am Telefon besprochen, und Frau Wurm hatte alles gehört und gleich herumgetragen.

Nachbars Lydia war richtig zusammengeschauert und hatte feuchte Augen gekriegt, als sie davon hörte. Herrlich, säuselte sie, Amalthea und Philipp, nein, so was Entzückendes. Der neue Bürgermeister kriegte fast einen Heiligenschein verpasst.

Nun warteten die Frauen. Und drehten die Hälse. Sie wollten das Gefährt schon gesehen haben, als es noch gar nichts zu sehen gab.

Aber dann sah auch ich es! Es kam über den Pflaumenweg. So hieß der wirklich. Rechts und links Pflaumenbäume. Wer die mal gepflanzt hatte, wusste keiner mehr, und wem sie gehörten, auch nicht. Wer Mus kochen wollte, holte sich dort seine Pflaumen. Damals kochte noch fast jeder Mus bei uns.

Der Wagen kroch sehr langsam heran, weil der Pflaumenweg nass war und die Räder ziemlich tief einsackten. Ich beobachtete es von unserem Dachfenster aus.

Vorn auf der Bank saß der Mann, er pfiff vermutlich, ich habe ihn später immer pfeifend gesehen. Das Mädchen neben ihm war in meinem Alter, also ungefähr zehn. Es hatte Söckchen an den Beinen, Ringelsöckchen, gelb und blau und rot, obwohl wir erst April hatten und ziemlich kalter Wind wehte. Ich durfte um diese Zeit noch keine kurzen Hosen tragen, du holst dir was weg, hatte meine Mutter gesagt.

Am Abend Karussell und Zirkusvorstellung, stand auf einem bunten Schild, das an der einen Wagenseite hing. Mit Clown Ottokar und Prinzessin Barbara. Was die alles hatten, Mensch. Das mussten wir sehen. Auf der großen Wiese hatten sie haltgemacht. Die Gänse waren vor Schreck weggerannt. Wir warteten nicht bis zum Abend. Hin rasten wir, wo sie sich schon mühten, das Karussell aufzubauen.

Schräg gegenüber lag die Schule und daneben die Kirche. Die kleine Barbara hatte blaugefrorene Beine und schleppte Bretter. Das Wunderschwein Amalthea steckte in einer großen Holzkiste und schien ziemlich mager zu .sein. Philipp knabberte an einem Heuballen herum. Der Clown Ottokar hieß jetzt Herr Rosino, er schleppte auch Bretter und wurde von der Barbara Opa genannt. Und wir standen dabei und guckten zu und trauten uns nicht, mit anzupacken.

Die Barbara schlug ein paar Eier in die Pfanne, die auf einem Spirituskocher stand, und kochte das Mittagessen. Wir guckten ihr zu, die Wagentür stand offen. Barbara beachtete uns gar nicht. Eine Katze kroch um sie herum.

Am nächsten Tag sagte Nachbars Lydia, um die der ganze Knatsch damals, vor zehn Jahren, gegangen war, ziemlich schnippisch und lachte schrill: Wenn schon die Schweine Amalthea heißen und die Pferde Philipp, ist es weit mit uns gekommen. Sie guckte nicht mehr erwartungsvoll, sie war wohl einfach schon ein bisschen abgestanden. Und das Pferd, solche alte Kricke, höhnte Lydias Bruder Paul und tätschelte stolz seinen beiden Ackergäulen die glatten, glänzenden Kruppen. Glatt muss ein Pferd sein, nicht zu mager, aber auch nicht zu fett, meine sind die richtigen. Sie hießen nicht Philipp, sondern Lotte und Lise. So hatte es zu sein.

Was soll man da sagen, Zirkus ist Zirkus, so ein Karussell ist eben ein Karussell. Das alles war neu für mich, ich war fast elf, aber seit meiner Geburt war kein Zirkus mehr in Zorndorf gewesen. Mir jedenfalls gefiel der Abend.

Das Schwein Amalthea fand ich ganz schön und so schrecklich schlau, es löste Rätsel, auch das Pferd Philipp gefiel mir und natürlich der komische Otto.

Aber am meisten interessierte mich die Prinzessin Barbara, die stolzen Schrittes umherspazierte, voller Würde, hätte Lehrer Rolfs gesagt, wenn er sie gesehen hätte, er konnte nicht in den Zirkus kommen, weil er krank war. Ihn vertrat Fräulein Runkel, sie war auch da, aber sie sagte nichts dazu.

Barbara trug das blonde Haar offen und darin Glitzerkram. Sie war ein Fräulein Nummer. Ihre blaugefrorenen Beine waren unter einem roten Seidenrock versteckt. Die ganze Nacht konnte ich kaum schlafen. Ich träumte von geflügelten Engeln. Sie hatten Barbaras Gesicht. Am nächsten Morgen nahm ich ihr einen Apfel mit in die Schule. Barbara musste ein paar Tage in unsere Schule gehen und saß neben mir. Ich starrte sie an.

Da schwor ich mir, auch zum Zirkus zu gehen und mit Barbara von Dorf zu Dorf zu ziehen. Nur um unser Dorf würden wir einen Bogen machen. Sie passte nicht hierher. Dabei sah sie auch nicht anders aus als die anderen Mädchen. Die blonden Haare hatte sie zu Zöpfen geflochten. Und doch war sie anders. Sie nahm den Apfel und aß ihn selbstverständlich auf. Sie kümmerte sich um keinen, nicht mal um die Mädchen, die anschlusssuchend gackerten.

Dann waren sie plötzlich weg. Nicht eine der Frauen sah dem dürftigen Wagen hinterher. Sie hatten genug gesehen.

Nur ich stand auf unserem Boden und kaute an den Fingernägeln und musste mich zusammennehmen, dass ich nicht losheulte.

Meine Mutter rief mich. Ich reagierte nicht. Sie rief mehrere Male. Da ging ich zu ihr.

Junge, bist du aber gewachsen, sagte sie, das habe ich so deutlich noch nicht gesehen, das muss in den letzten Tagen passiert sein. Wie sie darauf kam, weiß ich nicht.

Ich habe nichts gegen den Zirkus, seit siebenundfünfzig kommen die Schausteller wieder nach Zorndorf. Zum Ersten Mai und zum Kindertag, zum Siebenten Oktober und zu Pfingsten.

Eine Liebesgeschichte

In dieser Geschichte wird sie Ulrike genannt. Ihr wirklicher Name ist anders.

An den Litfaßsäulen hängen die Plakate noch feucht, es hat gerade aufgehört zu regnen, als sie durch die Stadt hastet. Es ist Sonntagabend.

Auf dem nassen Asphalt der breiten Straße jagen die Autos einander, dazwischen ein paar Motorräder. Erste Neonlichter flackern auf, zaghaft noch.

Ulrike schiebt sich zwischen den Menschen durch, sie wird geschoben. Sie weicht den Pfützen auf dem Fußweg aus. Die Schuhe sollen nicht schmutzig werden, das hätte ihr gerade noch gefehlt.

Ulrike ist jung, noch jung genug, sich über etwas zu wundern.

Vor einem Schaufenster, in dem Sommermäntel über langweiligen Puppen hängen, sie braucht einen neuen, will sie stehenbleiben. Eine stramme Frau schiebt Ulrike weg. Das ist nichts Besonderes, sie geht langsam weiter. Eine Amsel fliegt an den Straßenrand, dort scheint sie etwas Fressbares entdeckt zu haben.

Ulrike geht jetzt langsam, sie hat den Kopf gesenkt. Man könnte sie fast für eine harmlose Spaziergängerin halten, eine, die Luft schnappen will, Großstadtluft, mit Benzingestank gemischt, Sonntagabendluft, die Sonne schien den ganzen Tag nicht, jetzt ist ein Streifen Himmel dort, über den hohen Häusern, rot. Morgen wird das Wetter gut sein. Was interessiert Ulrike das Wetter. Das sieht sie nicht. Ihre Augen sehen nichts, obwohl sie weit geöffnet sind. Ulrike will vergessen. Was gestern war, vorgestern. Während der letzten zwei Jahre. Nicht alle Tage, aber eine ziemliche Menge davon. Deshalb ihr Hasten, deshalb das Rot auf ihren Lippen, deshalb der Minirock. Sie trägt sonntags immer Mini. Noch ist Ulrike jung, noch hat sie eine schlanke Figur, weshalb sollte sie sich da nicht wenigstens sonntags so kleiden, wie es ihr gefällt.

Ulrike lebt auf der Erde, und ein Tag folgt dem anderen, es wird dunkel, es wird Nacht, und morgen wird Montag sein.

Dann steht sie wieder die ganze Woche im weißen Dederonkittel hinter dem Ladentisch und verkauft Milch und Käse, eingepackt in Dederon steht sie dort, sonntags wenigstens will sie sich zeigen.

Sie hat geschickt blondiertes Haar, es sieht echt aus und reicht bis zu den Schultern. Das passt gut zu dem kleinen Gesicht. Ein Kindergesicht, obwohl Ulrike schon fast einundzwanzig Jahre alt ist.

Sie geht wieder schneller. Wenn sie jetzt einer fragen würde, wer bist du, du heißt Ulrike, aber wer bist du, sie wüsste keine Antwort.

Ja, was soll ich da sagen, würde sie sagen, und ihre umschatteten Augen würden ratlos gucken, sie finge an, mit den Zähnen auf den Lippen herumzubeißen. Gott sei Dank stellt ihr keiner eine solche Frage. Womöglich würde sie anfangen, vor Verlegenheit zu grinsen, das wäre schlimm. Oder gar zu schwitzen, das wäre noch peinlicher. Nicht auszudenken.

Ulrike schiebt sich zwischen den vielen Menschen durch, sie weicht ihnen aus, aber sie kennt keinen der Menschen. Über ein Hochhaus aus Glas und Beton gucken die grauen Spitzen des gotischen Domes. Ulrike war noch nicht drin. Sie hat immer mal reingehen wollen, es kam aber stets etwas dazwischen.

Sie hat hübsche Augen. Die sind mal grün, mal grau, je nachdem, wie das Licht darauffällt und in welcher Stimmung sie sich befindet.

Jetzt will sie weg, deshalb geht sie schneller.

Sie haben sich nicht gestritten, nicht einmal gestritten haben sie sich, und doch will Ulrike weg.

Wie eine Dame sieht sie nicht aus, sie wird wohl auch nie eine werden, wenn sie älter ist. Damen blondieren nicht dauernd die Haare. Dazu passt auch nicht ihr Gang. Der ist nervös. Damen haben keinen nervösen Gang. Sie sind nie nervös, und wenn doch mal, zeigen sie es nicht.

Ulrike kann nicht verbergen, was sie fühlt. Sie will es auch nicht. Weg will sie. Von dem alten Haus, in dessen viertem Stock sie wohnt. Dort, in der Wohnung der Schwiegereltern. Was heißt hier wohnt, sie haben ein Zimmer. Und in dem Zimmer steht ein Sofa und ein Schrank. Mehr passt nicht rein.

Die Wände sind düster und kalt, findet Ulrike, obwohl Sommer ist, und zwar ein sehr warmer Sommer, sind die Wände kalt. Ulrike will auch weg von dem harten Poltern des Schwiegervaters, das sie mal lustig fand, von seinen neugierigen Augen. Ulrike findet seine Augen neugierig wie sie das Gesicht der Schwiegermutter kümmerlich findet, sie will weg davon. Weg will sie auch von Thomas, der ihr Mann ist, dem Trauschein nach seit nahezu zwei Jahren. Er war es schon ein Jahr vorher. Sie liebten sich, weil er gesagt hatte, ich kaufe keine Katze im Sack. Ulrike wollte übrigens auch keinen Kater im Sack kaufen. Vor zwei Jahren heirateten sie. Es war ein Sommertag wie heute, manchmal kleine, warme Schauer dazwischen. Sie liebten sich, und die Liebe war nicht rissig, sondern fest, und es sah aus, als werde sie lange halten. Jung gefreit, und so weiter. Sie waren sehr jung. Ulrike trug stolz ihr langes, weißes Brautkleid und einen Strauß elfenbeinfarbener Rosen auf dem Arm.

Aber die Zeit vergeht, die Erde dreht sich, und ein Tag folgt dem nächsten, und nicht alle Tage sind gleich.

Drei Musiker mühten sich, den Hochzeitsmarsch aus Lohengrin abzuspielen. Sie hatten die Nacht vorher durchgemacht, nun waren sie müde. Sie spielten schnell, um in ihre Betten zu kommen, und falsche Töne schlichen sich dazwischen.

Das merkte Thomas nicht, und Ulrike auch nicht, sie kannten die Musik nicht. Sie gefiel ihnen, sie ging ihnen unter die Haut. Sie jagte ihnen fast Nässe in die Augen, fast. Da standen sie vor der Frau im schwarzen Kostüm, die ihrer Stimme einen gewollt feierlichen Klang gab, so feierlich, dass es schon nicht mehr feierlich war. Da standen sie, und Thomas schwitzte in seinem schwarzen Anzug, der ihn beengte, vor Verlegenheit, als er Ulrike den Trauring an den Finger steckte. Da standen sie und waren nun Mann und Frau.

Eine Wohnung hatten sie nicht, und Möbel hatten sie nicht. Nur ihre Liebe hatten sie. Und ihre Jugend. Darauf bauten sie. Ein bisschen wenig, wie sich zeigte. Sie leben auf der Erde und ein Tag verjagt den nächsten, und die Tage verjagen die Jugend schnell und oft genug auch die Liebe.

Es fängt wieder leicht an zu regnen. Die Menschen verschwinden von der Straße. Die Straße leert sich. Ulrike spannt den Schirm auf. Die Locken dürfen nicht verregnen.

Es wird schon mal mit einer Wohnung klappen, sagten sie sich und zogen in die kleine Stube, die ihnen die Schwiegereltern ausräumten. Sie hofften, sie warteten, sie waren geduldig, zwei Jahre warten sie schon, bis heute hat es nicht geklappt.

Ulrike läuft an einem der piekfeinen Lokale der Stadt vorbei. Auf dem Platz davor stehen Taxis, die Fahrer dösen vor sich hin oder lesen in der Zeitung. Die Frau in dem Zeitungskiosk wartet auf Kunden, sie wird wohl nicht mehr viel Glück haben, aber sie wird ja bald schließen.

Die Fassade der Gaststätte ist glatt. Dahinter haben Ulrike und Thomas ihre Hochzeit gefeiert. In dem Haus war es warm. Sie hatten einen kleinen Saal gemietet. Keiner wollte sich lumpen lassen, Thomas Eltern nicht und ihre Eltern auch nicht.

Es war eine laute Hochzeit, mit viel Gelächter und Gerede, mit viel Musik und Getanze.

Ulrike und Thomas tanzten. Ich will weg hier, flüsterte sie ihm ins Ohr. Hier sind zu viele Leute. Das dauert mir zu lange, lass uns weggehen. Eine ungeheure, fast diebische Freude hätte es ihr gemacht, die ganze Hochzeitsgesellschaft sitzenzulassen.

Bist du verrückt, flüsterte Thomas zurück, es geht nicht, wir müssen hierbleiben. Sie haben sich alle so viel Mühe gegeben, das müssen wir anerkennen. Wir werden den Rest schon noch durchstehen, flüsterte er und zog sie an sich.

Thomas ist ein guter Tänzer. Und Ulrike tanzt auch gern.

Sie war in der Stimmung, allein wegzugehen, an ihrem Hochzeitstag. Aber sie blieb, damals blieb sie noch. Obwohl sie Thomas’ Blick sah, der bei seinen Eltern war, die vor allem hatten die große Hochzeit haben wollen und sie arrangiert, das lassen wir uns nicht nehmen. Ulrike hing wie Blei an Thomas’ Arm, während sie tanzten, und nachdem sie seinen Blick verfolgt hatte, war ihr bewusst geworden, dass sie Thomas wohl hatte, dem Namen nach, sie konnte sagen, mein Mann, aber was ist das schon, dem Namen nach, also nichts. Sie konnte sich an dem Tag nicht mehr freuen.

Die Feier dauerte für Ulrike endlos. Die Fröhlichkeit der anderen war laut und echt. Sie konnten Ulrike nicht anstecken. Das ließ sie alles kalt. Und doch spielte sie ihnen Theater vor. Sie lachte, obwohl sie eher hätte heulen können. Über ihre saftigen Witze, über ihr Gelächter.

Sie ist auf dem freien Platz vor dem Theater. Da sind wieder viele Menschen. Ulrike schiebt sich zwischen ihnen durch. Ihre Augen sind starr auf einen Punkt gerichtet, der nicht da ist, weit weg, es könnte der prägnante Punkt sein, wenn es ein Punkt wäre.

Ihre Augen blicken ins Leere. Sie weicht den Blicken aus, die sie mustern. Ein paar junge Männer versuchen, Anschluss zu finden. Einer wird sogar zudringlich, er hört erschrocken auf, als er Ulrikes Augen sieht, die ihn einfach übersehen. Ulrike kann Männer abblitzen lassen. Sie muss sich manchmal ihrer Haut wehren.

Ihr Mund ist rot angemalt und trotzig. Besonders jetzt, da sie das Bild des trostlosen Zimmers vor ihren Augen hat. Das Schlafzimmer der Schwiegereltern liegt gleich nebenan. Das Schnarchen des Schwiegervaters kann sie jede Nacht durch die dünne Wand hören.

Und sie liegt daneben und liegt wach und könnte das Schnarchen hassen und hasst alle Welt. Am Morgen stören Ulrike seine neugierigen Blicke, sie findet ihn aufdringlich, erst seit einiger Zeit allerdings. Deshalb beeilt sie sich, als erste aus der Wohnung zu kommen. Sie treibt sich dann meistens noch eine ganze Zeit auf der Straße herum oder fährt mit der Straßenbahn von einer Endstation zur nächsten. Soviel Zeit hat sie noch.

Das ist alles ein bisschen viel für Ulrike. Wie der gemeinsame Frühstückstisch am Sonntagmorgen, wie das Mittagessen und das breit ausgewalzte Kaffeetrinken am Nachmittag. Sie hat sich dagegen oft genug gewehrt und mit Thomas darüber gesprochen. Heute Nachmittag gehen wir aber mal in die Stadt zum Kaffeetrinken. Ja, ja. Oft genug hatte er ja gesagt.

Dann das traurige, fragende Lächeln der Schwiegermutter. Was passt euch denn nicht bei uns, habe ich was falsch gemacht. Sagt es mir. Aber lasst mich bloß nicht so im Ungewissen. Also blieben sie zum Kaffeetrinken. Diese Blicke konnte keiner aushalten. Am wenigsten Ulrike. Sie wollte der Schwiegermutter nicht weh tun. Sie war immer gut zu ihr, zu jedermann ist sie gut. Sie arbeitet halbe Tage als Sachbearbeiterin in der großen Fabrik für Arzneimittel. Auch dort ist sie gern gesehen. Einige ihrer Kollegen kommen sie sogar zu Hause besuchen. Das ist immer mit Vorstellung verbunden. So was kann kein Mensch aushalten. Ulrike jedenfalls nicht. Wie sie kaum das Achselzucken auf dem Wohnungsamt aushalten konnte. Sie kämpfte um eine Wohnung. Das Ergebnis war immer wieder gleich. Sogar die Worte waren dieselben: In unserer Stadt gibt es dreitausend Leute, die eine Wohnung suchen. Was denken Sie sich denn, manche haben sogar ein paar Kinder und müssen in einem Zimmer leben.

Ulrike hätte denen dort auf dem Wohnungsamt, die mit den Achseln zuckten, unpersönlich, unbeteiligt, schien es ihr, am liebsten in die Gesichter geschrien, aber ich gehe kaputt daran. Und unsere Liebe auch, verstehen Sie denn nicht.

Sie schrie niemals, aber immer mutloser ging sie mit hängendem Kopf und schweren Füßen vom Wohnungsamt weg, um in der Woche darauf den gleichen Weg wieder anzutreten. Schlimmer kann es jenem Heinrich auch nicht ergangen sein, der in Canossa um gut Wetter beim Papst bat. Das zermürbte und zerfetzte Ulrike jedes Mal, aber sie war noch nicht soweit, dass sie Ruhe geben konnte, noch nicht.

Sie musste einfach zum Wohnungsamt gehen, ihr wurde leichter, wenn sie die Antwort dort hörte, obwohl ihr schwerer wurde, jedenfalls war es ohne den Gang dorthin noch viel schwerer, es war kaum zu ertragen.

In einigen Jahren, sagte eine dicke blonde Frau, Ulrike dachte, die hat bestimmt eine Wohnung, die Frau blätterte uninteressiert in ihren Akten, ist das Wohnungsproblem kein Problem mehr. Dann gibt‘s genug Wohnungen, sagte sie in sächselndem, näselndem Tonfall, dabei lächelte sie.

Es ist ja lachhaft, dass Sie nach zwei Jahre laufendem Antrag schon dran sein wollen. Warten Sie man noch mal so lange. Dann fragen Sie wieder nach. Der Ton der Frau war sachlich, und sie klappte ihren Hefter zu.

Da platzte Ulrike der Kragen. In einigen Jahren, schrie sie, nein, sie schrie es nicht, es war eher tonlos und verzweifelt, sie hielt die Hände vor das Gesicht, in einigen Jahren brauche ich keine Wohnung mehr. Verstehen Sie denn nicht. Aber ihr schien es, als wolle die Frau sie nicht verstehen. Selbst dann nicht, wenn sie verstanden hätte.

Es war nicht möglich, aus dieser Misere herauszukommen. Ulrike wusste nicht mehr, was sie noch machen sollte. Noch liebten sich Thomas und Ulrike. Noch waren sie sehr jung.

Ulrike hatte das Gefühl, als ob sie keiner verstand, als ob sie keiner verstehen wollte. Von Thomas angefangen bis zu ihren Eltern. Sie sagten, was sollen wir da machen, zu uns könnt ihr nicht ziehen, die Wohnung ist auch nicht viel größer.

Eine Straßenbahn rumpelt vorüber. Sie ist mit Menschen vollgestopft. Die Häuser im Zentrum der Stadt sind neu gebaut. Dazwischen wachsen niedrige Sträucher. Von den Fenstern ist die Farbe noch nicht abgeblättert. Menschen gucken heraus. Ulrike hat das Gefühl, sie gucken auf sie herab. Höchstens zwei Jahre wohnen sie in den Wohnungen, so neu sind die Häuser. Die haben wenigstens eine Wohnung, denkt Ulrike, die durch die Stadt am Sonntagabend läuft, ziellos und doch selbstbewusst.

Am Anfang ihrer Ehe sehnte sich Ulrike tagsüber danach, in dem schmalen Zimmer zu sein. Da verging ihr der Tag zu langsam. Da war es noch wichtig, dass Thomas und sie zusammen waren. In dem kleinen Zimmer, das der Schrank fast ausfüllte, dahinter das Sofa, auf dem sie schliefen und auf dem sie liebten. Immer seltener. Ulrike konnte dort nicht lieben. Sie hatte das Gefühl, Zuhörer und Zuschauer zu haben. Nach einem halben Jahr Ehe. Fast alles störte sie zu dieser Zeit schon.

Die gemeinsamen Fernsehabende und der nicht ernst zu nehmende Streit zwischen Thomas und seinem Vater! Der eine wollte Sport sehen, der andere einen Film. Der Schwiegervater setzte sich meist durch. Und immer seltener die Liebe auf dem knarrenden Sofa. Die Liebe ist wie ein Baum, der allein steht auf einer Wiese, der Wind kann ihn von allen Seiten angreifen. Er hat es schwer, dieser Baum. Wenn es nicht gerade eine Eiche ist, die steht wohl fest.

Ulrike wollte wenigstens ein neues Sofa kaufen. Thomas wollte ein ganz besonderes haben. Das gab es natürlich nicht, deshalb vertröstete er sie.

Weg will Ulrike von dem erbärmlichen Zimmer, vom Knarren des Sofas, von diesem Leben überhaupt, das sie sogar noch verfolgt, während sie durch die Stadt hastet.

Manche Männer sehen ihr forschend ins Gesicht.

Ulrike glaubt das Leben zu kennen, sie ist schließlich fast einundzwanzig. Und sie ist davon enttäuscht.

Anfangs sparten sie und Thomas jeden Pfennig, er gewöhnte sich sogar das Rauchen ab, für die neue Wohnung. Sie wollten einen Batzen zusammenhaben für Möbel, wenn es soweit sein würde. Sie freuten sich darauf, voller Hoffnung. Anfangs träumten sie oft davon, wie es sein würde, wenn sie allein lebten. Davor hatten sie keine Furcht. Sie wussten genau, wie sie sich einrichten wollten. Überhaupt hatten sie ziemlich genaue Vorstellungen von ihrem späteren Leben.

Ulrike wollte Verkaufsstellenleiterin werden. Und Thomas Meister. Das planten sie. Auch zwei Kinder, später, in der neuen Wohnung, darüber sprachen sie oft.

Jetzt haben sie schon lange nicht mehr davon geredet.

Wir müssen unbedingt eine Wohnung haben, sagte Ulrike zu Thomas nach einem Streit, dann wird es besser, das kannst du mir glauben. Ulrike hoffte. Sie betete sogar mal, obwohl sie nicht daran glaubte, betete sie. Ich will es mal über meinen Betrieb versuchen, sagte Thomas darauf. Er ist Schlosser in der Kraftfahrzeugbude hinter dem Dom, ein paar Schritte sind es nur bis zu seiner Arbeitsstelle. Wir haben kein eigenes Kontingent, sagte der Kaderleiter, oder was es war, es war ihr schnurzpiepegal, sie erfuhr die Antwort, die Thomas mit traurigen Augen vorbrachte, und die genügte ihr.

Sie stritten sich, wie sie sich noch nie gestritten hatten. Du willst überhaupt nicht weg von hier, schrie sie ihn an. Du willst nur deiner Mutter am Rockzipfel hängen bleiben. Thomas ließ sich nicht lumpen. Sie stritten sich, aber sie flüsterten dabei, denn die dünnen Wände ließen jeden Laut ins Nebenzimmer dringen. Und davor fürchteten sie sich. Ulrike hatte die meiste Angst vor den ratlosen Augen der Schwiegermutter. Sie wollte der Frau nicht weh tun.

Und Thomas und Ulrike flickten immer wieder zusammen, was schon breite, klaffende Risse aufwies.

Es ist dunkler geworden. Die Gesichter der Menschen wirken fahl und kalt im Licht der Straßenlampen. Wie Masken, scheint es Ulrike, die Gesichter sehen wie Masken aus. Sie trägt selber eine. Immer mal wieder gibt es brennende Augen in diesen fahlen, kalten Masken, Augen, die Ulrike mustern.

Und die Zeit vergeht, und ein Tag jagt den anderen, und wenn sich Ulrike nicht beeilt, rennt ihr die Zeit davon.

Ihr Ziel ist klar. Sie will irgendwohin gehen, wo sie vergessen kann. So einfach ist das nur nicht; was will sie machen, wenn die Gedanken kommen und sie bedrängen. Die kommen einfach, sie fragen nicht vorher, ob sie dürfen.

Ulrike hätte so gern an den Wochenenden für sich und Thomas kochen wollen, aber die Schwiegermutter sagte, ruht euch nur aus, die ganze Woche seid ihr auf den Beinen. Da senkte Ulrike den Kopf und schwieg. Und Thomas sagte, ach lasst mich doch damit in Ruhe.

Er ist braunhäutig, und auf der Oberlippe hat er einen Bart. Der hat früher beim Küssen immer gekitzelt. Ulrike mochte das sehr. Sie haben sich schon einige Zeit nicht mehr geküsst.

Anfangs hatte Ulrike auf das Glück gehofft, sie hatte sogar geglaubt, dass sie glücklich sei. Thomas und sie passten zusammen. Sie hatten die gleichen Ziele und Interessen. Und ihre Träume glichen einander. Sie waren jung, und sie liebten sich. Und manchmal gingen sie aus, sie hatten eine ganze Menge Freunde. Von denen zogen sie sich zurück, als sie jeden Pfennig für die Wohnung zurücklegten.

Wenn Ulrike abends nach Hause kommt, nach Hause – etwas in ihr sträubt sich massiv gegen dieses Zuhause, da ist sie nicht zu Hause, von da will sie weg –, wenn sie abends nach Hause kommt, sitzt Thomas vor dem Fernsehapparat. Die Beine hängen über den Sesselrand. Wie sein Vater in den Sessel gefläzt. Die Mutter deckt den Abendbrottisch oder stopft oder liest in einer Zeitung.

Leben, denkt Ulrike, was ist das Leben. Wenn sie so richtig verzweifelt ist, ist es nicht einen Pfifferling wert, und sie könnte es wegschmeißen, das wäre ihr ganz egal.

Leben, hat sie mal gelesen, wo, weiß sie nicht mehr, ist weiter nichts als ein Fliegenklecks im Lauf der Zeit. Das Leben ist mehr, hat sie zu Thomas gesagt, als sie das las, hör mal zu, so ein Quatsch, das stimmt doch überhaupt nicht. Leben und Fliegenkleckse zu vergleichen, so ein Quatsch. Damals war sie in guter Stimmung. Deshalb sagte sie, viele Fliegenkleckse ergeben mit der Zeit auch eine ganz schön bekleckerte Fläche.

Thomas wollte sich fast kaputtlachen, da lachte sie mit. Aber sie wusste immer noch nicht, was das ist, Leben. Wer weiß das schon. Was interessiert sich Ulrike für das Leben der anderen Leute, während sie durch die Stadt läuft, für das Leben der Leute, die aus den Fenstern gucken oder der Leute, die sie schieben.

Nicht mal mehr für Thomas’ Leben. Sollen sie doch lieben, sollen sie doch hassen, wie es ihnen passt. Sollen sie doch leben, wie sie wollen. Ulrike interessiert sich nur noch für ihr eigenes Leben.

Die Zeit rennt mir davon, denkt Ulrike. Ich komme nicht mehr hinterher.