Impressum

Egon Richter

Abflug der Prinzessin

Roman

 

ISBN 978-3-96521-230-5 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1974 im VEB Hinstorff Verlag Rostock.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR
Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

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1. Kapitel

Tabula rasa – eine leere Wand, oder besser, dachte er, die leere Wand, denn es war nie irgendeine, sondern stets eine sehr konkrete leere Wand, für ihn jedenfalls, in diesem Falle also die: zwölf Meter breit und drei Meter hoch – eine Riesenfläche. Einen Augenblick lang fühlte er sich sehr klein vor dieser Leere. Dann dachte er rasch etwas anderes. Er dachte: Verputzter Beton, Plattenguss, absolut nichts Neues, Vorgesetzte Bauelemente, dahinter die Stabilität, Stahlpfeiler.

Er stand neben der hohen Vollglasfläche der Fensterwand, Thermoscheiben, die den Flugplatzlärm zu einem angenehmen Summen drosselten, sodass, wenn er hin und her ging, dröhnendes Hallen den leeren Raum erfüllte, Echo seiner Schritte.

Er blieb still neben der Fensterfront stehen, sein Blick fiel zufällig auf die schwache Spiegelung, und er dachte: Ich werde alt. Er dachte dies ohne Wehmut und ohne Bedauern, er stellte es einfach fest. Die Wirkung war imponierend, trotz alledem: Staatspreisträger Gisbert Hollweg, mutterseelenallein in einem ungeheuer leeren Raum, vor einer hohen Glaswand in den Anblick seines Spiegelbildes versunken, Bild eines mittelhochgewachsenen Herren in pfeffer-und-salzfarbenem Tweedjackett und rehbraunen Lederjeans; mildes Grau durchsetzte die dunklen Haare an Schläfen und ohrlangen Koteletten – ein eirundes, glattes, nur unter den Augen faltiges braun gebranntes Gesicht: der Sommer in Hollwegs Antlitz. Er hatte keine Lust, sich über sich selbst lustig zu machen, zumindest nicht heute. Heute schon gar nicht.

Er wandte sich ab von seinem Spiegelbild, durch das Start- und Landebahnen, Passagierbusse, Tankfahrzeuge, quirliges Flugplatzgeschehen hindurchschimmerten, wie bei einem doppelt belichteten Film, und sah wieder auf die Betonfläche, die die hohen Fenster rechtwinklig begrenzte.

Er maß sie noch einmal mit den Augen aus, versuchte sie in ihrer ganzen Größe zu erfassen, so wie er es im Laufe der Jahre bei Dutzenden solcher Wände getan hatte. Diese hier verschloss sich ihm. Dabei war sie ihm nicht unbekannt. Im Gegenteil: Er hatte sie schon auf zahlreichen Entwürfen, Bauzeichnungen und Aufrissen gesehen. Er dachte: Ich bin unkonzentriert, so geht das nicht. Er griff in die Jackentasche, fingerte eine lange Zigarette aus der Packung und blies den Rauch in Richtung der leeren Fläche. Sieht grau aus, dachte er, im Putz grundiert, bisschen flach im Ton, eigentlich mehr blau, flaches, dünnes Himmelblau.

In diesem Augenblick wusste er, dass er hinaussehen würde, dass es keinen Zweck mehr hatte, sich gegen das schmerzhafte Ziehen im linken Schultergelenk zu sträuben, ein Ziehen, das er schon eine ganze Weile spürte, eigentlich schon so lange, wie das viermotorige Flugzeug unterhalb der Glasfront seine Motoren warmlaufen ließ mit bebendem Dröhnen, das nur gedämpft hierher drang. Bis jetzt war es ihm gelungen, dies zu überhören und zu versuchen, sich ausschließlich auf die Wand zu konzentrieren, standhaft zu bleiben, keinen Rückfall zu provozieren, Schluss zu machen, endgültig, Tabula rasa.

Aber jetzt, nachdem das Motorengeräusch immer leiser geworden war, weil die Maschine von der Halle wegrollte, nun, da er die Farbe der leeren Wand als Himmelblau erkannt und das Flugzeug endlich seinen Startplatz erreicht hatte, eine silbern schimmernde Aluminiumzigarre in fahlem Sommerwiesendunst, jetzt wurde der Drang, noch einmal hinzusehen, unbezähmbar.

Lautlos glitt die Maschine über die kilometerlange Startbahn. Er sah, wie das Flugzeug abhob, wie es hineinstieß in den sehr hellen, blauen Julihimmel, und trotz allen aufrichtigen Widerstandes spürte er den Schmerz, der von den Schulterblättern aus die Brust umgriff, rasch wieder verschwand und ihn allein ließ.

Ganz allein. Ohne Susanne, die mit 800 Stundenkilometern einem neuen Leben entgegenflog. Ohne ihn noch einmal gesehen zu haben, hier auf dem Flugplatz, ohne zu wissen, dass er hier stand, hinter der funkelnagelneuen Glasfront, sieben Meter über ihr, vorhin, als sie in der Menge der anderen die Gangway hinaufstieg mit ihrem leichten, fast wippenden Schritt, klein und zartgliedrig in dem roten Sommerkostüm, den Mantel über dem Arm und in der linken Hand die weiße Tasche – die hatte er ihr einmal geschenkt. So war sie die Gangway hochgestiegen, sehr schön und ohne ihn zu suchen. Sie konnte nicht vermuten, dass er hier war, wenige Meter von ihr entfernt, nur durch die Höhe und die Fenster von ihr getrennt, das konnte sie nicht ahnen.

Und natürlich hätte er nicht herzukommen brauchen, heute. Er hätte sich auch einen anderen Tag aussuchen können, um die Betonfläche in der neuen Abfertigungshalle zu besichtigen. Er hätte sich nicht unbedingt diesen Tag aussuchen müssen, denn heute waren nicht einmal die Bauleiter da, heute war Samstag. Der Tag kam ihm genau so leer und halbfertig vor wie diese unvollendete Halle. Schweißgeräte standen herum mit langen, grau eingestaubten Schläuchen, und es stank nach Karbid und Ölfarbe. Gipsstaub bedeckte das riesige Bodenrechteck mehrfarbiger Terrazzoplatten, Stuckplatten standen an den Wänden, später sollten sie an die kahle Betondecke gehängt werden, unter die langen Neonschläuche, die sich wie weiße Bandwürmer an Kabeln und dünnen Glühlampenpendeln vorbei aus zementfarbenem Deckengrau schlängelten. Er kannte Baustellen zur Genüge. Und er wusste, was aus der abstoßend wilden Ödnis der Bauphase werden würde: indirektes Licht, gedämpfte Geschäftigkeit, gläserne Abfertigungsschalter, im rückwärtigen Teil ein Restaurant, hin und her eilende Stewardessen, Lautsprecheraufrufe: Die Passagiere für Flug Nr. 236 nach … bitte zur Passkontrolle, und an der Wand ihm gegenüber, die hohe Glasfront im rechten Winkel begrenzend, sein Werk, beeindruckend, die Halle beherrschend – die Wand war leer.

Schon vor Monaten hatte Kohlmann mit ihm über den Auftrag gesprochen, vor wenigen Tagen hatte er alles verbindlich gemacht. Die ersten Entwürfe taugten nichts. Er hatte sie fortgeworfen. Die Wand blieb fremd und abweisend. Er stellte sich Linien vor, Konturen, Farbsymphonien, strahlende Mosaikbahnen, matt schimmernde Keramikzüge. Parabeln etwa, auf denen pfeilförmige Flugkörper eine Erdlandschaft verließen, vorstießen in den unendlichen Raum, zurückkehrten auf einen anderen irdischen Kontinent, Möglichkeiten menschlicher Leistungsfähigkeit ebenso symbolisierend wie freundschaftliche Verbindung der Völker, die höhere Leistung wiederum erst möglich machte. Aber alles schien ihm wenig originell, zu alt, zu abgegriffen.

Er wandte sich ab. Diese leere Wand regte ihn auf. Er hatte noch wochenlang Zeit, sich mit ihr zu beschäftigen. Ihm würde schon etwas einfallen. Er hätte sich die Besichtigung schenken können. Und eigentlich war er auch nicht wegen der Wand gekommen, sondern wegen der Konsequenz. Die Konsequenz hieß Susanne. Alles andere schien ihm plötzlich Vorwand, und er spürte mit bedrückender Deutlichkeit, auf welchem Tiefpunkt er angelangt war, als er vor knapp zehn Minuten die leere Halle betreten hatte und Susanne in die Maschine steigen sah, endgültig und unwiderruflich. In jenem Augenblick hätte er noch die Möglichkeit gehabt umzukehren, über die kalkbespritzte Bautreppe zum Hinterausgang zu gehen, hinauszutreten in das flirrende Julilicht, sich am Taxistand einen Wagen zu besorgen und nach Hause zu fahren, quer durch die Stadt bis nach Soellnhof. Etwa so:

 

Kilometerweit gleitet der Wagen durch die Straßen, die er kennt. Immer wieder über Brücken. Er liebt es, über Brücken zu fahren, unter denen das Spinnennetz unzähliger Gleise zu einem rostbraunen Bündel zusammengepresst wird, unter Brückenbogen hindurch, die vor Anstrengung zittern, wenn graugrüne Züge über sie hinwegbrausen, über Brücken, unter denen der Fluss sichtbar wird, kanalisiert, in Stein gefasst, ohne Baum und Strauch, von Piers und Ladebrücken in Stücke geschnitten, fließende Stücke, grau, Öl schillernd. Dann fährt er ein kurzes Stück die Magistrale entlang, da sieht er nicht mehr hin, das kennt er: Gleich hinter dem aluminiumverkleideten Flachbau des neuen Einkaufszentrums das sechsstöckige Haus der Elektronik mit dem zwei Meter breiten Farbband über dem Eingangsportal, ein Mensch, im Raum schwebend, umgreift die Sonne, Sinnbild des Lebens, der Wärme, der Kraft und des Lichtes, nimmt die Energie in Besitz, die Hände vieler Menschen strecken sich ihm entgegen – Prometheus-Motiv – und tragen das gebändigte Feuer in Häuser und Städte; Hollwegs erster Staatspreis. Weiter durch die Innenstadt, ameisenhaftes Gewimmel, Autohupen, das Pfeifen der Verkehrspolizisten, dann das neue ockerfarbene Gebäude der Landwirtschaftsbank, ihr breites Portal mit den gewaltigen bunten Bleiglasfenstern, die stilisierte Frontansicht eines Traktors, umgeben von einem weit aufgefächerten Ährenkranz: Unser Brot auf neue Weise, alles in Gold und Rot: ausgezeichnet mit dem Städtischen Kulturpreis. Dann gleitet der Wagen in den Kreisverkehr. Breitgedrückte Kindernasen an Straßenbahnfenstern, schließlich die Umleitung am zentralen Bauplatz. Hinter eingrenzenden Bretterzäunen voller Reklame kreischende Kräne, überdimensionale gekachelte Streichholzschachteln, leere Bienenwaben, Höhlen, Stahlskelette, blau sprühende Funken in vierzig Meter Höhe, darüber und darunter Weißbehelmte, die zu turnen scheinen. Hinter der Umleitung das Filmtheater des Friedens, Neubau in weiß leuchtendem Beton, die Straßenfassade einer vom Wind leicht gewellten Fahne nachgestaltet, fünfzehn mal acht Meter, in der Mitte von einem dreisäuligen Eingang durchbrochen, in der linken oberen Ecke das blaugoldene Symbol: die Taube, weiter nichts, einfach nur die Taube, ein bekanntes Symbol, aussagekräftig, allen verständlich, in schneeigem Beton. An mehreren Punkten der Stadt würde Gisbert Hollweg seine Werke entdecken, seine nicht allein, aber auch seine. Endlich die Ausfallstraße, die in die Vororte führt. Der Wagen fährt an Laubenkolonien vorbei: Wochenendhäuschen, rosa gestrichene Holzschuppen, Heckenrosen, hellgrüne Klaräpfel, Karnickelställe hinter Erbsenlianen und Gladiolenblüten. Dann folgt ein Graben, Paradieswürmer suchender Angler, dahinter die Rieselfelder, flach, glatt, von schmalen Deichen durchzogen, stinkend, an der rechten Seite lange Wacholderstreifen, die schließlich enden und den Blick auf den Fluss freigeben. Breit und ungehemmt fließt er jetzt, die Ufer sind schilfbewachsen. Ab und zu erkennt man ein Stück Strand: grauer Sand und braune Kiesel, fleischfarbene Menschenmassen, Gekreisch, Kinderlachen und Kofferradiogedröhn, all das eingegrenzt von einem schmalen Gürtel zerknautschter Zigarettenschachteln, aufgeweichter Eisbecher, weggeworfener Flaschen und leerer Konservendosen, Urlaubsfossilien zur bleibenden Erinnerung. Dann verschwindet der Fluss hinter dem Wald: grünes Gewölbe, Vogelgezwitscher, oft begangene Wege zwischen eng stehenden Stämmen, Schlängelpfade. Der Wald versickert in Gesträuch, das Gesträuch in wild wuchernden Grasnarben, Gras und Franzosenkraut in gepflegten Rasenflächen, nass und geschoren. Parken verboten. Der Wagen gleitet in die vierte Abzweigung links, rollt über den grauen Betonstreifen, an dem gelben Zeitungskiosk und den weinflaschengefüllten Konsumschaufenstern vorbei. Dann kommen Eisenzäune ins Bild, matt glänzend, sauber beschnittene oder wild wachsende Hecken, hin und wieder gestutzte Ziersträucher, bisweilen säuberlich über den Rasen verteilte Blumenrabatten, kleine Villen in mehr oder minder großen Gärten. Vor einer davon hält der Wagen an. Er steigt aus, will den Taxifahrer bezahlen und findet wie üblich kein Kleingeld. Endlich ist auch das erledigt. An der Gartenpforte wartet er einen Augenblick, sieht zu, wie der Wagen wendet und zwischen Taxushecken und Fliederbüschen verschwindet. Dann geht er durch den Garten auf das Haus zu, sieht die geschlossene Jalousie vor Veras Arbeitszimmer, durch das wandbreite Fenster die leere Staffelei in seinem Atelier. Ein Gemisch aus Furcht und Hoffnung befällt ihn, als er die Haustür öffnet. Er schließt sie gar nicht wieder. Er geht leise durch alle Räume und – findet niemanden.

 

Gewiss war es auch die Furcht vor dieser Kühle des Soellnhofer Hauses, die ihn festgehalten hatte, hier, auf dem Flugplatz, an diesem Morgen, an dem Susanne abflog. Denn er wusste, dass sein Haus leer sein würde, wenn er umkehrte, und er wollte Schluss machen mit dieser Leere – so oder so, und dazu gehörte Susanne. Ja, er hätte noch hinuntergehen können, als sie in der Menge der anderen auf die Gangway zuschritt, er hätte sie aufhalten und sagen können: „Prinzessin, lass mich nicht allein, wenigstens jetzt nicht.“ Vielleicht hätte alles wieder von vorn angefangen, um irgendwann wahrscheinlich in einem viel kürzeren Zeitraum, wieder am gleichen Punkt zu enden. Nein, es musste einen Schlusspunkt geben, das Gefühl unabänderlicher Endgültigkeit: Tabula rasa in mattem Himmelblau, in das sich die Maschine jetzt in einer weiten Schleife hinaufschraubte, höher, immer höher. Sie sitzt hinter den Bulleyes und sieht mich nicht, dachte er, denn unter sich sieht man nur schwindende Erde in solchen Momenten, da starrt man erlöst hinaus in das leuchtende Blau, in die lichtdurchwirkte Höhe, die verführerische. Dies wusste er aus Erfahrung, einer sehr frühen, fernen, fast vergessenen Erfahrung, der er sich merkwürdigerweise ausgerechnet jetzt bewusst wurde, an diesem heißen Sommermorgen, an dem die Prinzessin ihn verließ, an dem er in der unfertigen Halle vor der hohen Glasfront stand, hinter sich die leere Wand, die auf ihn wartete. Tabula rasa – da war nur das dröhnende Licht.

2. Kapitel

Es war ein schmerzhaft helles, blendendes Licht in einem unbeschreiblichen Lärm und einem wilden Trudeln, das ihm den Atem nahm. Er sah noch, dass die rechte Tragfläche, in wild gezackten Fetzen einem Vogelflügel gleich, auf und nieder wedelte, in einem wehenden, brausenden Feuerkleid, dann drückte er instinktiv auf den Auslöser der Bodenwanne und stürzte schreiend in die unauslotbare Tiefe. Endlos lange Sekunden währte der Sturz. In Hollwegs Kopf drängte sich hämmerndes Blut. Hlinter den geschlossenen Lidern gingen Kaskaden von Bildern nieder, schwach bläulich getönt, Erinnerungen im Sturzflug der Angst. Er hatte unter der Dusche gestanden, vor einer knappen Stunde, und sich Ritas Parfüm von der Haut gewaschen, während Hauptmann Butenschön und Leutnant Lederlein schon im Kasino saßen, jeder vor einer angebrochenen Schachtel Schoka-Kola und dem steifen nachtschwarzen Mokka. „Man muss immer einsatzbereit sein“, pflegte Lederlein zu sagen. „Komm“, hatte Rita geflüstert, gestern Abend vor der Offiziersunterkunft, „komm, mach’s doch nicht so spannend. Noch kannst du’s, wer weiß, wie’s später wird, alle Jagdflieger werden impotent.“ Sie hatte seine Hände auf ihre Brust gelegt, und er hatte sie mitgenommen und auf sein Bett gezogen wie mehrmals in diesen Wochen, und am Morgen stand er unter der Dusche und wusch sich ihren Veilchenduft vom Hals.

Als er mit Butenschön auf den Flugplatz gekommen war, hatte Rita ihn fasziniert. Noch nie, schien ihm, hatte er ein so schönes und dennoch sprödes Mädchen gesehen, vollkommen selbst in der blaugrauen Uniform, die sie wie eine Abendrobe trug. Ihr nussbraunes Haar glänzte schwach, und sie hatte den „Gang einer Gazelle“, wie Butenschön das ausdrückte. Von Anfang an spürte Hollweg, wie sehr ihm diese Rita gefiel, wie stark auch sie sich zu ihm hingezogen fühlte inmitten der alten grauen Männer, die den Platz und die Unterkünfte bevölkerten. Es gefiel ihm, dass sie im Chaos des Untergangs jede Gelegenheit wahrnahm, in seiner Nähe zu sein. Später war sie von katzenhafter Anschmiegsamkeit, und sie war das erste Mädchen, das er malte. Er legte all seinen Eifer in dieses Bild, aber er merkte, dass es ihm nicht gelang. Trotzdem erfuhr er immer von Neuem die Lust, die sie sich bereiteten, und spürte das Verlangen, sie zu erhalten. Aber die Lust wurde schal.

Als er an jenem Morgen ins Kasino kam, kaute Lederlein an einem letzten Stück Schokolade, und Butenschön, der ihn voll verhaltener Traurigkeit musterte, rauchte eine seiner langen Damenzigaretten mit Goldmundstück. In diesem Augenblick heulte die Alarmsirene, und Hollweg wusste, dass sie dran waren. „Zack, zack“, schrie Lederlein, und sie stülpten ihre Kappen über die Köpfe und rannten hinaus. Über den Waldflugplatz krochen die ersten Strahlen einer kühlen Aprilsonne, verfingen sich in den grünbraunen Tarnnetzen, mit denen die Jagdmaschinen zugedeckt waren, und spiegelten sich in den Kanzelscheiben der letzten He 111, für die der wenige Sprit gerade noch reichte, die ein paar Monteure eilig überprüften und auf die sie nun zuliefen, während das Bodenpersonal drei kleine Bomben einklinkte. Sie waren die einzigen, die noch starten konnten, sie würden allein fliegen müssen, ohne Rückendeckung, und eigentlich wusste niemand mehr, warum und wozu. Butenschön sagte, ehe sie in die Maschine kletterten: „Bevor wir überhaupt oben sind, holen sie uns runter.“ Der lauernde Blick von Lederlein ließ ihn verstummen.

Hollweg stieg mit gemischten Gefühlen in seine Bodenwanne. Er mochte Hauptmann Butenschön, dem er als Fähnrich zugeteilt worden und mit dem er trotzdem noch nie geflogen war, weil es in letzter Zeit wegen des chronischen Benzinmangels gar keine Feindeinsätze mehr gab. Butenschön hatte ihn auf der Fliegerschule ausgebildet, ohne Hast, ohne Beschimpfungen, fast ohne militärischen Drill, an Trainingsgeräten, an Rotoren und Simulatoren und auf den stummen, liebenswerten Seglern, hoch über einem scheinbar friedlichen Land. Und nun stieg er in die graugrüne Maschine, voller Sehnsucht nach dem echten Höhenflug, der Sonne entgegen, ohne an die Bomben zu denken, nur an den Flug, von dem Butenschön meinte, sie würden ihn gar nicht zu Ende führen. Hollweg mochte Butenschön, denn oft hatte der Hauptmann Hollwegs zarte Malerei bewundert, leuchtende Tulpen, Landschaften voll weichen Lichts, schmeichelnde Weiden um einen hellblauen Waldsee, eine wunderschöne, heile und liebenswerte Wunschwelt inmitten eines feurigen Infernos. „Das ist das einzig Wahre“, hatte Butenschön gesagt, der auf dem leicht verstimmten Klavier im Bierdunst-Kasino Verdi-Melodien spielte, manchmal, in langen Abendstunden, die sehnsuchtsvollen Arien aus Rigoletto und, seltener, die aufmöbelnden Rhythmen des Triumphmarsches, derselbe Butenschön, der an diesem Morgen in die Maschine stieg mit einem wehmütigen Blick auf die stille Landschaft, ein letztes Stück „Großdeutsches Reich“ im fast schon besetzten Deutschland, von wo aus sie zum Feindeinsatz starteten, mitten in der Heimat, Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein.

Hollweg war aufgeregt, als die Maschine vom Boden abhob und dröhnend in die Höhe kletterte. Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Alles, was vorher war, verblasste, und er versuchte auch nicht, sich daran zu erinnern. Über Notabitur und Grundausbildung war er auf den stillen, weil benzinlosen Flugplatz gelangt. Manchmal erhielt er noch Karten oder kurze Briefe von der Mutter, die mit seinem ruhigen, energielosen Vater niemals zufrieden gewesen war, einem blassen, schmalbrüstigen Gemüsehändler mit einer seltsamen Leidenschaft für alte und besonders originelle Uhren. Sein ganzes kleines Kontor tickte, surrte und summte, und manchmal stand der junge Hollweg scheu vor dieser rastlos tickenden Ewigkeit, an der Hand seines uhrenstolzen Vaters, den er dann oft jene unbegreifbaren Worte sprechen hörte: „Schau dir das an, mein Sohn, merk es dir: Die Zeit läuft und lässt sich nicht aufhalten, und wer sie nicht zu messen versteht, wird sie auch nicht begreifen.“

Der kleine Mann mit seinen Uhren aber war ihm fremd geblieben wie die leidenschaftliche Mutter, deren hohen Wuchs er geerbt hatte und die sich eines Tages von seinem Vater scheiden ließ und mit einem u. k. gestellten Verwaltungsbeamten im Generalgouvernement verschwand.

Hollweg hatte das alles weit hinter sich gelassen. Er saß auf dem Waldflugplatz und wartete. Wenn er Lust hatte, setzte er sich an seinen Skizzenblock und malte und dachte nicht an die lieblose Zeit, die er nach dem Tod seines Vaters im Gymnasialinternat verbracht hatte. Er war jetzt Flieger wie die andern hier. Er trank, wenn die andern tranken, hörte Nachrichten, glaubte nicht recht daran, aber was nützte es. Er liebte seine Bilder und Butenschöns Musik und sehnte sich nach dem Aufstieg über die Wolken. Er sah gut aus, und einige Nachrichtenhelferinnen liefen ihm nach, und bisweilen fand er Gefallen an ihnen. Aber mehr war da nicht. Die Sehnsucht nach dem Höhenflug konnten diese irdischen Vergnügungen nicht vertreiben. Selten empfand Hollweg das Bedürfnis, die Augenblicke festzuhalten, kaum den Wunsch, die Nachtgefährtin zu malen. Nur bei Rita machte er eine Ausnahme. Rita war so schön wie seine Traumbilder von Blüten und Blättern und unberührter Natur. Erst als er nach vielen reizvollen Nächten zu spüren glaubte, dass ihre Schönheit nur noch verführerisches Dekor und ihre anfangs so spröde Liebe nur wilde Betäubungssucht geworden war, ließ er endgültig von dem Versuch ab, das Bild von ihr zu Ende zu bringen.

Die schönen Künste blieben schließlich ausgeklammert aus diesem Dasein volltönender Rundfunk-Phrasen angesichts donnernd näherrückender Fronten und des Zerfalls aller Normen und Begriffe, angesichts der zwecklosen, rostenden Maschinen auf dem Flugplatz und der lodernden Angst, wenn die fremden Bomberpulks den versteckten Ort überflogen. Ohne ihn zu entdecken, Gott sei Dank. Hin und wieder unterbrach Butenschön das zermürbende Alarm-Dasein mit Unterhaltungen über „den hohen Sinn der Kunst, dem Menschen eine neue, unzerstörte, erstrebenswerte Welt zu zeigen“. „Stehen Sie bequem, Fähnrich. Oder setzen Sie sich, ja, setzen Sie sich doch. Hören Sie sich das an, Grabgesang aus Aida, eine Philosophie aus Musik! Was halten Sie übrigens von Böcklin? Wunderbare, eindrucksvolle Linienführung, nicht wahr …“ Dann klang Butenschöns Stimme anders als an diesem kühlen Aprilmorgen, weicher, nicht so verzerrt wie durch die Bordfunkanlage. „Alles in Ordnung, Fähnrich?“ – „Jawohl, Herr Hauptmann!“

Die Maschine stieg, Meter für Meter zog sie hinauf in den klaren, blassblauen Himmel, in diese lichtvolle Höhe, und Hollweg lachte. So heil und bunt gefiel ihm die Welt, so voller Friedfertigkeit und waldgrüner Wünsche. Selbst das winzig kleine Wölkchen dort unten sah spaßig aus – und spie doch den Tod aus, unerwartet und mit lärmender Gewalt. Zuerst war da noch Butenschöns Schreien in den Kopfhörern, dann nur noch das dröhnende Licht und der wilde Sturz in die Tiefe, jäh und schmerzhaft über Oberschenkeln und Brustbein gestoppt durch den plötzlichen Druck des Fallschirmgurtes in dem Augenblick, als das gelbliche Seidentuch sich über ihm öffnete, während die brennende Maschine heulend in den fernen Wald stürzte, dem auch er entgegenschwebte, sanft, voller Angst aber und aller Höhenflugwünsche ledig: Da unten wartete das Nichts, das Ende, das keiner Erinnerungen mehr bedurfte. In seinen Ohren tickte und zirpte das Blut, wie einst die Uhren in dem fast vergessenen Kontor seines Vaters, und plötzlich kam er sich viel zu jung vor für den stillen schwebenden Tod.

3. Kapitel

Schon seit vierzehn Tagen eroberte Hollweg Kaiser Richards Garten. Es war eine langsame, fast lautlose Eroberung. Sie erfolgte von einem Rohrsessel aus, der neben der dunkelgebeizten Hoftür an der kalkgetünchten Hauswand stand, zwei Meter unter dem weit hinabgezogenen dicken Rohrdach. Zwar versuchte Hollweg, mit zusammengebissenen Zähnen, sich die Blütenpracht des Grundstücks auch Stück für Stück zu Fuß zu erschließen, meist aber trieb ihn der Schmerz im rechten Bein wieder zurück auf den knarrenden Rohrsessel, zu Farbstiften und Zeichenblock. Auf holzigem Papier blühten Kirschbäume und Primeln, die letzten Krokusse und die ersten Maiglöckchen in solcher Pracht, dass Kaiser Richard vor drei Tagen skeptisch brummelnd zu Hollweg gesagt hatte: „Nee, das ist mir zu schön.“

Dies allerdings fand Hollweg nicht, wenn er auch unklar immer wieder den Drang spürte, die niederstürzende Butenschönsche Maschine zu malen, ein Ende im Feuer, Untergang und Abschluss, etwas Unverwechselbares. Im Augenblick jedoch verscheuchte er diese unbekannte Empfindung. Er freute sich, dass er hier sitzen und ungestört zeichnen konnte, endlich in der wärmenden, belebenden Sonne und nicht mehr in dem säuerlich riechenden Keller oder auf dem Dachboden unter dem knisternden Rohrdach. Er freute sich über diese neue, ungewohnte Freiheit, trotz der bisweilen auftauchenden Angst vor den Fremden in den erdfarbenen Uniformen, die am Dorfrand biwakierten und lärmten, deren Panjewagengespanne mit Peitschenknallen und Geschrei den staubigen Landweg vor dem Haus entlangpreschten und deren Panzer und LKW auf der fernen Chaussee vorbeidröhnten. Aber Kaiser Richard, der sich gut mit diesen Soldaten verstand, hatte Hollweg inzwischen mehrmals versichert: „Dir passiert nichts. Sieh zu, dass dein Bein wieder in Ordnung kommt.“

Hollweg eroberte Kaiser Richards Anwesen, teils mit noch immer schmerzendem Fußgelenk, teils mit schmerzlos heiterem Farbstift. Im Großen und Ganzen fühlte er sich wohl in seinem Rohrstuhl, und es machte ihm Spaß, Blüten und Blumen abzumalen und das Mädchen zu beobachten, das die langen schwarzerdigen Gartenbeete unter den halbstämmigen Obstbäumen mit einer knallroten Gießkanne besprengte, überall Unkraut zupfte und Haus und Hof mit seinem Zauber erfüllte. Hollweg konnte nicht sagen, dass er diesen hochgeschossenen, langzöpfig blonden und dünnen Backfisch liebte, aber das sechzehnjährige Mädchen mit dem Allerweltsnamen Vera, den hellbraunen Augen und dem forschend-skeptischen Blick schien ihm in dem Eifer, mit dem es Garten und Haushalt betreute, das lebendige Symbol einer intakten, wieder in Ordnung gebrachten Welt, eines friedlich-freundlichen Lebens, das er schon nicht mehr erwartet hatte, als er vor vier Wochen dem schwarzen Wald entgegenstürzte.

 

Er wusste nicht, wie es geschehen war. Er fiel zwischen die Bäume, schlug gegen dicke Äste. Zweige zerkratzten sein Gesicht. Auf dem Boden war kein Raum zum Ausschwingen, kein Platz für die viel trainierte Rolle. Der Höhenflug endete mit einem wirbelnden Schmerz, der, vom rechten Fuß ausgehend, Hollweg die Besinnung nahm. Als er wieder erwachte, lag er in kühler Dämmerung. Er löste die Fallschirmgurte und versuchte sich zu bewegen, wenigstens ein paar Meter weiter zu kriechen, aber der Schmerz heftete ihn hilflos an den Boden. Als er ein Geräusch hörte, griff er rasch zur Pistolentasche, aber die Waffe entglitt ihm in einem neuen Ohnmachtsanfall. Als er wieder zu sich kam, war ihr dunkler Lauf auf seinen Kopf gerichtet. Zuerst glaubte er zu träumen und fürchtete, dass die Nacht der Bewusstlosigkeit ihn wieder wie ein Krake in das Nichts zöge. Dann aber hörte er die Stimme eines Mannes, eine etwas krächzende Stimme, und er bemühte sich, das Gesicht des anderen zu erkennen. Er sah nur eine höckrige Adlernase und einen dünnen Mund, der zu grinsen schien. „Na, mein Sohn, willst du noch ein bisschen Krieg spielen?“ Hollweg konnte sich nicht bewegen vor Schmerz und Angst. „Meine Pistole“, stöhnte er, „geben Sie sofort meine Pistole her.“

„Endlich mal eine Waffe in den richtigen Händen“, sagte die Stimme über ihm. „Na los, vorwärts, willst du nicht aufstehen?“

Hollweg gelang es, sich auf die Unterarme zu stützen und dem Mann ins Gesicht zu sehen. Aus der fahlen Dämmerung sahen ihn zwei gutmütige Augen an. Das kurz geschorene, gelblich weiße Haar über dem faltenreichen Gesicht seines Gegenübers erinnerte an irgendetwas, aber er brachte es nicht mehr zusammen. „Wer sind Sie?“, flüsterte er, und die Stimme über ihm krächzte: „Ich bin Kaiser Richard, du kannst auch Majestät zu mir sagen. Ich habe Begnadigungsrecht und erlaube dir deshalb, am Leben zu bleiben, obwohl du ganz offensichtlich unsere alte Kreisstadt in Klump schmeißen wolltest.“

Der Schmerz schüttelte Hollwegs Körper, und er ließ sich wieder ins feuchte Moos fallen und spürte den Modergeruch des Waldbodens. Die Stimme des anderen hörte er nur wie durch ein dickes Wattepolster.

„Sie transit gloria Ikari – na, nun liegst du unten. Und noch dazu vor Kaiser Richards Füßen, was in jedem Falle besser ist, als wenn ein SS-Kommando … Kannst du wenigstens laufen?“

Hollweg spürte den festen Griff des kleinen Mannes, er versuchte sich aufzurichten. „Mein Bein“, stöhnte er, „mein Bein.“ Aber der andere verlor kein Wort mehr. Er stützte ihn und stakte mit ihm dem mondhellen Waldrand entgegen. Hollweg wusste nicht, wie sie in das Haus gekommen waren. Auch später, als er wohlige Bettwärme spürte, gelang es ihm nur, Bild- und Tonfetzen aufzunehmen, Bruchstücke, Unbekanntes, das nur langsam deutlichere Formen annahm: Zuerst war da eine niedrige, mit Bildern und Büchern überladene Diele, eine schmale Holztreppe im Hintergrund, schwarze Papierrollos vor den Fenstern, Klavierakkorde, die abbrachen, als die dicke Bohlentür ins Schloss fiel, dann ein Huschen von nackten Füßen, schließlich das Klappern von Holzsandalen, ein Mädchen, das die Treppe herunterkam. Dann fühlte er das weiche Bett; endlich erkannte er ein längliches Gesicht mit baumelnden strohblonden Zöpfen, roch dampfenden Tee, den das Mädchen neben das Bett stellte. Ein weißbärtiger Mann beugte sich über Hollweg, ein Mann, zu dem der Hausbesitzer „Jakob, du alter Hase“ sagte und den das Mädchen „Herr Sanitätsrat“ nannte. Der Weißbärtige meinte: „Na, denn wollen wir mal sehen“, und seine Hände strichen vorsichtig über Hollwegs Beine, bis sie plötzlich fester zufassten.

Später, als er für einen kurzen Augenblick wieder aus wohltuender Ohnmacht erwachte, hörte Hollweg, wie beschlossen wurde, ihn vor SS-Streifen zu verstecken. Das Mädchen sagte zu den beiden Alten: „Ich kann ihn versorgen, ihr braucht euch nicht darum zu kümmern.“ Er fiel zurück in wehrlose Geborgenheit.

Am nächsten Tag erkannte er seine Umgebung. Er lag in einem großen Eichenholzbett unter einem ziemlich niedrigen Balkenplafond. Bücherregale, alte Seekarten, Kupferstiche, schwarz gerahmte Aquarelle, alte, bunt leuchtende Theaterplakate aus den Zwanzigerjahren füllten die Wände. Ein Klavier war da und ein riesiger Kleiderschrank, und vor dem Kleiderschrank stand Kaiser Richard. Er rieb sich mit dem rechten Zeigefinger die Nase und betrachtete prüfend Hosen und Jacken. „Wohl bekomm’s“, sagte er, ohne sich umzusehen, „wenn wir aus den grauen Hosen den Saum rauslassen, siehst du damit aus wie Fürst Igor in Karlsbad …“ „Wo ist meine Uniform?“, sagte Hollweg, der plötzlich feststellte, dass er nur seine schwarze Satinturnhose anhatte und sein rechtes Bein mit einem Streckverband versehen war. „Aufgefahren gen Himmel“, sagte sein Gastgeber, drehte sich um und musterte ihn, „die Asche hab ich auf das Mistbeet gestreut.“

„Sie müssen mich der Ortskommandantur melden“, sagte Hollweg.

„Die Ortskommandantur hat sich verflüchtigt“, erklärte der Hausherr grinsend und holte eine große Flasche Rum aus einem Bücherregalwinkel und zwei langstielige grünschimmernde Kristallgläser aus den unergründlichen Tiefen des Kleiderschrankes.

„Es ist Ihre Pflicht, mich zu melden“, sagte Hollweg hilflos. „Halt den Mund“, brummte der Alte, rieb sich wieder die Nase, goss Rum in die Gläser und sagte: „Was meine Pflicht ist, hab ich bis jetzt immer alleine bestimmt.“

„Sie machen sich strafbar“, sagte Hollweg machtlos.

„Was denkst du, mein Sohn, wie oft ich mich schon strafbar gemacht habe.“

„Die SS wird Sie an die Wand stellen“, sagte Hollweg verzweifelt. Ihm fiel nichts mehr ein.

Der Alte grinste. „Uns, mein Lieber, uns. Dich auch. Aber weißt du, ich hab mir was ausgedacht: Vera hilft dir in den Keller und packt dich zwischen die Gurkenfässer. Stinkt zwar ein bisschen, hilft aber. Na, trink mal erst einen.“ „Wo steht die Front?“, sagte Hollweg, bevor er nach dem Glas griff. Er spürte, wie hohl das klang. In diesem Augenblick wusste er, dass alles Bisherige zu Ende war. Er war bar aller Überzeugung, los und ledig aller Bindungen. Er war aus den Wolken in das Nichts gefallen.

„Die Front?“, sagte der Alte, und seine gutmütigen Augen glitzerten, „wo die Front steht? Na, steht würde ich dazu nicht sagen – läuft ist das richtige Wort, läuft auseinander in etwa acht Kilometer Entfernung.“

„Wenn die Iwans kommen“, sagte Hollweg, „legen sie mich um.“

„Och“, sagte Kaiser Richard und nippte an seinem Rum, „das glaub ich nicht. So’n Grünschnabel legen sie nicht um.“

„Sie scheinen ja ausgezeichnete Beziehungen zu den Russen zu haben!“

Der Alte blinzelte durch das Rumglas, rieb sich die Schenkel und sagte: „Na, ich muss nun weg.“ Und dann ließ er Hollweg allein in dem großen Bett und in diesem Raum, in dem Bücherborde und Bilder die Wände zu ersetzen schienen. Ab und zu hörte Hollweg ihn in der Diele mit dem Mädchen sprechen oder im Keller und auf dem Boden hantieren, aber Leben und Wirken dieses Menschen erschlossen sich nur bruchstückweise. Aus den Namenseintragungen in den Büchern erfuhr Hollweg, dass sein Gastgeber Richard Kayser hieß. Einmal, als der Mann wieder brummelnd zwischen einem Stoß alter Zeitungen kramte, fragte Hollweg ihn: „Warum heißen Sie Kaiser Richard, sind Sie Monarchist oder so etwas?“

„Nein“, sagte der Alte und lachte, „damit hat das nichts zu tun, ich bin bloß so eigensinnig wie ein Monarch.“ Und mit dieser Auskunft ließ er Hollweg wieder allein.

Das Mädchen Vera versorgte ihn mit Tee, Essen, Büchern, Zeichenbogen und einer Schachtel Buntstifte. Sie half ihm bei den ersten schmerzhaften Gehversuchen. Sie war eine stille Selbstverständlichkeit. Sie gehörte zu diesem kunstüberladenen Fischerhaus, zu dem schwarzen Klavier und dem süßlichen Tabakduft aus Kaiser Richards Pfeife. Hollweg konnte sich dies Haus ohne das Mädchen nicht vorstellen.

„Bist du seine Tochter?“, fragte er.

„Nein“, sagte das Mächen leise.

Hollweg spürte die Schranke, die da niederging, und schwieg. Später fragte er sie nach Kaiser Richard. „Was ist das für ein Mensch?“, sagte er.

„Ein guter“, sagte das Mädchen, „ein sehr guter, glaube ich.“

„Ich meine, was macht er, was ist er?“

„Ich weiß nicht“, sagte das Mädchen, „meist fährt er viel mit dem Rad umher, überall auf die Dörfer in der Nähe, und manchmal kommen auch Leute aus der Stadt zu ihm, und sie gehen zusammen in den Garten und reden miteinander. Sonst liest er viel und schreibt.“

Hollweg wusste nichts damit anzufangen. Hollweg sagte: „Ich bin Flieger.“

„Ja“, sagte das Mädchen, „ich weiß.“ Dann zog eine tiefe Röte über ihr Gesicht, und sie sah ihn nicht an, als sie sagte: „Flieger kann ich nicht leiden.“

Hollweg spürte eine schnell aufsteigende Hitze, dünne Schweißtropfen über den Augenbrauen. Er wandte sich ab und sah aus dem Fenster. „Warum denn nicht?“, fragte er, aber das Mädchen war schon hinausgegangen.

„Los, los“, schrie Kaiser Richard, als er am nächsten Morgen mit dem Mädchen in das Zimmer stürmte, „runter in den Keller mit dir. Die Kettenhunde … Wird mulmig jetzt.“

Im ersten Augenblick kam Hollweg sich hilflos und feige vor; Erinnerungen brachen über ihn herein, Schwüre, Jungvolkgelöbnisse: Die Treue ist das Mark der Ehre, romantische Gymnasiastenweisheiten und HJ-Sprüche: Unsere Fahne ist mehr als der Tod, Wehrmachtsparolen: Bis zum letzten Blutstropfen, Hoffnungen: Was konnten sie ihm anhaben? Er war verwundet gewesen und ohnmächtig, er hatte sich nur auskurieren wollen, der Mann hier hatte ihm dabei geholfen, was war denn dabei – und er sagte, als Kaiser Richard und das Mädchen ihn die Kellertreppe hinunterschleppten und er die Arme über die breiten Schultern des Alten und die schmalen des Mädchens gelegt hatte, während der Schmerz bei jedem vorsichtigen Auftreten sein rechtes Bein durchzuckte: „Ich bin kein Deserteur, ich habe es nicht nötig, mich zu verstecken …“

Aber Kaiser Richard reagierte nicht. Sie legten ihn auf ein Feldbett hinter einen Stapel halb voller oder leerer Gurken-, Salzherings- und Sauerkrautfässer. Netze mit Zwiebeln und erdigen Selleriewurzeln baumelten von der Decke, und er erkannte, mit welcher Sorgfalt sie dies Versteck vorbereitet hatten. Er sah die Sorge in ihren Augen, und er sagte: „Warum machen Sie das alles?“

„Damit mal ein anständiger Mensch aus dir wird“, sagte Kaiser Richard und stieg die knarrende, steile Holztreppe nach oben.

Wenig später hörte Hollweg die Feldgendarmen durch das Haus stampfen, während das Mädchen im Keller Äpfel aus einem Holzregal in einen Spankorb packte. Die blank gewichsten Stiefel und die langen Beine eines Soldaten waren auf der Kellertreppe zu sehen, dahinter Kaiser Richards schwarze Manchesterhosen über Holzpantoffeln. „Ist wohl Ihre Tochter“, sagte eine Stimme, und Kaiser Richard antwortete: „Vera, gib dem Herrn Feldwebel mal einen von den Boskop. Vitamine sind alles in solchen Entscheidungsschlachten.“

„Ist doch nicht nötig“, sagte die junge Stimme und dann, „sonst ist keiner hier, was?“

„Keine Menschenseele“, erklärte Kaiser Richard, und der andere sagte, während unter den Stiefeln die Treppe knarrte: „Nichts für ungut. Wir tun auch nur unsere Pflicht!“ „Alles klar“, sagte Kaiser Richard, und Hollweg hörte, wie oben die Haustür aufgerissen wurde und jemand schrie: „Na los, beeilt euch, oder wollt ihr dem Iwan noch guten Tag sagen?“

Dann knatterten Motorräder davon, und eine seltsame Stille senkte sich über alles. Vera räumte ein leeres Fass zur Seite und sah Hollweg aus einem bleichen Gesicht mit großen Augen an.

„Ich komm mir ziemlich schäbig vor“, sagte Hollweg, und er spürte die Röte, die ihm vom Hals her über das Gesicht kroch.

„Ich nicht“, sagte das Mädchen, „ich komm mir ziemlich tapfer vor.“

„Du hast mich angelogen“, sagte Hollweg, „du bist doch seine Tochter.“

„Nein“, sagte sie, „jedenfalls nicht so, wie Sie denken.“

„Ihr versteckt mich“, sagte Hollweg, „ihr zieht mit mir herum wie mit einem Säugling, ich bin euch ausgeliefert und weiß nicht mal, wer ihr seid …“

„Ich bin Vera Naujomait“, sagte das Mädchen.

„Komischer Name“, sagte Hollweg, „bist du aus Schlesien?“ „Nein“, sagte das Mädchen, „aus Ostpreußen.“

Und so erfuhr Hollweg, ehemaliger Fähnrich der Luftwaffe, zwischen Gurken- und Heringsfässern im Keller des Richard Kayser, gerettet vor den gefürchteten Greifern der letzten Stunden, die Geschichte der Vera Naujomait, eines sechzehnjährigen Mädchens mit viel zu ernsten Augen, und nun auch, warum sie die Flieger hasste: Wie ein verwundeter Lindwurm hatte sich der Treck aus Flüchtlingsgespannen und Wehrmachtsfahrzeugen durch das Land geschleppt, gehasst und gefürchtet und um sich beißend, und manchmal verdunkelte sich der Himmel, fremde Flugzeuge spien Feuer aus allen Löchern. Als wieder einmal Tiefflieger den Wurm beschossen, hatte Vera, im Straßengraben liegend, die Mutter sterben sehen.

Sie war mit dem Treck weitergezogen, ziellos, sinnlos, hungrig, ein scheues Kind mit unerfüllten Wünschen. Kaiser Richard hatte sie an seinem Gartenzaun gefunden; große Augen voller Hunger. Er hatte sie einfach in sein Haus geholt und an seinen Tisch, und da war sie geblieben. So war das. Hollweg empfand Hochachtung vor dem alten Mann, der nun, während sie hier unten im Keller hockten, mit anderen Soldaten lärmend durch das Haus stapfte, und voller Angst hörten die beiden fremdsprachige Laute.

Endlich wurde es wieder still. Kaiser Richard erschien leicht angetrunken auf der Kellertreppe und schrie: „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt, der lange Weg entschuldigt Euer Säumen – raus mit euch, die neue Zeit fängt an!“

Kaiser Richards neue Zeit gab sich in einem viereckigen Stück roten Bettinletts zu erkennen, das, an einen Besenstiel genagelt, über der niedrigen Haustür hing. Neben dem Butzenscheibenfenster klebte ein Zettel mit einem großen kreisrunden Hammer-und-Sichel-Stempel. Hierauf garantierte der „Kriegskommandant“ in lateinischer und kyrillischer Schrift dem „antifaschistischen Kämpfer Richard Kayser Schutz vor Belästigungen jeglicher Art, Hilfe und Unterstützung“. Eine halb geleerte Kognakflasche und ein angeschnittener Schinken lagen auf dem runden Tisch in der Diele und ein Haufen zerschlissener Bücher, die Kaiser Richard hinter den Goethe-, Schiller-, Schleiermacher- und Shakespearebänden hervorgekramt hatte. „Wissen ist Macht“, sagte er, „und beides habt ihr nötig. Na, nun tut mal was dafür!“

Und Vera und Hollweg entdeckten Namen und Werke, die sie nie gekannt, Zeichnungen von Malern, deren Signum sie nie gesehen hatten. Kaiser Richards neue Zeit nahm Formen und Begriffe an, manchmal auch ein Gesicht: das dicke runde eines rothaarigen russischen Kapitäns, der Hollweg misstrauisch beäugte, während er sich von Kaiser Richard eine Aufstellung aller Schulen geben ließ und aller Lehrer, die noch „brauchbar“ waren; das des neuen Bürgermeisters, der wie ein Waldarbeiter aussah und mit Kaiser Richard über die Brotverteilung beriet, so, als habe der etwas mit Brot zu tun; das eines vollbärtigen breitstirnigen Mannes, der aus einem neuen Bilderrahmen auf Hollweg heruntersah, vom Aufsatz des hohen Kleiderschranks her, und von dem Kaiser Richard behauptete, es sei das wichtigste Gesicht der Welt.

„Was sind Sie eigentlich von Beruf?“, sagte Hollweg, als Kaiser Richard abends über irgendwelchen Erfassungslisten saß und dicke Rauchwolken in die Stube paffte.

„Meinst du mich? Oh, was denkst du, was ich alles war“, sagte Kaiser Richard. „Gelernt hab ich Buchhändler, zuletzt jedenfalls, und das bin ich auch gewesen bis zum Schluss, aber da warst du wohl erst ein strammer Hordenführer.“

„Ich war kein Hordenführer“, sagte Hollweg.

„Na“, sagte Kaiser Richard grinsend, „dann bist du ja sozusagen ein Opfer des Faschismus. Nicht mal Hordenführer, und so was bewahr ich auf! Und ich hab gedacht, du hättest mitgeschrien, als sie den Juden die Fenster eingeschmissen haben, meinem alten Chef auch. Leberstein hieß er, Buchhändler mit Leib und Seele, die besten Leute verkehrten bei ihm. Dichter, Schauspieler, Maler, na, was es alles so gab. Und das war eine Buchhandlung, mein Lieber, da gab es das Beste vom Besten. Malik-Verlag, Rowohlt und so weiter. Leberstein war kein Kommunist, aber auf Gladkow und Gorki ließ er nichts kommen. Noch nie gehört, was? Musst du alles nachholen. Na, jedenfalls, als sie diese und andere ausgeräumt hatten, da blieb nicht mehr viel in den Regalen. Da lag das meiste auf der Straße vor den leeren Schaufenstern und brannte in hellen Flammen, und die SA stand drum herum und johlte und amüsierte sich über den alten Leberstein, wie er um den brennenden Scheiterhaufen herumlief und jammerte. ‚Du Arsch-Jude‘, schrien sie, ,dich schmeißen wir gleich dazu, zu deinem ganzen Kulturmist!‘ Aber das brauchten sie nicht mehr, er hat sich das Leben genommen, und mich haben sie rausgefeuert, ist ja klar. Na, dann hab ich als Eintänzer gearbeitet in der Nachtbar ,Sesam‘.“

„Als Eintänzer?“, sagte Hollweg, „was soll denn das sein?“ „Na, als Tanzbetreuer für begüterte Damen ohne Begleitung, verstehst du – jeden Abend eine Flasche sauren Wein, fünf Mark Lohn und zehn dicke Brillanten-Damen, die du über die Tanzfläche schieben musst, damit sie auch was haben von ihrem Barbesuch.“

„So was haben Sie gemacht?“

„Hab ich, mein Sohn, hab ich. War übrigens gar nicht so übel. Du konntest viel erfahren, eine ganze Menge hören mit entsprechend aufgesperrten Ohren. Also hab ich unsere Leute mit besten Informationen versorgt, bis mir der Beruf verboten wurde: ,Eines deutschen Mannes unwürdig‘, na ja. Und dann bin ich wieder hierhergezogen in unser altes Familienhaus, hab gefischt, herumspioniert, Kriegsgefangene mit Brot und Nachrichten versorgt, Staatsverschwörung betrieben und darauf gewartet, dass endlich mal einer in Fähnrichsuniform aus den Wolken fällt. Und nun lass mich mit deiner dämlichen Fragerei in Ruhe. Spar dir deine Neugier für wichtigere Dinge.“

In diesem Stil pflegte Kaiser Richard mit Hollweg zu reden, wenn er überhaupt zu Hause und nicht gerade damit beschäftigt war, die neue Welt aufzubauen, denn er war zum „obersten Kulturchef des ganzen Kreises“ ernannt worden.