Impressum

Klaus Möckel

REBELLISCHES WISSEN

Diderots Kampf um die Große Französische Enzyklopädie

Historische Erzählung. Mit Kurzbiografien der wichtigsten handelnden Personen

 

ISBN 978-3-96521-205-3 (E-Book)

ISBN 978-3-96521-207-7 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Alte Dorfstraße 2 b

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Der Despotismus, meine Freundin, ist die schrecklichste aller Versuchungen: Man kann ihr nicht widerstehen. Wer alles ungestraft tun kann, tut viel Böses.

(Brief Diderots an Sophie Volland vom 1. 11. 1760)

 

Der achte Textband geht seinem Abschluss entgegen … Zuweilen war ich versucht, Euch einige Passagen abzuschreiben. Gewiss wird dieses Werk mit der Zeit eine Revolution im Denken bewirken, und ich hoffe, dass die Tyrannen, Unterdrücker, Fanatiker und Unduldsamen das Nachsehen haben. Wir werden der Menschheit einen Dienst erweisen, doch wir werden schon lange Staub und Asche sein, bevor man uns dafür Dank weiß.

(Brief Diderots an Sophie Volland vom 26. 09. 1762)

I. Teil

1

Die Finger, vorsichtig, zurückhaltend, fuhren über die Seiten, die noch nach Druckerschwärze rochen, glitten Zeile um Zeile den Text entlang, verweilten, wenn ein Satz, ein Wort ins Auge sprangen, kamen bei weniger interessanten Passagen ins Laufen. Schließlich ergriffen sie das Buch und blätterten es durch, von hinten nach vorn, bis sie das Titelblatt mit der Zeichnung erreicht hatten, mit der langen Aufschrift und dem Horaz-Zitat:

Tantum series junturaque pollet, tantum de medio sumptis accedit honoris!

„So viel Wissen ihr ansammeln könnt, so viele Ehren werden euch zuteil werden!“, übersetzte Nicolas-René Berryer, der Polizeipräfekt von Paris, frei und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Ein interessantes Buch, nicht ohne Geschick zusammengestellt. Ich bewundere die Arbeit, die diese Leute aufgewandt haben, um all die Seiten mit Wissen zu füllen. Eigentlich sollten wir ihnen dankbar sein.”

Der Mann, an den diese Worte gerichtet waren, zwinkerte überrascht mit den Augen. Ein Uhu im grauen Überrock, aufgeplustert, dickköpfig. Die Nase klein und krumm wie der Schnabel des Nachtvogels, die Backen welk, doch gleichzeitig sonderbar ausgestopft. Nur die vergilbte Perücke, unter der es wahrscheinlich von Läusen wimmelte, passte nicht zum Bild.

„Es ist ein sehr gefährliches Buch, Monsieur”, erklärte er eifrig. „Ein Buch, das sich gegen die heiligen Gesetze unseres Staates und gegen den Glauben richtet. Die Artikel sind voller Gotteslästerung. Und das Schlimmste: Es ist nur das erste einer ganzen Reihe. Ich habe es von Anfang bis Ende gelesen und einen Bericht darüber geschrieben.” Er deutete auf ein zusammengerolltes Pergament in seiner Hand. „Unter den unscheinbarsten Überschriften verbirgt sich das Gift der Zersetzung.“

Berryer legte den Band auf den Schreibtisch und schaute den anderen nachdenklich an. Mein Gott, dachte er, mit wem muss ich mich verbünden. Ich, Erster Polizeibeamter der Hauptstadt, der für die Sicherheit in den Straßen verantwortlich ist, der das Verbrechen und das Unrecht bekämpfen soll. Er schüttelte sich, als hätte er eine Schlange berührt. Nicht dass er seine Pflichten gegenüber dem Staat vernachlässigen wollte, aber der Kerl war ihm widerlich. „Findet mir ehrliche Leute, die den Beruf eines Spitzels ergreifen”, hatte einer seiner Vorgänger, der Graf d’Argenson, erklärt. Berryer hätte das sehr gern versucht. Doch er wusste, dass solche Bemühungen nichts, aber auch gar nichts brachten.

„Die Leute, Glénant, die an diesem Werk arbeiten, sind bekannte und geachtete Gelehrte”, sagte er lässig, beinahe belehrend. „Nehmt zum Beispiel Monsieur d’Alembert. Er ist ein bedeutender Mathematiker und Physiker, Mitglied mehrerer Akademien. Würde er seinen Namen für ein Unternehmen hergeben, das die von Euch erwähnten Anschauungen enthält? Ich kenne ihn, er ist ein vorsichtiger Mann.”

„D’Alembert ist ein Freigeist”, erwiderte der Mann mit dem Uhugesicht. „Es mag sein, dass er Vorsicht walten lässt, doch huldigt er subversiven Theorien. Außerdem ist er bei weitem nicht der Schlimmste im Bund. An der Spitze des Werkes steht als Organisator Diderot, ein höchst verdächtiges Subjekt. Er steckt seine Nase in alle möglichen Dinge. Er treibt sich in Cafés und Tavernen herum, wo er sich mit dem Pöbel gemein macht. Wie auch andere dieser sogenannten Philosophen, hat er eine Vorliebe für zweideutige Schriften. In einem seiner Bücher, das er ‚Die indiskreten Kleinode’ nennt, sind Dinge beschrieben …”

Glénant brach ab und fuhr dann beinahe flüsternd fort: „Das Buch spielt in Afrika. Ein Fürst bekommt einen Zauberring geschenkt, mit dem er die” – er schlug sich auf den Hosenlatz – „die …, na eben die Kleinode der Damen zum Sprechen bringt.”

„Sonderbarer Einfall”, sagte Berryer kühl, der das Buch längst kannte.

Glénant hüstelte. Dann erklärte er hastig: „Dieser Diderot hat bereits für den ersten Band der Enzyklopädie an die zweihundert Artikel verfasst.”

Berryers Finger spielten mit einer kostbar verzierten goldenen Tabakdose, seine Gedanken schweiften ab, gingen ein paar Jahre zurück. Was der Mann erzählte, überraschte ihn keineswegs. Er kannte Diderot, hatte den damals noch wenig beachteten Gelehrten wegen einer freigeistigen Schrift in den Turm von Vincennes werfen lassen. Es war um den „Brief über die Blinden” gegangen, der den Unwillen des königlichen „Großen Rates” und der im Parlement vertretenen Richterschaft erregt hatte. Der junge Mann hatte darin seine Zweifel an jeglicher Religion zum Ausdruck gebracht. „Wenn Ihr wollt, dass ich an Gott glauben soll”, hatte er einen blinden Engländer namens Saunderson sagen lassen, „müsst Ihr dafür sorgen, dass ich ihn anfassen kann.”

Glénant sah ihn fragend an, doch Berryer achtete nicht darauf. Der Spitzel hat vielleicht recht, dachte er, die Enzyklopädie wird ohne Zweifel mit einer aufrührerischen Absicht verfasst. Dennoch reizte es ihn, dem anderen zu widersprechen. „Diderot ist gewiss ein komplizierter Mann, den man im Auge behalten muss”, sagte er kurz angebunden und ungewohnt laut. „Aber er ist intelligent und weiß, dass wir in manchen Dingen keinen Spaß verstehen. Im Übrigen können wir unsere Gelehrten nicht behandeln wie Straßenräuber.”

Glénant schwieg, und man sah, dass er sich vor den Kopf gestoßen fühlte. Auf eine Verteidigung der Enzyklopädie durch Berryer – zumindest klang es so – war er nicht gefasst.

Der Polizeipräfekt bemerkte es und fügte, wie um sich zu rechtfertigen, hinzu: „Le Breton und die anderen Verleger besitzen eine Lizenz, eine königliche Genehmigung, für die Herausgabe der Bücher, daran ist nicht zu rütteln. Ich kenne Monsieur Le Breton persönlich. Er wird nichts tun, was den Interessen Seiner Majestät zuwiderläuft. Aber seid unbesorgt, ich werde den ersten Band sorgfältig prüfen lassen. Wenn sich Eure Befürchtungen als richtig erweisen, werde ich das Nötige veranlassen. Lasst den Bericht hier, den ich in Eurer Hand sehe, damit ich ihn weiterleiten kann. Ich danke Euch für die wertvollen Hinweise.”

Damit war der Uhu entlassen. Missgestimmt, er hatte auf einen besseren Lohn für seine Dienste gehofft, verließ er den Raum. Nicht einmal richtig zu Wort gekommen war er, dabei gab es Artikel in diesem Machwerk, die nur so von Auflehnung und Ketzerei strotzten. An das Oberste Gericht, das Parlement, müsste man sich wenden, dachte er, und stieg, vor sich hin schimpfend, die Treppe zum Hinterausgang hinab.

Als die Tür hinter Glénant ins Schloss gefallen war, erhob sich Berryer und trat ans Fenster. Frische Luft brauchte er, frische Luft. Es war aber nicht nur der Pomadengeruch des Spitzels, der ihm Unbehagen einflößte. Die Geschichte mit dieser Enzyklopädie, der Wirbel, den schon der erste Band auslöste, behagten ihm gar nicht. Er sah Probleme auf sich zukommen, mit denen er sich nur ungern beschäftigen würde.

Berryer öffnete das Fenster, und jäh schlug ihm der Lärm der Straße entgegen. Trotz der Hitze – der Juni hatte in diesem Jahr nur wenig kühle Tage gebracht – drängten sich draußen die Passanten. Paris war ein Durcheinander von Tieren, Menschen und Fuhrwerken aller Art: Mietskutschen und prächtige Karossen, Leiterwagen, Handkarren, Sänften, Pferde, Katzen, Hunde, Bettelvolk, Vagabunden, Abenteurer aus aller Herren Länder, Dirnen und Marktweiber, Straßenmusikanten, Soldaten in bunten Uniformen, ehrbare Bürger, Kramwarenhändler und Edelleute. Das alles schob und drängte sich, wich aus und prallte gegeneinander. Das Fluchen der Kutscher vermischte sich mit dem Gekreische angerempelter, mit Straßenkot bespritzter Dämchen. Von einem Podest tönten das Gefiedel einer Geige, das heisere Gebell einer Trommel herüber. Pasteten-, Gemüse-, Obst-, Milch-, Fleisch-, Fisch-, Wasserverkäufer boten ihre Ware feil. Die Schreie der Scherenschleifer, der Lumpensammler brachen sich an den Häusermauern. Kaninchenfelle gegen das Rheuma, Vogelkäfige, Ratten- und Mausefallen wurden lautstark angepriesen, und über all dem Geschimpfe, Gelächter, Gebrüll, dem Marktgeschrei und Gezeter lag der dumpfe, dröhnende, nicht enden wollende Klang einer der tausend Glocken dieser an Kirchen so reichen Stadt.

Berryer schaute dem Treiben einen Augenblick lang zu. Drüben verschwand Glénant einem Schatten gleich in der Menge, und der Präfekt wollte sich schon ins Zimmer zurückwenden, als er von einigen einfach gekleideten Burschen gesichtet wurde. Pfiffe, Rufe, drohend emporgereckte Fäuste. Berryer kannte die Leute nicht, doch er war keineswegs verwundert. Er hatte solche Szenen schon öfter erlebt und wusste, dass er beim Volk nicht beliebt war. Ein Jahr war es erst her, da hatten ihn Männer wie die da unten tagelang im Grand Châtelet belagert, weil sie mit den ständigen Teuerungen, den Kriegen, die das Land führte, der Politik in den Kolonien nicht einverstanden waren. Die neue Straße kam ihm in den Sinn, die Ludwig XV. vor kurzem um die Stadt herum hatte anlegen lassen, weil er nicht vom Pöbel belästigt werden wollte. Der “Vielgeliebte”, der noch immer die Zuneigung des einfachen Volkes besaß, war auf dem besten Weg, sich diese Sympathie zu verscherzen.

Berryer tat, als nähme er keine Notiz von den Drohungen. Es war sinnlos, Büttel auszuschicken. Noch bevor sie eingreifen könnten, wären die Leute im Gewühl untergetaucht. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, schluckte den aufsteigenden Ärger hinunter, zog sich vom Fenster zurück. In Gedanken war er wieder bei der Enzyklopädie. Bei Licht betrachtet, gab es da Zusammenhänge. Dieser Glénant war widerlich, aber nicht dumm. Man musste es ihm lassen: Er hatte schon immer einen Blick für verdächtige Dinge gehabt.

Der Präfekt steckte die Tabakdose weg, die er noch immer in den Händen hielt, ging zum Schreibtisch und nahm nachdenklich den Bericht auf, den der andere dagelassen hatte. Es hilft nichts, ich muss mit dem Minister, Graf d’Argenson, über diese Sache sprechen, dachte er. Vielleicht konnte er auch eine Unterredung mit der Favoritin des Königs, mit Madame de Pompadour, erwirken, der er seine Karriere verdankte. Er wusste, dass sich die Mätresse in der Rolle gefiel, die Künste und Wissenschaften zu fördern, er musste in Erfahrung bringen, ob sie ihre wohlmeinende Haltung gegenüber dem Werk noch immer beibehielt. Er griff zur Glocke, läutete nach dem Lakai:

„Eine Kutsche nach Versailles”, befahl er, „man soll ein schnelles Gespann nehmen.”

Der Diener, würdevoll bis in die Fingerspitzen, nahm den Auftrag wortlos entgegen. Nur durch eine Verbeugung gab er zu erkennen, dass er den Befehl umgehend ausführen würde.

2

Die Geschichte hatte um das Jahr 1746 herum begonnen, zu einem Zeitpunkt, als Diderot, der Abenteurer, der ewig Suchende, ziemlich in der Klemme saß. Er hatte sich bis dahin recht und schlecht durchgeschlagen. Er erinnerte sich nicht ungern an seine Jugend, an das Vaterhaus in Langres, an seinen ersten Versuch, nach Paris überzusiedeln und an das Jesuitenkolleg in der Hauptstadt, wo er vieles gelernt hatte, wenn es ihm dort auch schließlich zu langweilig geworden war. Diderot, der Rastlose, der nicht Arzt hatte werden wollen, weil es ihm um die Menschen leid tat, die er hätte ins Jenseits befördern müssen, nicht Jurist, weil ihn die schmutzigen Angelegenheiten anderer Leute allzu wenig reizten. Diderot, der gelehrte Vagabund, für den es immer etwas zu erforschen, zu ergründen gab, der Griechisch beherrschte, Latein, Italienisch, Englisch erlernt hatte, der ein Kenner der Mathematik und Physik war, aber meist keinen Sous geschweige denn einen Louisdor in der Tasche hatte.

„Wovon habt Ihr in all den Jahren gelebt, Monsieur?”

„Von Luft und Wasser, Sonne und Licht, oder, wenn Ihr eine sachliche Antwort liebt: Zunächst von der Unterstützung, die mir der Vater, ein gerechter, aber strenger Mann, gewährte; dann von Gelegenheitsarbeiten, Übersetzungen, Kopiertätigkeit, von den paar Goldstücken, die mir die Mutter zukommen ließ, von Pump und guten Ideen. Einmal habe ich Predigten für einen Missionar portugiesischer Kolonien ausgearbeitet, ein andermal einen Kartäusermönch ausgenommen. Ein rechtes Bubenstück. Der fromme Bruder wollte mich für den Eintritt in sein Kloster gewinnen und lockte mit einer hübschen Summe. Ich nahm das Geld, doch als ich es hatte, überlegte ich mir die Sache anders. Es war ungehörig von mir und er aus gutem Grund sehr verärgert.”

Als Diderot mit dem Verleger und Buchhändler Le Breton ins Gespräch gekommen war, hatte ein so großes Werk zunächst nicht zur Debatte gestanden. Vielmehr brauchte der Mann einen guten Übersetzer, für die „Cyclopaedia” von Chambers, ein englisches Diktionär. Er hatte sich mit den Herren Mills und Sellius überworfen, einem Engländer und einem Deutschen, die dieses Werk ins Französische bringen sollten, die Sprache aber, wie er herausfand, nicht so ganz beherrschten. Die beiden wehrten sich gegen diesen Vorwurf, und es kam zum Streit. Eine recht spektakuläre Geschichte, wie Diderot freilich erst später erfuhr. Im Augenblick seiner ersten Gespräche mit Le Breton wusste er dagegen nur wenig von jenen Vorgängen, in deren Verlauf der Engländer seinen Gegner mit der Pistole bedroht hatte und daraufhin von ihm aus dem Haus geprügelt worden war. Sellius, als er merkte, dass der Verleger am längeren Hebel saß und mit ihm nicht zu spaßen war, hatte eher resigniert, sich still zurückgezogen.

Auf jeden Fall besaß Le Breton eine königliche Genehmigung, um die „Cyclopaedia” herauszubringen, aber er hatte keinen, der sie ihm ins Französische brachte. Diderot kam ihm deshalb gerade recht. Der junge Mann hatte bereits, neben anderen Texten, recht anständig Shaftesburys „Versuche” in seine Muttersprache übertragen, er hatte die nicht ganz arglosen „Philosophischen Gedanken” verfasst und saß, wie man sich erzählte, bereits an einer neuen Arbeit. Kurz: Er war im Begriff, sich einen Namen zu machen. Und er brauchte dringend Geld, weil er so unvorsichtig gewesen war, eine Ehe mit einem hübschen Weib einzugehen, das einzig seine Liebe als Mitgift einbrachte.

Nun gut, anfangs hatte die Leidenschaft wohl einiges andere ersetzt. Nicht ohne Bedauern erinnerte sich Diderot an die heißen Küsse und wilden Umarmungen mit Antoinette am Ufer der Seine, im Frühling, wenn sanft der Wind durchs Buschwerk streifte und die Wellen an der Böschung leckten. Einmal, als sie nackt im Gras lagen und seine Finger zärtlich-gierig über ihre Haut glitten, fuhr ganz nah ein Boot mit zwei Mönchen vorbei, die verblüfft zu ihnen herüberstarrten. Beinahe wären sie gekentert, so reckten sie sich über den Rand ihres Kahns, was wiederum Nanette zu hellem Lachen brachte. Das Hemd vor die bloßen Brüste pressend, winkte sie spöttisch den Männern zu, die hastig davonruderten.

Es war eine schöne Zeit gewesen, nicht sorgenfrei, aber voller Leichtigkeit. Das allerdings hatte sich geändert. Inzwischen musste Diderot eine langsam, doch stetig wachsende Familie ernähren. Kein Wunder also, dass ihm die Kupfermünzen für das Glas Wein, das Zitronengetränk oder die Tasse Kaffee fehlten, die er im Café de la Régence zu sich nahm, und dass seine Frau, durch die Knappheit zänkisch geworden, ständig ums Geld lamentierte.

Le Breton hatte all das in Erfahrung gebracht, bevor er sich mit dem jungen Mann in Verbindung setzte, aber nicht mit Diderots Temperament und Phantasie gerechnet. Nachdem sich der Philosoph nämlich eine Weile mit Chambers Diktionär befasst hatte, erklärte er dem Verleger eines Tages:

„Die Übertragung der ‚Cyclopaedia’ wäre sicher ein gutes und respektables Unternehmen, Monsieur, Not tut uns aber etwas anderes, ein viel größeres, umfassenderes Werk. Man sollte … nein, man müsste das Wissen der Welt neu ordnen und in einem dicken Buch speichern. Ach was, ein einzelnes Buch reicht da bei weitem nicht aus, man müsste drei, fünf, eine ganze Reihe von Büchern herausbringen, die über alles Auskunft geben könnten: über die Literatur, die Malerei, die Musik, den Tanz, das Theater, über die Philosophie und die Naturkunde, die Mathematik, Physik, die Mechanik, über alle geistigen und handwerklichen Tätigkeiten.”

Der Verleger schaute den Philosophen verwundert an. Wen, zum Henker, hatte er sich da ins Haus geholt, ein Genie oder einen überdrehten Fantasten, mit dem man sich besser erst gar nicht einließ? Er kratzte sich zweifelnd den Kopf und erwiderte:

„Das Wissen der Welt? Wie stellt Ihr Euch das vor? Wie wollt Ihr, ein kluger Mann, der aber nur einen Kopf hat und unmöglich alles selbst verstehen, sammeln, bearbeiten kann, jemals eine solche Aufgabe bewältigen? Lasst diesen verrückten Gedanken fallen, Monsieur, das bringt nichts. Übersetzt mir Chambers’ Diktionär. Damit leistet Ihr der Wissenschaft einen nicht zu verachtenden Dienst.”

Doch Diderot war nicht mehr zu bremsen. Er lief mit großen Schritten durch den Raum; seine Rockschöße flogen, seine Hand zerschnitt die Luft:

„Verrückter Gedanke? Bedenkt doch die einmalige Chance, Monsieur! Natürlich habt Ihr recht, ein Mann allein kann das nicht schaffen. Doch wir haben Bekannte, gute Freunde. In Paris finden sich Gelehrte ersten Ranges, Künstler von internationalem Ruf und großem Talent. Man muss Verbündete suchen, eine Gemeinschaft begründen. Ich habe es gründlich überdacht, der Einsatz ist groß, aber gering gegenüber dem zu erwartenden Erfolg. Lasst Euch doch überzeugen. Frankreich wartet auf ein solches Werk. Ihr könnt ein Vermögen damit verdienen.”

Das letzte Argument fiel bei Le Breton auf fruchtbaren Boden. Er war ein vorsichtiger Mann, aber auch ein guter Rechner, den der Gewinn reizte. Er sah seine Chance durchaus. Nach einigem Überlegen ging er auf Diderots Pläne ein.

Freilich gab es zunächst tausend Hindernisse. Da musste ein Startkapital aufgebracht werden, das Le Bretons Möglichkeiten überstieg. Zumindest behauptete er das. Er war nicht gewillt, das Risiko allein auf sich zu nehmen. Er wandte sich an einige Kollegen, an Briasson, bei dem Diderot schon eine “Geschichte Griechenlands” herausgebracht hatte, an Durand, an David und erreichte ihre Beteiligung, immer darauf bedacht, mehr als fünfzig Prozent der Anteile in der Hand zu behalten.

Doch das war nur ein Problem. Neben der finanziellen gab es noch die inhaltliche Seite. Der Verleger war sich darüber im Klaren, dass ein solches Vorhaben die Fanatiker auf den Plan rufen musste, die Dunkelmänner, alle Feinde des freien Gedankens. „Tout pour la science!”, „Alles für die Wissenschaft”. Die Wunder des katholischen Glaubens würden durch die Wunder des Wissens in Frage gestellt werden, deshalb musste die seinerzeit erworbene Lizenz, die wertvolle „Königliche Erlaubnis” für die „Cyclopaedia” bestätigt und erweitert werden. Das Herz rutschte den Verlegern bei diesem Gedanken in die samtenen Kniehosen, und sie schickten Diderot zum gefürchteten Kanzler d’Aguesseau, damit er dort sein fantastisches Projekt selbst verteidige.

Der Philosoph machte sich mit gemischten Gefühlen auf den Weg. Auch wenn der König wegen seiner vielen außerehelichen Abenteuer mit dem Klerus im ständigen Streit lag, hielt er seine Macht doch für von Gott gegeben. Deshalb durfte der Kanzler in dem geplanten Werk nichts vermuten, das gegen diesen Grundsatz verstieß. Vielmehr musste ihm erklärt werden, welch große Anerkennung das französische Königtum durch die Herausgabe im In- und Ausland erringen könne und dass ein Abglanz davon gewiss auch auf ihn selbst fiele. Wobei Erklären wiederum nicht mit Belehren verwechselt werden durfte, denn das konnte der eitle Kanzler übelnehmen. Eine vertrackte Geschichte.

Doch Diderot ließ sich davon nicht abschrecken. Seiner Überredungskunst, seinem Eifer und seiner großen Begeisterung gelang es schließlich, die Genehmigung zu erwirken. Der erste, nicht unbedeutende Sieg war errungen.

Seitdem waren fünf Jahre vergangen. Fünf lange Jahre hatte man leidenschaftlich diskutiert, organisiert, geschrieben, korrigiert und heimlich gedruckt. Diderot hatte unermüdlich für die Mitarbeit am Werk geworben, Gelehrte und Künstler aufgesucht, Edelleute, die nicht gar so eng dachten, aber auch Handwerker und Arbeiter in einigen Manufakturen. Wie vieler Nachfragen es doch bedurfte, um herauszufinden, auf welche Weise zum Beispiel so ein winziges Ding, eine Nadel, entstand! Fünf Jahre, aber nun lag ein Ergebnis vor: der erste Band der Enzyklopädie, ein Foliant, der den Buchstaben A umfasste, war soeben erschienen.

„Endlich”, sagte Diderot, „endlich. Der Band A und ganz so, wie wir ihn uns vorgestellt haben. D’Alembert wird zufrieden sein.”

Sie hatten in der Rue d’Anjou zu Mittag gegessen, befanden sich in Höhe des Palais Royal. Diderot fühlte sich beschwingt, war außer Rand und Band, und das nicht nur wegen des reichlich genossenen Burgunders. Freudige Erregung hatte ihn ergriffen, ein Überschwang der Gefühle. Die Jahre der Entbehrungen, der rastlosen und harten Arbeit, der Auseinandersetzungen, Laufereien, Bittgänge und Winkelzüge hatten sich gelohnt. Die bitteren Wochen der Gefangenschaft von Vincennes waren nicht umsonst gewesen.

Allerdings – eine goldene Nase würde er sich mit der Enzyklopädie kaum verdienen – ihm das Stroh, den Verlegern der Weizen. Große Sprünge würden ihm auch in Zukunft versagt bleiben, das wusste er. Doch es ging um mehr! Der erste Band war da, in den Pfarrstuben, den Salons, am Hof würde man ihn sich gegenseitig aus den Händen reißen. Denn es war ein großartiges, kühnes und zugleich gefährliches Werk, das da Gestalt annahm. Gefährlich im doppelten Sinne: für ihn und für die Gegner. Es würde die Feinde der Wissenschaft in Aufruhr versetzen, sie aber auch bloßstellen, die dunklen Mächte des Aberglaubens aufstören, sie aber auch ins Licht holen.

Le Breton, der etwas größer war als sein Begleiter und breiter in den Schultern, warf von Zeit zu Zeit einen belustigten Blick auf Diderot. Er war nicht weniger zufrieden, freute sich, dass es endlich ans Ernten ging. Aber die Befriedigung, die er empfand, war gedämpfter. Er dachte an das investierte Geld, eine erhebliche Summe, die erst wieder hereingebracht werden musste. Diderots Begeisterung erheiterte und beunruhigte ihn zugleich.

„D’Alembert”, erwiderte er schließlich, „d’Alembert sicherlich. Ob allerdings die Sorbonne, die Gerichtshöfe, ob unsere Herren Jesuiten und Jansenisten ebenso einverstanden sein werden, wage ich zu bezweifeln.”

„Einverstanden oder nicht, sie werden das königliche Siegel”, Diderot drückte den rechten Daumen energisch gegen die linke Handfläche, „und die Sympathie, die Madame de Pompadour unserem Unternehmen entgegenbringt”, er machte eine ironische Verbeugung, „zur Kenntnis nehmen und respektieren müssen. Nichts geht über den Schutz einer schönen und einflussreichen Frau.”

Nun lachte der Verleger. Sein ganzer Körper bebte, und die Perücke wackelte auf seinem Kopf. Der Gedanke an Ludwigs Favoritin, diese junge, sehr geschickte Stute, die, obwohl nicht adliger  Herkunft, den König bei seinen Jagden entflammt und in ihr Bett gezogen hatte, ließ ihn für den Augenblick alle Sorgen vergessen. Aber gleich darauf wurde er wieder ernst. Er war nicht so sehr überzeugt, dass die Pompadour wirklich eingreifen würde, wenn es hart auf hart ging.

„Schützen wir uns lieber selbst”, erklärte er, „seien wir vorsichtig und klug.”

Sie drängten sich an einer Menschenmenge vorbei, die einem Feuerschlucker zusah. Vor Staunen offene Münder, Gelächter, Applaus. Diderot glitt beim Überspringen eines stinkenden Rinnsals, das mitten über die Straße floss, unversehens aus, denn glitschiger Schlamm bedeckte hier das Pflaster. Fast wäre er hingefallen, doch hielt er sich in letzter Sekunde an Le Breton fest.

„Paris, la belle ville”, knurrte er, aber dieser Ausruf war nicht ernst gemeint. Er liebte dieses Klima, diese Stadt trotz allen Schmutzes. Hier, wo sich die regsten Geister Europas, ja der ganzen Welt ein Stelldichein gaben, wo man die Ideen aus der Luft griff wie anderswo Fische aus dem Wasser, fühlte er sich zu Hause.

„Vorsicht ist gut”, nahm er das Gespräch wieder auf, „aber Kühnheit ist nicht weniger notwendig.”

„Wer bezweifelt das, Monsieur? Waren etwa ich und meine Kollegen nicht kühn, als wir Eurem Projekt zustimmten? Nur sollten wir unsere Gegner nicht unterschätzen. Unser Erfolg wird ihnen schlaflose Nächte bereiten. Auf keinen Fall werden sie sich ruhig verhalten.”

Diderot lief einige Schritte voraus, rempelte einen Stutzer an, der in seinem mit Fischbein gesteiften, weiten Überrock, hochhackigen Schnallenschuhen und einem Hut mit blauer Seidenschleife eher einem der vielen Dämchen dieser Gegend glich, und wandte sich jäh wieder dem Verleger zu.

„Wir haben die Wahrheit auf unserer Seite, Le Breton. Mit jedem Angriff auf unser Werk wird es nur an Wirksamkeit gewinnen. Was unsere Werbung nicht vermag, wird das Geschrei der Gegner erreichen. Eine Chance für Euch, den Umsatz zu erhöhen.”

Le Breton runzelte die Stirn. Solche Anspielungen aufs Geld ärgerten ihn. Er fand sie ungezogen. Dieser Hasardeur, dachte er, begreift nicht, dass wir noch immer am Anfang sind. Ganz am Anfang. Wenn wir nur voranstürmen würden, kämen wir bald in Teufels Küche.