Impressum

Arnold Hiess

Schwesterschwund

Kommissarin Stefanie Schönberger ermittelt im Waldviertel

Kriminalroman

 

ISBN 978-3-96521-215-2 (E–Book)

ISBN 978-3-96521-217-6 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

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Prolog

Es dunkelte bereits. Eine unheimliche Stille herrschte. Ein mit einem schwarzen Pullover, einer schwarzen Hose und schwarzen Schuhen bekleideter Mann saß in einem dunkelfarbigen Geländewagen. Er hatte das Auto versteckt hinter Büschen und einigen Sträuchern geparkt. Er stierte durch die Windschutzscheibe und wartete. Er wartete auf sie. Schon bald würde sie eintreffen, schon bald würde er Besitz von ihr ergreifen. Jahrelang hatte er auf diesen einen Moment gewartet – und nun war dieser eine Augenblick – endlich – gekommen. Demnächst würde sein Spiel beginnen. Er griff nach der Whiskyflasche, die auf dem Beifahrersitz lag. Er schraubte die Flasche auf, führte sie an seine Lippen, nahm einen kräftigen Schluck, wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und schraubte die Flasche wieder zu. Er blickte auf seine Armbanduhr. Wo steckte sie? Eigentlich müsste sie doch schon hier sein … Er wurde unruhig, drehte den Kopf nach links. Und schaute sogleich in grelles Scheinwerferlicht, hörte die Fahrgeräusche eines Autos – ihres Autos. Er duckte sich in seinen Sitz. Nur keinen Fehler, dachte er. Sie parkte ein, stellte die Scheinwerfer ab und machte den Motor aus. Er war ihr bereits so nah, dass die wenigen Meter, die zwischen ihnen lagen, keinen Unterschied mehr ausmachten. Heute war der Abend, an dem er sie in seine Gewalt bringen würde. Kein Zweifel! Sie stieg aus, schloss die Tür ihres blauen Wagens und schlenderte einen Gehweg entlang. Alles lief nach Plan! Er griff wieder auf den Beifahrersitz, zog aus seinem Portemonnaie eine Kreditkarte heraus und schob darauf eine kräftige Linie Kokain. Er fischte einen Fünfer aus dem Portemonnaie, rollte ihn hastig zusammen, hielt sich ein Nasenloch zu, zog sich mit dem Fünfer das feine weiße Pulver in das andere Nasenloch, leckte die Kreditkarte ab und legte alles wieder auf den Beifahrersitz. Seine Schleimhaut kitzelte einen Moment. Es fühlte sich so an, als hätte er einen Nasenspray inhaliert. Es wurde kühl. Er spürte alsbald eine Menge Selbstvertrauen und Euphoriewellen durchfluteten seinen Körper. Er schloss die Augen – unbändige Hitze flammte in ihm auf. Zwei Herzschläge später öffnete er ein kleines, schwarzes Nylontäschchen, das ebenfalls auf dem Beifahrersitz lag, und holte eine schwarze Sturmhaube, ein großes, weißes Stofftaschentuch und ein Fläschchen Chloroform heraus. Er tränkte das Taschentuch mit ein paar Milliliter des Inhalts, stülpte die schwarze Sturmhaube über den Kopf, holte tief Luft, stieg aus, schloss leise die Autotür, und folgte ihr. Heute Abend! Es gab kein Zurück mehr … Sie würden leiden – sein Spiel begann …

Heute ist so ein schöner, warmer Abend, dachte die junge Frau, die nichts Böses ahnte. Sie blickte zum Himmel: Die ersten glitzernden Sterne kamen zum Vorschein; irgendwo blinkte ein Flugzeug am Himmel. Sie schlenderte weiter den Gehweg entlang, während ein Lächeln ihre Lippen umspielte. Frühlingsduft stieg ihr in die Nase. Ein ganz sanfter Wind strich durch die umliegenden Bäume, Sträucher und Büsche. Keine Menschenseele befand sich in ihrer unmittelbaren Nähe, aber in der Ferne fuhren Autos die Straße entlang, deren Fahrgeräusche sie hören konnte. Neben ihr rauschte ein Fluss gleichmäßig dahin. Und sie spazierte weiter …

Das weiße Stofftaschentuch in der rechten Hand haltend, versteckte er sich gebückt in Büschen. Seine Augen folgten ihr. Er wartete geduldig darauf, bis der richtige Moment gekommen war. Niemand durfte etwas mitkriegen. Er atmete unregelmäßig. Schon bald würde er sie in seiner Gewalt haben …

 

Das Gebüsch raschelte kräftig. Die junge Frau stoppte abrupt.

„Ist da jemand?“, fragte sie, etwas angespannt. Niemand antwortete.

„Das war sicher nur eine Katze …“, hauchte sie flüsternd und ging weiter.

Doch plötzlich kroch ein Schatten über den Boden. Sie blieb stehen – doch es war bereits zu spät.

Er war von hinten auf sie zugekommen, packte sie, und presste ihr das Stofftaschentuch vor Mund und Nase. Ihre dunklen Augen weiteten sich, ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, ein Schweißfilm stand auf ihrer Stirn. Sie versuchte zu schreien, strampelte mit Armen und Beinen, sah die Lichter der Stadt, hörte das Rauschen des Flusses. Alles drehte sich. Und Sekundenbruchteile später verschwamm alles in einem Nebel aus flackernden Lichtern, die ihr so vorkamen wie entzündete Kienspäne in den Gemäuern einer mittelalterlichen Burg. Irgendwo bellte ein Hund. Und sie fiel in Ohnmacht. Dunkelheit.

 

Er sah sich um. Niemand hatte etwas bemerkt. Seine kalten Augen glänzten einen Moment lang zufrieden. Er schleppte die junge Frau nun zu seinem dunkelfarbigen Geländewagen, die junge Frau, die den Kopf nach unten geneigt hatte und sich nicht mehr bewegte. Wenig später öffnete er den Kofferraum, fesselte sie mit Kabelbindern und legte sie hinein. Er versteckte sie unter einer großen, weißen Decke und schloss den Kofferraum wieder. Er stieg in sein Auto, nahm rasch die Sturmhaube ab, die sein Haar nun zu Berge stehen ließ, atmete tief durch, zog sich eine weitere Linie Kokain in die Nase, schnupfte kurz auf und wischte sich mit dem Handrücken über die eigentlich schön geformte Sprungschanze in seinem Gesicht, mit der er zuvor das Koks inhaliert hatte. Er startete den Motor, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr los. Jetzt bloß keine Aufmerksamkeit erregen, dachte er, als er in der mittlerweile vorherrschenden Dunkelheit die Straße entlangfuhr. Sein Opfer, das reglos im Kofferraum lag, bewegte sich bei jeder noch so kleinen Bodenunebenheit hin und her. Aus der weißen Decke lugten gefesselte Hände und eine braune Haarsträhne heraus.

Kurz darauf verschwanden die roten Heckleuchten des Geländewagens in der Dunkelheit.

Und sein Spiel begann …

Kapitel 1

Es war einmal eine junge Kommissarin … NEIN! HALT! STOPP! Es war einmal?! So beginnen doch bloß Märchen – und diese Geschichte wird ganz sicher kein Kindermärchen aus der Feder der Grimms – nein! – diese Geschichte wird ein Kriminalroman aus meiner Heimat, dem Waldviertel, wo mehrere dort ansässige Städte und Orte als Schauplätze fungieren werden. Da ist mit Sicherheit kein Platz für „Es war einmal ...“ Und was ist nun mit der jungen Kommissarin? Tja …

 

„Scheiß Regen! Ich bin völlig durchnässt.“ … das ist sie. Stefanie Schönberger, eine taffe, äußerst attraktive Frau mit langen, schwarzen Haaren und sehr dunklen Augen, die vor wenigen Tagen ihren 25. Geburtstag gefeiert und soeben die Türe zu ihrer kleinen Wiener Wohnung geschlossen hat. Sie trug an diesem Tag enge, blaue Jeans, kniehohe Lederstiefel, einen braunen Ledermantel und hatte einen schwarzen Schal um ihren Hals gewickelt. Wie meistens war sie stark geschminkt. Sie streifte sich nun zuerst den nassen Mantel ab und hängte ihn dann gemeinsam mit ihrem Schal auf einen Kleiderhaken, der sich neben der Eingangstür befand. Noch bevor sie ihre nassen Haare nach vorne und wieder zurück warf, betätigte sie den Lichtschalter und ging ins Wohnzimmer. Sogleich setzte sie sich auf ihr rotes Sofa, schlug die Beine übereinander und suchte die Fernbedienung für ihren großen Flachbildfernseher. Sie lag in einer Ritze des Sofas. Als der Fernseher wenige Augenblicke darauf lief, zappte sie sich durch die Programme. ORF1, ORF2, ATV, ProSieben, Sat1. Auch heute war wieder bloß Kacke in der Glotze. Sie zog ihr Smartphone aus der Hosentasche und blickte auf das Display. Nichts! Keine Anrufe, keine neuen Nachrichten. Arschloch, dachte Stefanie. Der Typ ruft nur an, wenn er mit mir ins Bett will. Wahrscheinlich hat der sogar noch zehn andere, denn der meldet sich nur maximal einmal in der Woche und unternimmt mit mir nur etwas, weil er danach mit mir schlafen kann. Und ich Idiotin falle jedes Mal darauf herein. Oh, wo sind bloß die Männer, die einen wirklich lieben, die einer Frau noch die Tür aufhalten und Abendessen mitbringen, Zeit für einen aufbringen und auch noch gutaussehend, sportlich und spitze im Bett sind? Stefanie dachte an Oliver, ein sportlicher, attraktiver Typ, mit dem sie in den vergangenen Monaten einiges unternommen hatte, aber am Ende landeten sie sehr schnell in der Kiste. Er meldete sich auch nur hin und wieder, sodass man denken konnte, er würde noch andere Frauen am Start haben, und Stefanie fühlte sich verschaukelt.

 

Nachdem sie ihre Gedanken geordnet hatte, schaltete sie den Fernseher wieder aus, stand auf, entledigte sich ihres ledernen Schulterholsters, das sie dann auf das Sofa warf, und ging in die Küche. Sie drückte den Lichtschalter, legte ihr Smartphone auf den hölzernen Esstisch, öffnete wenig später den Kühlschrank, nahm eine Flasche Sekt heraus, danach aus einem Regal ein Champagnerglas, setzte sich an den Esstisch, entkorkte die Flasche und befüllte das Glas mit Sekt. Die Flasche krachte auf den Tisch, sie seufzte, führte das Glas an die Lippen und nahm einen großen Schluck. „Aaaaah! Den habe ich jetzt gebraucht.“

Drei Wimpernschläge später stellte sie die Flasche zurück in den Kühlschrank und ging wieder ins Wohnzimmer. Stefanie bewegte sich gedankenversunken zum Fenster, das sie sogleich kippte. Sie dachte an die Nachhausefahrt in ihrem schwarzen Audi A3, Baujahr 2012. Dachte an die Regentropfen an den Fensterscheiben, während die vielen verschiedenfarbigen Lichter der Stadt den Wagen fluteten und aus den Lautsprechern „Head Above Water“ von Avril Lavigne drang. Außerdem hatte sie noch immer den Klang des Scheibenwischers im Ohr und den grauenhaften Papierkram des heutigen Arbeitstages im Hinterkopf. Sie blickte zum Fenster hinaus. Der Regen hatte bereits nachgelassen, doch der Mond und die Sterne wurden von Wolken verdeckt. Das Stahlgitter vor den Fenstern und dem Eingang des Modegeschäfts, das sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand, war schon vor einiger Zeit heruntergerasselt. Verschiedene Lichter spiegelten sich in der regennassen Straße. Aus Wohnungen schimmerte Licht, aus den Kanaldeckeln dampfte es. Irgendwo bellte ein Hund, in der Ferne brummten und dröhnten die Autos, und man vernahm ein verhaltenes Heulen. Eine Joggerin in einer Regenjacke mit Kapuze und einer hautengen schwarzen Sporthose lief den Bürgersteig entlang; die weißen Sportschuhe klatschten in den Pfützen, die sich dort gebildet hatten. Gleich darauf fuhr ein silberner Kombi vorbei. Regenwasser spritzte bei den Reifen hoch, die Heckleuchten loderten rubinrot. Stefanies Gesichtszüge wurden ernster, sie drehte sich um, schlenderte ins Badezimmer und putzte sich die Zähne, während sie sich dabei fortdauernd im Spiegel betrachtete. Minuten darauf befreite sie sich von ihren Klamotten und sprang unter die Dusche. Nachdem sie den Wasserhahn aufgedreht hatte und das warme Wasser auf sie herabrieselte, beschlich sie ein wohlig warmes Gefühl. Sie rieb sich mit Duschgel, das nach Mandarine roch, und exquisiten Duftölen ein und wusch ihre langen, schwarzen Haare. Ihre nasse Haut glitzerte.

Als sie ihren schlanken Körper Minuten danach mit einem roten Handtuch trocken rieb, sich in einen weißen Bademantel hüllte und ihr Haar föhnte, fühlte sie sich erfrischt und erleichtert.

Sie lächelte, knipste das Licht aus und ging zu Bett. Doch da ahnte sie noch nicht, dass ein wegweisender Anruf auf sie warten würde …

Kapitel 2

Mitten in der Nacht schlug Stefanie die dunklen Augen auf – ein krachendes, klirrendes Geräusch hatte sie aus dem Schlaf geholt. Noch immer verschlafen, lupfte sie die rote Decke und kroch aus dem Bett. Ohne dabei an mögliche Gefahren zu denken, begab sie sich auf Spurensuche. Als sie im Wohnzimmer angelangt war, tanzten seltsame Schatten an der Wand. Die Vorhänge des gekippten Fensters flatterten im Wind, in der Nacht war ein Sturm aufgezogen. Nur in Unterwäsche gekleidet, begab sie sich zum Fenster, das sie augenblicklich schloss. Sie drehte sich um und bemerkte, dass das gerahmte Foto ihrer Schwester Sophie, das auf einer weißen Kommode in der Nähe des Fensters stand, zu Boden gefallen war. Glassplitter lagen auf dem Boden. Ihr Pulsschlag erhöhte sich. War jemand in ihre Wohnung eingedrungen? Hatte sich jemand unbefugt Zutritt verschafft?

Panisch stürzte sie zum Lichtschalter. Es war niemand anwesend.

Sie schlich zur Eingangstür. Abgeschlossen.

Sie suchte im Badezimmer, in der Küche und im Schlafzimmer nach Hinweisen – doch sie konnte nichts finden. „Du bist paranoid, Stefanie …“, murmelte sie, schüttelte den Kopf und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie bückte sich, legte das Bild ihrer Schwester auf die Kommode und begann, die Glassplitter einzusammeln. „Scheiße! Mist! Verdammt, Stefanie!“ Etwas Blut quoll aus ihrem Zeigefinger – sie hatte sich geschnitten. Kurz darauf schmiss sie die Scherben in den Abfalleimer und verband sich ihren Zeigefinger, als plötzlich ihr Smartphone zu klingeln begann.

„Wer zum Teufel ruft mich denn mitten in der Nacht an? Wenn das Oliver ist, werde ich ihm mal erzählen, was er für ein Arschloch ist. Der meldet sich nur, wenn er jemanden fürs Bett braucht“, knurrte sie. Und hetzte in die Küche. Stefanie hob das schwarze Smartphone vom Esstisch, und blickte auf das Display. „Mum?! Was will die denn?“ Sie wischte mit dem rechten Daumen über das Display, nahm das Gespräch an.

„Stefanie? Schatz? Bist du dran?!“ Ihre Mutter klang aufgebracht. „Ja, Mum. Beruhige dich, du klingst so nervös. Was ist denn passiert? Weshalb rufst du mich mitten in der Nacht an? Brennt unser Haus?“ – „Stefanie … Schatz … Du musst sofort … Du musst sofort …“ In der Leitung rauschte es. „Mum, was ist denn passiert? Du hast einen ziemlich schlechten Empfang.“ – „Stefanie … Deine Schwester … Du musst sofort …“ – „Was ist mit Sophie, Mum? Geht es euch gut?“ – „Stefanie … Deine Schwester … nach Hause kommen …“ – „Mum? Mum? MUM?!“

Stefanie wiederholte weiterhin dieses Wort – doch die Leitung war bereits tot.

Als sie das mitbekam, versuchte sie, ihre Mutter anzurufen – es meldete sich allerdings nur die Mobilbox. Sie probierte es unzählige Male. Vergebens. „Ach, das wird schon nicht so schlimm sein – ich probiere es morgen Mittag nochmal. Vielleicht hat sie ja dann wieder einen besseren Empfang“, säuselte Stefanie, die sich an den Esstisch gesetzt hatte, den rechten Ellenbogen auf den Oberschenkel gestützt, den Kopf in der Hand vergraben. Sie ging zum Kühlschrank und füllte Milch in ein Glas, die sie dann hastig hinunterschluckte.

Doch plötzlich klingelte ihr Telefon erneut. Sie blickte auf das Display – die Nummer war unterdrückt. Aber sie nahm das Gespräch an.

„Hallo? Wer ist da? Mum? Bist du es?!“ In Stefanies Stimme lag leichte Nervosität. Am anderen Ende keuchte jemand, doch diese Person sprach kein Wort. „Mum?! Sag doch etwas …“

Stille. Und dann hörte sie wieder dieses Keuchen … Es klang wie ein Mann …

„Mum? MUM?!“ Doch die Leitung war abermals tot …

„Sind denn heute alle verrückt geworden?“, murmelte Stefanie vor sich hin, die etwas beklommen zu sein schien, und kuschelte sich wieder in ihr Bett. Sie ließ in dieser Nacht das Schlafzimmerlicht brennen, dachte noch kurz über diese seltsamen Anrufe nach – und schon nach wenigen Minuten übermannte sie der Schlaf …

 

Deine Schwester …

Kapitel 3

Am nächsten Morgen gähnte Stefanie lautstark und streckte sich erst einmal in die Länge. Dann ging sie in die Küche und machte Kaffee – die Kaffeemaschine surrte, brummte und blubberte. Nachdem sie die schwarze Tasse mit dem Hugo-Boss-Emblem ausgetrunken hatte, stellte sie sie in die Spüle und begann sich anzuziehen: Sie knöpfte eine weiße Bluse zu, zog eine schwarze, enge Jeans an, stieg in ihre kniehohen Lederstiefel, legte das lederne Schulterholster an, in das sie ihre Pistole schob, warf eine schwarze Lederjacke über, in deren Innentäschchen sie zwei volle Magazine und ihr Smartphone steckte, beugte sich für einen kurzen Moment nach vorne und warf ihre vollen, schwarzen Haare nach hinten. Sie ging ins Bad und stellte sich vor den Spiegel. Sie zog den Lidstrich, tuschte die Wimpern und trug roten Lippenstift auf. Befeuchtete ihre Lippen, parfümierte sich mit Chanel No. 5, klappte den Toilettendeckel nach unten, verschwand aus dem Bad und einige Herzschläge später aus ihrer Wohnung, die sie abschloss. Stefanie befand sich nun im kalten, weißen Stiegenhaus und stieg die Treppe hinunter; sie summte ein Lied von Taylor Swift: Speak now.

 

„Guten Morgen, Frau Schönberger!“ Frau Meier, eine ältliche Frau, die in einer der benachbarten Wohnungen ihr Zuhause hatte und sich gerade auf den Stiegen abmühte, grüßte die junge Kommissarin wohlgesonnen, die sofort ein hinreißendes Lächeln aufsetzte. „Guten Morgen, Frau Meier!“ Im Erdgeschoss lehnte ein Fahrrad am Treppengeländer. Stefanie trat ins Freie – und ging los. Im Licht der aufgehenden Morgensonne erkannte sie die Silhouetten altehrwürdiger Gebäude. Auf der Straße fuhren Autos vorbei, dicht gefolgt von einem Motorradfahrer. Bremsen quietschten. „Hey! Kannst du nicht aufpassen?“, schrie ein Mann, der das Seitenfenster seines schwarzen Wagens heruntergelassen hatte und beinahe in einen roten Kombi gekracht wäre, der gerade ausparken wollte. „Reg dich ab! Und fahr vorbei!“, erwiderte der Fahrer des Kombis.

Stefanie hörte das Zuschlagen von Autotüren und die gedämpften Töne der Stadt.

Und beobachtete bei ihrem Fußmarsch die Umgebung: ein chinesisches Liebespärchen, das händchenhaltend an ihr vorbeischlenderte, eine voll besetzte Droschke, die jetzt die Straße entlangfuhr, ein Mann in einem scharlachroten Anzug, der an einer Mauer lehnte und gerade telefonierte, ein weiterer Mann in Bikerklamotten, der mit seinem dichten Vollbart irgendwie aussah wie ein indisches Yak und sie beinahe anrempelte, ein Gasthof, aus dessen offenen Fenstern der Wind ihr den Geruch von gebratenen Hühnchen in Tomatensauce in die Nase trieb, und ein Krankenwagen, der mit heulenden Sirenen und Blaulicht durch die Straße brauste. Sie beschleunigte ihren Schritt und marschierte weiter, vorbei an mehrstöckigen Wohngebäuden, einem Zeitungsständer, einem Kiosk und einem Trödelladen. Augenblicklich lag der Geruch von Pommes, Leberkäse und Würstchen in der Luft. Irgendwo hupte ein Auto.

„Guten Morgen, Frau Schönberger!“ Stefanie stand neben einem Imbissstand, bei dem sie oftmals Essen kaufte und hinter dem ein dicker, älterer, grauhaariger Mann stand, den sie irgendwie ins Herz geschlossen hatte. Er wischte sich gerade an seiner weißen Schürze die Hände ab. „Wollen Sie einen Hotdog, Frau Schönberger? Vor der Arbeit könnten Sie doch sicher noch einen Happen vertragen …“ Stefanie lächelte. „Ja, ich habe noch etwas Zeit. Aber machen Sie schnell.“

Kurz darauf reichte ihr der Imbissstandbesitzer den Hotdog mit Zwiebeln und sie biss genüsslich hinein. „Schmeckt´s, Frau Schönberger?“ Stefanie schluckte den Happen hinunter, drückte ihm einige Münzen in die Hand und nickte freundlich. „Mhmm … Danke! Wie immer! Behalten Sie den Rest …“ Sie biss wieder in den Hotdog und drehte sich um. Doch plötzlich erkannte sie jemanden – Oliver! Der Rest des Hotdogs fiel auf den Boden. Ihr Körper spannte sich an, ihr Unterkiefer kippte nach unten. Er trug enge, moderne Jeans, ein schwarzes Hemd und ein auberginefarbenes Jackett, dazu braune Lederschuhe, die sehr gut zu seinen kurzen, braunen Haaren passten, und überquerte gerade auf einem Zebrastreifen die Straße. An seiner Seite befand sich eine junge, gutaussehende Frau in einem schwarzen Abendkleid; die nussbraunen Haare fielen ihr auf die Schultern. Oliver lächelte die gesamte Zeit und hielt sie an der Hand. Stefanie spürte schlagartig nur Kälte, die sich wie ein Eismeer um ihre Seele legte und sich in ihrem Herzen festkrallte wie eine Hand, die in dieser Sekunde beinahe jegliches Gefühl abstumpfte. Der Glanz in ihren dunklen Augen wich in jenem Moment, in dem sich ihre schlimmsten Befürchtungen über diesen Mistkerl bewahrheiteten – Befürchtungen, die sie schon lange mit sich herumtrug. Dieses gottverdammte Arschloch, dachte Stefanie. Sie hatte doch tatsächlich etwas für ihn empfunden.

Die junge Kommissarin legte den Kopf in den Nacken, spitzte die Lippen, streckte die Brust raus und stolzierte genau in seine Richtung – als wäre nie etwas gewesen.

Oliver lächelte weiterhin, spazierte mit seiner Begleiterin den Bürgersteig entlang, sprach zu ihr, lachte, und fummelte wie ein Frischverliebter an ihren Haaren herum. Es waren dieselben Regungen, die er auch gezeigt hatte, als er sich die ersten Male mit Stefanie traf. Ausdruckslos schlenderte Frau Schönberger einige Atemzüge später an ihnen vorbei – so als hätte sie ihn nie gekannt. Im ersten Augenblick bemerkte er sie nicht einmal – doch als sie schon einige Meter von ihnen entfernt war, drehte er sich plötzlich mehrere Male um, riss sich los, entschuldigte sich bei seiner Flamme und rannte ihr hinterher. „Stef … Stef … Bleib stehen, Stef!“ Stefanie zeigte nicht die geringste Regung und ging weiter. Abrupt packte er sie an der rechten Schulter – und sie drehte sich um. „Stef … Stef …“ Oliver war außer Puste und holte Luft. „Stef, es ist nicht so, wie du denkst.“ Stefanie starrte ihn gleichgültig an. „Und wer ist dann diese Frau? Etwa deine Schwester?“

Stille. Und anschließend zeigte Oliver eine Reihe strahlend weißer Zähne. Menschen schlenderten an ihnen vorbei.

„Nein, aber sie ist nur …“ Sie erkannte in seinen blauen Augen mit den grauen Sprenkeln seine künstlich aufgesetzte Ehrlichkeit. „… sie ist nur eine bessere Bekannte. Es ist nicht so wie mit dir, Stef!“ Er ließ seinen Blick an ihr heruntergleiten, dachte, es hätte sich alles geklärt. Nahm seine Unterlippe zwischen die Zähne, grinste verwegen und sah ihr dann genau in die Augen. Er hatte dabei diesen hochmütigen Blick im Gesicht, der sie niederstrecken konnte wie ein Hinterhofschläger im viktorianischen London einen gut betuchten Edelmann.

„Wir können doch morgen Abend etwas unternehmen, Stef. Ich habe sicher für dich Zeit.“ Stefanie lachte auf; Oliver blickte verdutzt.

„Wir werden überhaupt nichts mehr unternehmen, Oliver. Und hör endlich mit diesem ‚Stef‘ auf. Es ist vorbei, denn ich bin keine von deinen Huren. Ich bin eine richtige Frau, und die weiß, wie ein richtiger Mann mit ihr umgehen muss, weiß, dass du Arschloch lügst. Ich will dich nicht mehr sehen, und du solltest verschwinden, bevor ich dich sechs Meter unter der Erde vergrabe.“ Stefanie wandte sich von ihm ab – und ging. Oliver lächelte schneidig.

„Ich hatte sowieso neben dir noch fünf andere Frauen, Stef. Ich brauchte dich nur fürs Bett. Scher dich doch zum Teufel …“, rief er ihr hinterher.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren und ihn eines Blickes zu würdigen, setzte Stefanie erhobenen Hauptes einen Fuß vor den anderen und schritt voran. Viel Flüssigkeit benetzte jedoch ihre Augen – sie hatte doch tatsächlich für diesen Mistkerl früher etwas empfunden.

Nur knapp eine Minute später stand Frau Schönberger neben ihrem schwarzen Audi A3, den sie gestern dort neben dem Bürgersteig geparkt hatte. Stefanies Finger spielten in ihrer Jackentasche mit dem Autoschlüssel. Sie sperrte die Wagentür auf, setzte sich hinein, schloss die Tür, legte den Sicherheitsgurt an, startete den Motor, blickte in die Rückspiegel und parkte aus.

Sie fuhr zum Polizeigebäude, in dem sie arbeitete.

Eine Bim, wie Straßenbahnen in Wien auch genannt werden, fuhr vorbei und stoppte an einer Haltestelle. Die Türen öffneten sich. Leute stiegen ein, Leute traten ins Freie.

Sie setzte den Blinker und hielt vor einer roten Ampel. Als die Ampel auf Grün sprang, fuhr sie weiter. Stefanie bemerkte rechts neben ihr eine Baustelle, vor der ein hellblauer Bagger stand. Arbeiter krabbelten wie Ameisen herum, offensichtlich unempfindlich gegen die schrillen, kreischenden Geräusche ihrer Arbeit. Sie waren mit Drucklufthämmern, Winkelschleifern und Sägen bewaffnet und trugen graublaue Arbeitsbekleidung und festes Schuhwerk. Auf manchen Köpfen saßen gelbe Schutzhelme. Einer der Arbeiter bewegte sich so elegant wie ein Krokodil im Wasser und ein weiterer Handwerker klopfte sich gerade Staub von der Hose. Die Laute ihrer Zerstörungsarbeit hallten auf diesem Platz wider. Eine schwarze Katze sprang in diesem Moment über die rot-weiße Absperrung.

Stefanie fuhr gleich darauf durch einen Kreisverkehr, hatte die anderen Verkehrsteilnehmer fest im Blick und bog rechts ab. Ein dichter Menschenstrom zog einen Bürgersteig entlang. Etwas später kam Stefanie bei ihrem Ziel an, dem Polizeigebäude. Der Betonklotz erstrahlte in kaltem Grau.

Sie parkte auf dem Polizeiparkplatz, der sich direkt vor dem Gebäude befand, stellte den Motor ab, entfernte den Sicherheitsgurt, öffnete die Tür, stieg aus, schlug die Wagentür wieder zu, drückte am Schlüssel auf die automatische Verriegelung, sah, wie die Lichter kurz aufblinkten, und ging zu ihrer Arbeitsstelle. Doch da wusste sie noch nicht, was man ihr gleich mitteilen würde.

 

Deine Schwester …

 

Auf dem Parkplatz standen einige Polizeiautos; über der Eingangstür hing ein großes, weiß-blaues Schild mit der Aufschrift „Polizei“. Als sich Stefanie der gläsernen Schiebetür näherte, öffnete sich diese automatisch – und sie trat ein. Es roch irgendwie nach Vanille. Der helle Empfangsbereich vermittelte einen einladenden Eindruck – an den Wänden hingen gerahmte Bilder, Topfpflanzen standen herum, und hinter der modernen Empfangstheke saß die freundliche, brünette Dame, mit der Stefanie oftmals vor der Arbeit noch ein Schwätzchen hielt. Doch heute war alles anders.

Der Polizeichef, ein großgewachsener, schlanker Mann um die vierzig, der immer einen schwarzen Anzug trug, sich die schwarzen Haare nach hinten gegelt, ein feines, glattes Gesicht und für gewöhnlich – so wie auch heute – eine Brille auf der Nase hatte, und Stefanies Partner, Ingo Kaufmann, der etwas älter als sie war, meist eine braune Lederjacke, blaue Jeans und schwarze Lederschuhe trug, dessen braune Haare oft in alle Himmelsrichtungen standen, dessen karibikblaue Augen in sehr tiefen Höhlen saßen und dessen Pflaumengesicht sehr oft ein Dreitagebart schmückte, standen vor der Theke. Die beiden erwarteten gespannt ihre Ankunft.

„Was steht ihr denn hier so herum? Seid ihr heute mein Empfangskomitee?“, fragte Stefanie lachend, als sie auf sie zuging. Die beiden Männer blickten ernst.

„Frau Schönberger“, begann der Polizeichef mit humorloser Stimme zu sagen. „Ich muss Ihnen leider berichten, dass gestern Abend Ihre um ein Jahr jüngere Schwester Sophie entführt wurde. Wir haben es heute erfahren – der Geiselnehmer hat sich bei der Zwettler Polizei gemeldet.“ Stille. Im Hintergrund lief leise Musik: STS – Kalt und Kälter. Doch Stefanie nahm dies in diesem Moment gar nicht mehr wahr. Einen Herzschlag später lachte sie.

„Ihr verkohlt mich doch, oder?! Guter Scherz! Haben wir heute den ersten April?“

Die Männer standen wie angewurzelt da, starrten sie todernst an. Stefanie zog die Augenbrauen nach unten und schaute Ingo Kaufmann in die Augen – doch der schüttelte nur verneinend den Kopf. „Es tut mir leid, Frau Schönberger. Wir wissen, wie viel Ihnen Ihre Schwester bedeutet“, sagte der Polizeichef.

Ihr rutschte das Herz in die Hose. Sie erstarrte zur Steinsäule, es war, als hätte ihr eine Gorgone direkt in die Augen geblickt. Es traf sie mit der Heftigkeit eines Autounfalls, bei dem selbst der Airbag nicht mehr reagierte. Sie spürte nichts außer Tausenden Nadelstichen, die sich über ihren ganzen Körper ausbreiteten. Sie fühlte sich leer, fiel in ein kurzes inneres Koma, fand keine Antworten, wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte, während weiterhin ganz leise STS zu hören war.

 

Sophie … Deine Schwester … Nach Hause kommen …

 

Es war, als hätte sich eine Sonnenfinsternis über ihre Welt, ihr Zuhause gelegt …

Kapitel 4

Vor einem halben Jahr

„Trink schneller, Sophie. Mum bringt uns sonst um. Du weißt, wie schnell sie sich Sorgen macht.“

Stefanies schwarzer Audi A3 stand auf dem ansonsten leeren McDonald´s Parkplatz in Zwettl. Ihre Schwester Sophie, die ein schwarzes Oberteil, eine hellblaue Jeans und braune Schuhe trug, saß auf dem Beifahrersitz – ihre braunen Haare fielen ihr offen auf die Schultern. Sie saugte genüsslich am Strohhalm, der in einem Pappbecher steckte, und warf Stefanie mit ihren dunklen Augen einen freundlichen Blick zu. „Die wird schon nicht gleich sterben.“ Stefanie, die unter ihrer schwarzen Lederjacke einen grauen Pullover trug, grinste und griff nach der raschelnden Papiertüte, in der sich noch ein paar Cheeseburger befanden. Sie wickelte einen aus der Papierhülle, und biss hinein.

„Willst du auch noch ein paar Pommes, Stefanie? Hier … Nimm ein paar!“, sagte Sophie schmatzend. Und Stefanie griff nach den warmen Pommes.

In Sophies ebenmäßigem Gesicht funkelten die dunklen Augen.

„Du bist in letzter Zeit so selten bei uns, Stefanie. Du hast in ein paar Monaten Geburtstag – wir könnten da doch wieder mal ordentlich einen draufmachen. Vielleicht könnten wir auch ein paar hübsche Jungs für uns begeistern.“ – „Sophie … Du weißt doch, dass ich arbeiten muss – ich bin jetzt endlich Kommissarin. Außerdem mache ich mir nicht mehr viel aus Geburtstagen.“ – „Es war immer dein Traum, Kommissarin zu werden; deswegen bist du ja auch nach Wien gegangen. Ich vermisse dich aber – du bist nur noch alle heilige Zeit bei uns. Weißt du noch, wie du mich früher immer beschützt hast?“ Stefanie lächelte. „Klar! Ich musste dich sogar in der Schule vor diesen Gören beschützen, die dich immer gehänselt haben.“ Sophie schmunzelte. „Ich hab dich lieb, Stefanie.“ Dieser Satz trieb Stefanie Tränen in die Augen. „Ich dich auch, Schwesterchen. Es wird aber Zeit, dass du dir mal einen Freund besorgst. Dann kann der dich vielleicht beschützen.“ Sogleich stupste Sophie ihre Schwester mit der Schulter an. „Du aber auch!“ Die beiden lachten.

„Iss den letzten Cheeseburger auf, Sophie – wir fahren jetzt nach Hause. Mum macht sich bestimmt schon wieder Sorgen.“

Alsbald startete Stefanie den Wagen, machte die Lichter an, knipste die Innenbeleuchtung aus, legte den Gang ein, und das Auto rollte los. Unter den Reifen knirschte Kies. Und die roten Heckleuchten verschwanden langsam in der Dunkelheit …

 

Ich hab dich lieb, Stefanie …

Kapitel 5

„Frau Schönberger? Frau Schönberger? STEFANIE?!“ Die brünette Dame, die hinter der Empfangstheke saß, machte sich lautstark bemerkbar und holte Stefanie aus ihrem Delirium. Um richtig zu sich zu kommen, schloss sie die Augen und schüttelte ganz kurz den Kopf, sie, die noch immer nicht ganz glaubte, was hier passiert war. Die Kommissarin schnappte hastig nach Luft; ihr Magen rumorte. Die ratternden Geräusche eines Druckers waren vernehmbar. Stefanie antwortete der Dame jedoch nicht, ließ den Blick über den Marmorboden schweifen und bewegte sich mit gesenktem Kopf den Empfangsbereich entlang. Sie ging direkt zur weißen Stahltür, die ins Untergeschoss führte, in dem sich der hauseigene Schießstand befand. Auf ihrem Weg dorthin betrachtete sie kurz ein gerahmtes Gemälde an der Wand, auf dem ein goldener Drache in Ölfarben zu sehen war und das von einem Wiener Maler stammte, der erst vor kurzer Zeit ganz in der Nähe sein Atelier eröffnet hatte. Sie öffnete die Stahltür und stieg die Treppe hinunter.

 

Der Polizeichef, der ein weißes Taschentuch gezückt hatte und sich schnäuzte, und Ingo Kaufmann sprachen miteinander:

„Was machen wir jetzt? Ich bin ihr Partner, ich kenne sie – sie wird nicht hier bleiben.“ – „Sie ist unser bestes Pferd im Stall.“ – „Ja, aber hier geht es um ihre Schwester – sie liebt sie über alles.“ – „Wir lassen sie gehen, Kaufmann. Rufen Sie den Zwettler Polizeichef an. Er soll alles vorbereiten – Frau Schönberger leitet die Ermittlungen.“ Ingo Kaufmann nickte und begab sich hinter die Empfangstheke, um dem Zwettler Polizeichef per Festnetz Bescheid zu geben.

 

Unterdessen war Stefanie am Schießstand angekommen. Ein Streifenpolizist stand dort herum. Er trug Polizeiuniform, eine Polizeikappe und schwarze Schuhe und wirkte etwas zappelig. Die dichten Augenbrauen, die wie das Buschwerk in Amazonien sein Gesicht verzierten, die große, hügelige Nase, die wie eine Gebirgskette in seinem Gesicht prangte, und der gezwirbelte, graue Schnauzer, der wie eine Hippie-Lippe sein Gesicht schmückte, waren die markanten Punkte seines äußeren Erscheinungsbilds.

„Ah, Frau Schönberger! Wollen Sie sich mal wieder am Schießstand ausprobieren? Nehmen Sie doch diese Walther PPQ, dann müssen Sie Ihre Dienstwaffe nach dem Schießen nicht säubern …“

Augenblicklich reichte er ihr die 9mm-Pistole. „Eine Maschinenpistole wäre mir heute lieber“, antwortete Stefanie trotzig und nahm die Walther PPQ in die Hand; der Polizist stutzte kurz.

Sie entkoppelte das Magazin, schob es gleich darauf zurück in den Knauf, zog den Schlitten zurück und ein metallisches Klacken erklang. Danach setzte sie den Gehörschutz auf, wiegte die Waffe, die gut in der Hand lag, hin und her, stellte sich an den Schießstand, streckte die rechte Hand nach vorne und entsicherte mit dem rechten Daumen die Pistole.

Die Chance, aus größeren Entfernungen mit einer 9mm-Pistole einen tödlichen Schuss anzubringen, ist verschwindend gering. Man muss schon zwischen die Augen oder auf das Herz zielen, um sein Opfer töten zu können. Um eine tödlich verletzende Arterie zu erwischen, braucht es jahrelange Übung im Umgang mit Handfeuerwaffen. In den meisten Fällen trifft man allerdings bloß einen Arm oder ein Bein. Oftmals trifft man jedoch überhaupt nichts. Aus kurzer Entfernung kann aber auch eine 9mm-Pistole sehr, sehr tödlich sein.

Doch Stefanie Schönberger war eine Meisterin im Umgang mit Handfeuerwaffen; sie war ein Naturtalent. Jeder im Polizeigebäude wusste, dass, sobald Stefanie den Schießstand betrat, die Ziele der Reihe nach umfielen. So auch heute.

Nach dem Ausatmen drückte sie den Abzug, schoss. Mit zusammengebissenen Zähnen jagte sie ein Projektil nach dem anderen in die Richtung der Ziele. Dank dem Gehörschutz nahm sie nur gedämpfte Töne wahr – wie Bambustrommeln. Bum Badabum Bum.

Sie senkte die Waffe, atmete kurz aus, visierte ihr Ziel an – und feuerte wieder. Schüsse hallten durch das Untergeschoss des Polizeigebäudes. Man spürte regelrecht, wie Stefanie sich den ganzen Frust und den Schmerz von der Seele ballerte. Korditgeruch lag in der Luft. Leere Patronenhülsen fielen klirrend zu Boden. Nachdem sie das Magazin leergeschossen hatte, drückte sie mit dem rechten Daumen den Magazinauslöseknopf am Pistolengriff, ließ das leere Stahlblechmagazin herausgleiten, griff nach dem nächsten Magazin, das auf einem schwarzen Tischchen neben ihr lag, und schob das volle Magazin wieder in den Pistolengriff. Sie hatte vier Mal ins Schwarze getroffen.

„Gut geschossen, Frau Schönberger! Es ist eine Freude, Ihnen zuzusehen.“ Stefanie hörte die Wörter wegen des Gehörschutzes nur ganz leise, blickte aber nach links. Der Polizist grinste sie an und legte seine Hand auf ihre linke Schulter.

„Ich würde an Ihrer Stelle ein Stück zurücktreten; sonst könnte es passieren, dass ich Sie auch noch erschieße …“

Das Gesicht des Polizisten wurde weiß, er trat zurück und zwirbelte an seinem Schnauzer herum.

Auf Stefanies Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Sie zog den Schlitten zurück und die Kammer lud sich mit einer Patrone. Sie streckte die rechte Hand wieder nach vorne, entsicherte die Pistole, zielte und drückte den Abzug. Sie feuerte, zielte, feuerte, zielte und feuerte. Der Knall der Schüsse wurde mehrfach von den Wänden reflektiert. Projektil um Projektil brauste durch die Luft.

Als das Magazin leer war und der Schlitten hinten blieb, nahm sie den Gehörschutz ab, drehte sich um, wischte sich mit dem Handrücken sorgfältig über die Stirn und drückte dem Polizisten die noch rauchende PPQ in die Hand. Sie hatte sechs Ziele getroffen.

„Zwei Magazine und zehn Treffer! Gut gemacht, Frau Schönberger!“

Stefanie begutachtete ein letztes Mal die PPQ. „Weshalb muss man diese PPQ noch entsichern? Diese Pistole ist normalerweise eine Quick Defence“, fragte sie, etwas erstaunt.

„Das ist noch ein älteres Modell, Frau Schönberger – wir benutzen sie nur hier unten am Schießstand.“ Stefanie grinste. „Da behalte ich dann doch lieber meine Browning“, sagte sie und klopfte auf ihre eigene schwarze 9mm-Pistole, die in ihrem Schulterholster steckte.

Drei Lidschläge später verließ sie den Schießstand.

 

Im Erdgeschoss angekommen, marschierte sie erhobenen Hauptes die Empfangshalle entlang, vorbei an einigen schwarzen, gepolsterten Ledersesseln, einem schwarzen Sofa, einem weißen Wasserspender und einem Beistelltisch, auf dem ein paar Zeitschriften lagen.

„Frau Schönberger“, sagte der Polizeichef – doch Stefanie ließ ihn gar nicht ausreden und schlenderte geschmeidig an ihm und Ingo Kaufmann vorbei, ohne die beiden eines Blickes zu würdigen. Es schien, als hätte sie die Welt um sie herum zum Teil ausgeblendet. Der Polizeichef schluckte die Worte hinunter, die er eigentlich an Stefanie richten wollte. Die Kommissarin stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf; der Polizeichef und Ingo Kaufmann folgten ihr.

Oben angekommen, öffnete sie eine Tür und ging hindurch; kurz darauf fiel die Tür wieder ins Schloss. Sie huschte zu einem Aktenschrank und öffnete ihn, konnte jedoch nicht finden, wonach sie suchte. Sie wandte sich einem Schreibtisch zu, auf dem ein schwarzer Laptop lag. Dann öffnete sie einige Schubladen und fischte zwei durchsichtige Plastikbeutel heraus, die mit Patronen und leeren Magazinen befüllt waren. „Ah! Na endlich! Ich nehme noch zwei zusätzliche Magazine mit“, flüsterte sie vor sich hin, als sie die Plastikbeutel aufmachte und den Inhalt auf den Schreibtisch kippte.

„Frau Schönberger“, begann der Polizeichef, der plötzlich neben ihr stand.

„Ich darf Ihnen hiermit mitteilen, dass ich Sie ins Waldviertel gehen lasse. Herr Kaufmann hat den Zwettler Polizeichef bereits kontaktiert – Sie werden die Ermittlungen leiten. Ich gebe Ihnen aber heute frei. Erholen Sie sich von diesem Schock, fahren Sie zu Ihrer Familie. Sie müssen sich morgen bei der Zwettler Polizei melden.“

„Ich hätte mich sowieso nicht aufhalten lassen“, erwiderte Stefanie trocken, während sie die Patronen in die Magazine drückte. Ingo Kaufmann, der hinter dem Polizeichef stand, grinste.

Der Polizeichef, sichtlich irritiert, räusperte sich, fuhr sich mit der flachen Hand über die nach hinten gegelten, schwarzen Haare und fummelte an seiner Brille herum, ehe er wieder zum Sprechen ansetzte: „Ich hoffe, dass Sie Ihre Schwester finden werden. Passen Sie aber auf sich auf – auf dem Land kann es rau und grausam sein.“ Stefanie nickte mehrmals.

„Und ich verbitte mir Ärger, Frau Schönberger. Denn wo Sie auftauchen, sind packende und ereignisreiche Unternehmungen oftmals keine Seltenheit. Ich wünsche Ihnen aber viel Glück, Frau Schönberger!“

Stefanie steckte die vollen Magazine in die Innentaschen ihrer schwarzen Lederjacke und gab dem Polizeichef die Hand. „Danke! Ich weiß das zu schätzen.“ Danach streichelte sie kurz Ingo Kaufmanns Schulter, lächelte verhalten und verließ den ersten Stock.

„Ach, da geht sie hin, unser Mädchen, Kaufmann“, sagte der Polizeichef, der seinen rechten Ellbogen auf Ingo Kaufmanns linke Schulter gestützt und die Beine überkreuzt hatte. Kaufmann grinste.

„Hoffen wir, dass Frau Schönberger Erfolg haben wird, Kaufmann.“

 

Zurück in der Empfangshalle, in der jetzt eine Putzfrau den Boden aufwischte, spazierte Stefanie direkt zur gläsernen Schiebetür, die in das Polizeigebäude führte.

„Und? Lässt er Sie gehen?“ Frau Schönberger warf einen Blick über die linke Schulter – die Empfangsdame lächelte sie an. Stefanie blieb stehen und nickte kurz.

„Ja, er ist ein guter Mann. Ich bin ihm für vieles dankbar.“ Die Empfangsdame presste die Lippen zusammen und lächelte wieder. Stefanie schritt zur Schiebetür, die sich automatisch öffnete, und trat hinaus. Sie blickte zum Himmel. Eine graue Wolkendecke hatte sich wie ein Kochtopfdeckel über Wien gelegt. Auf dem Polizeiparkplatz stand ein Polizeibus; zwei Männer der Cobra – eine polizeiliche Spezialeinheit, die in Deutschland SEK bezeichnet wird – stiegen gerade aus dem Bus.

Sie trugen schwarze Schutzbekleidung, festes, schwarzes Schuhwerk, schwarze, schusssichere Westen aus Kevlar und schwarze Sturmhauben. Sie waren mit Maschinenpistolen bewaffnet und auf ihren Rücken stand in großen, weißen Lettern POLIZEI. Ihr primäres Hauptquartier lag in Wiener Neustadt.

„Schönen Tag, Frau Schönberger!“, riefen sie Stefanie zu, als sie winkend auf sie zukamen.

KlackMean

Stefanie fuhr durch die österreichische Hauptstadt und entfernte sich irgendwann von Wien – das rot durchgestrichene Ortsschild signalisierte ihr, dass sie nun ihre neue Heimat verlassen hatte und auf dem Weg zu ihrem alten Zuhause war.

Die linke Hand am Lenkrad, die rechte Hand am Schaltknauf, fuhr Stefanie wenige Minuten später eine Autobahn entlang. Sie setzte den Blinker und überholte einen kleinen Lastwagen, auf dessen Seiten das Coca-Cola-Logo abgebildet war. Als sie auf der Höhe des Führerhauses angelangt war, hupte plötzlich der puppengesichtige Lastwagenfahrer, der eine braune Kappe trug, ließ das Fenster herunter und machte schlüpfrige Gesten. Frau Schönberger zeigte ihm den Mittelfinger, drehte die Lautstärke des Radios hoch, legte den fünften Gang ein und überholte ihn. Aus den Boxen hämmerte jetzt Everybody Wants Something From Me von The Pretty Reckless.

Ihre nächste Station war ihre eigentliche Heimat – das Waldviertel …