Impressum

Heinz Kruschel

B.B., der Augenmensch

Gedanken über den Maler Bruno Beye

ISBN 978-3-96521-228-2 (E-Book)

 

Das Buch erschien erstmals 2002 im dr. ziethen verlag Oschersleben.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
 

2020 EDITION digital

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Ich liebte vor allem die Natur und bin schon als Pennäler viel gewandert, die vegetative Natur, die hat mich interessiert. Und der Mensch natürlich, aber da mehr das Hintergründige, sein Fühlen, sein Denken, ich liebte es, ihn zu durchschauen als Porträtist …

Bruno Beye, 1970

1.

Er lebt nicht mehr. In seinem letzten Lebensjahr besuchte ich ihn jeden Monat einmal. Er lag da und erzählte. Er konnte wunderbar erzählen und seine Erinnerungen artistisch modifizieren.

Als ich ihn das letzte Mal sah, lag er im Krankenhaus, das er nicht lebend verlassen sollte, schimpfte auf die Ärzte, auf das Essen und auf das Älterwerden. Still sollte er liegen, dabei fuhr er nun aus der Haut. Er war über achtzig Jahre alt und hatte noch viel vor. Pläne für ein Menschenleben. Ideen für Bilder, und er wollte noch so viele Bücher lesen.

Nun schreibe ich über ihn. Er hat gewusst, dass ich über ihn schreiben werde. Ich schreibe über ihn, weil ich seine grafischen Blätter mag, seine Aquarelle, seine Ölbilder. Aber das ist eine halbe Wahrheit. Ich kann natürlich lange vor einem seiner Bilder stehen, vor der in expressionistischer Manier gemalten Spiegelung von Bäumen auf der Fläche eines Tümpels oder vor einer brutheißen Straße in Sudenburg, einer eigentlich hässlichen Straße, deren Geschichte und deren Stimmung der Maler Bruno Beye einzubringen verstand. Wie er das machte, das weiß ich nicht. Wer weiß schon, wie Kunst entsteht. Viele seiner Arbeiten finde ich natürlich und notwendig.

In Wahrheit schreibe ich über ihn, weil ich mit ihm befreundet war, darum werde ich keine Urteile fällen, und ich werde mich auch hüten, ihn in die Kunstgeschichte einzuordnen. Obwohl er in ihr seinen Platz hat.

2.

Es gab eine Zeit, da haben wir beide gemeinsam gearbeitet. In gewissem Sinne haben wir das zwar immer getan, aber es gab Jahre, da sind wir im Auftrage der Zeitung losgezogen: zu einem Arbeiter, der nach dem Krieg einen Großbetrieb leiten musste und mit der Brechstange gegen die intellektuellen Fallen der deutsch-nationalen Fachleute vorging, weil er es nicht besser vermochte; zu einem Spitzendreher, der sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, auch angedrohte Repressalien in Kauf nehmend, seinen Platz an der Drehbank mit einem Posten in der Betriebsgewerkschaftsleitung tauschen zu müssen; zu einem Kesselschmied, der für die Volkskammer kandidierte und vor dem Spiegel das Binden von Schlipsen und das schöne, mundartfreie Ablesen von Reden übte.

Ich fragte die Leute aus, und Bruno saß dabei und zeichnete sie. Flüssig im Strich. Das ging schnell und leicht, das saß auf Anhieb, und die Leute staunten. Dann erbosten sie sich, als sie sahen, wie Bruno die Blätter auf den Boden wedelte, lässig, das erste, das zweite, das dritte, das vierte. Einmal gezeichnet, hasste er es, auf dem Blatt eine Linie zu korrigieren, zu wischen, darauf herumzufummeln, zu radieren.

Wer begriff das schon? Die Leute erkannten sich doch, die Dargestellten und die Verwandten der Dargestellten, das genügte ihnen völlig. Bruno sagte: „Das stimmt von der Oberfläche her, aber das reicht doch nicht, es muss eben auch das Hintergründige stimmen, das Denkerische, Leben ist nun mal eine geistige Angelegenheit.“

Das sollten die Leute nun ohne Erklärung verstehen.

Seine Porträts waren sparsam, kräftig im Strich, nicht schön im Sinne des Glatten, Gefälligen. In den Fünfzigerjahren hat eine Berliner Zeitung gegen ihn polemisiert, weil er den Professor Kleiber nicht spitzwegerig zeichnete, sondern markiert vom Leben.

Mich hat er auch mal gezeichnet. Nun ja, meine Eltern sagten: „Wir sehen dich ganz anders, Heinz.“ Und Freunde standen davor und sahen mich an, die einen schüttelten die Köpfe, die anderen redeten von Möglichkeiten, mich so zu sehen, von Grenzbereichen der Karikatur, und Bruno, dem ich von den Reaktionen erzählte, sagte nur: „Du kannst deinen Bart noch länger wachsen lassen, du kannst dünner werden oder dicker, aber du kannst dich nicht verstellen.“

Menschen, die sich verstellen können, wollte er nicht zeichnen. Und wenn er sie zeichnete, entlarvte er sie, darüber wird noch zu berichten sein.

 

Es heißt: ,Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.‘

Danach lebte er. Er stellte in Berlin aus, feierte mit den Dadaisten, trat mit der Kabarettistin Käthe Hyan auf, besuchte die Schweiz und Italien und entwickelte sich in Paris zu einem Porträtmaler und Pressezeichner.

Bald war bekannt, dass er mit wenigen Strichen das Hintergründige eines Menschen festhalten konnte. Das sollte so bleiben.

3.

Wir gingen also zusammen zu den Leuten, die in die Zeitung sollten, ich traktierte sie mit diskreten und rücksichtslosen Fragen, sie antworteten, zuerst hygienisch einwandfrei, dann offener werdend, und daran hatte Bruno seinen Anteil. Denn er konnte nicht schweigend dabei sitzen, dafür redete er viel zu gerne. Er warf eine Bemerkung ein, ergänzte oder widersprach und erleichterte mir damit die Arbeit.

Damals muss er um die siebzig gewesen sein. Drahtig, schmal. Zigarettenraucher. Er nahm seine Baskenmütze auch im guten Wohnzimmer des Abgeordneten nicht ab. Die Leute duzten ihn gleich. Merkwürdig, mich duzten sie nicht, obwohl ich viel jünger war. Und er duzte sie auch wieder, und ich denke mir, sie hörten und merkten ihm an, dass er aus der rauen, unsentimentalen, ellenbogenstarken, arbeitsamen, sportbegeisterten, zirkusliebenden, unruhigen, staubigen, ehrlichen Stadt Magdeburg stammte, die trotz der aufgezählten Eigenschaften so beschaffen ist, dass man schon in ihr untergehen oder gut leben kann. Bruno Beye hat sich nie einpflügen oder fest anbinden lassen.

Ja, dann hatte er also an die zehn Porträts gezeichnet und den Leuten vorgelegt und zu Frau und Kindern und Enkeln gesagt, sie sollten doch alle mitentscheiden, es ginge um das beste Porträt.

Und die Betrachter entschieden sich nicht für das gefälligste Porträt, sie entschieden sich für das gröbste, lockerste, für das, auf dem der Mann oder Vater nicht eingepresst war wie in eine Matrize. Für das Porträt, auf dem dieser Maler Beye hinter die Stirn des Porträtierten gesehen hatte. „Das bist du wirklich, Vater, so siehst du vielleicht nicht auf einem Foto aus, aber so bist du oder so kannst du sein.“

Und dieses ausgesuchte Porträt schenkte Bruno der Familie, und das – nach Meinung der Verwandtschaft – zweitbeste übergab er der Redaktion. Das zweitbeste aber war in seinen Augen das beste Porträt.

 

So wird er sie vielleicht alle gezeichnet haben: Martin Andersen-Nexö, Pinthus, llja Ehrenburg, Gerhart Hauptmann, Winterstein, Arnold Zweig, Beims, Bernhard Kellermann, Dungert, Pietro Nenni, in dessen Zeitung La Libertá er in den Zwanzigerjahren publizierte, er wird so auch die Anarchistenköpfe gezeichnet haben, die aufrührerischen, unbeherrschten Katalanen, Spanier, Italiener, Russen. Die Verdammten und auch die Herrschenden der Erde hat er gezeichnet, die Satten, diesen Hauptmann Loeper, den Gauleiter von Sachsen-Anhalt, der ihn ob seines Porträts die SA ins Haus schickte. Beye zeichnete die Faschisten zu einer Zeit, da viele noch nicht glauben wollten, was hinter der braunen Larve steckte, er zeichnete die Angeklagten und Verfolgten, die Ankläger und die Schreibtischmörder. Er war engagiert in seiner Grafik. Kämpferisch immer.

Aber Beye war nicht nur Grafiker, und ihn gar nur als Pressezeichner zu zeigen, hieße, ihn halb zu zeigen. Er war lyrisch, wenn er mit der Farbe arbeitete, er liebte das Aquarell. Er war schwärmerisch vor der Natur, sentimental aber wurde er nicht vor ihr. Oder etwa doch?

Ich kann ihm das alles nachfühlen, und mitunter denke ich: Auf seine Weise hat er gemalt und gezeichnet, wie ich schreibe.

Wie sind wir so geworden. Wie ist Beye so geworden.

Man liebt seine Bilder. Sie hängen in Museen und nicht nur in den Wohnungen der Sammler. Man nennt seinen Namen in einem Atemzug mit den Namen Weinert, Pfemfert, Höpfner, Bruse, Dungert, Stuckenschmidt. Man ehrte ihn sehr spät. Nach seinem Tod schrieb man über ihn wissenschaftliche Abhandlungen.

Beye hat nie die Tradition verleugnet, weder künstlerisch noch historisch. Natürlich ist das eine Behauptung.

Und dürre Behauptungen rascheln nur und ergeben keine Melodie.

4.

Wie hat das angefangen mit ihm. Woher stammten Talent, Begabung? War es Gefühl, Instinkt, Erbteil? Wann hat er das erste Mal gezeichnet? Wer hat ihm gesagt, dass er malen müsste? Wem hat er geglaubt? Wem nicht?

Er war nie ein artiger Schüler. Er war nie gläubig. Propheten, gleich, was sie immer verkündeten, belachte er. Er war doch gläubig: vor der Natur, glaube ich. Vor der Natur ist jeder Mensch gläubig, wenn er denn Mensch geblieben ist.

Aus dem selbstbewussten Stadtbürgertum stammend, fünf Jahre vor der Jahrhundertwende geboren, mit ländlichen Wurzeln, denn die Vorfahren mütterlicherseits wohnten in der Börde, seine aber in Bodenwerder, und in dieser Münchhausengegend verbrachte er einen Teil seiner Kindheit. Vater war ein begabter Klempner, er konnte aus einem kupfernen Zweipfennigstück eine Treibarbeit herstellen: eine kleine Tasse. Und Vater wäre viel lieber ein Zeichner oder Maler geworden, er hat nach dem Willen der Mutter die Klempnerei gelernt, er hat auf der Walze manchmal Kabarett gespielt. Dann lernte Vater Beye in Magdeburg das Mädchen kennen, deren Vater Bismarck im Kranzler als Kellner bedient hatte. Nun hatten die Schwiegereltern ein Restaurant in der Alten Neustadt, manchmal aß Beye senior dort zu Mittag und entwarf nebenbei die Lichtreklame für ein Pfeifengeschäft. Er arbeitete in einer Blechbude und war so geschickt, dass er Pferde und Hunde für Karussells aus Zinkblech herstellen konnte.

Bruno erinnerte sich: „Mein Vater liebte seinen Beruf so sehr, dass er aus ihm nie ein Geschäft machen konnte. Ist es bei einem solchen Vater ein Wunder, dass ich schon als kleiner Junge die Typen des alten Magdeburg zeichnete?“