Impressum

Werner Müller

Mein Besuch bei den Ahnen

Fast 200 Jahre Familiengeschichte(n) aus Sachsen, Böhmen/Mähren, Niederschlesien und Bayern

 

ISBN 978-3-96521-202-2 (E-Book)

ISBN 978-3-96521-204-6 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

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Internet: http://www.edition-digital.de

 

Nur wer seine Wurzeln kennt, kann wachsen

(Anselm Grün)

Prolog

Vor nun schon mehreren Jahren, an einem grauen Wintertag, blätterte ich, Werner Müller, geboren 1948, gemeinsam mit meiner Frau Brigitte, Jahrgang 1949, wieder einmal in alten Fotos und Papieren aus den Nachlässen unserer Familien. Dabei stellten wir erneut fest, dass uns die auf nicht wenigen altertümlichen, teils recht vergilbten Fotos abgebildeten Menschen oft gänzlich unbekannt waren. Dazu fiel mir noch ein Vers aus der Novelle „Aquis submersus“ Theodor Storms ein:

 

„Gleich so wie Rauch und Staub verschwind,

also sind auch die Menschenkind“.

 

Sollte das so bleiben? Die da zu sehen waren und von denen geschrieben stand, das waren ja unsere Vorfahren. Das waren Menschen, die nach den Erkenntnissen der Naturwissenschaft, der Erbbiologie, bewusst oder unbewusst zu einem Stück in uns weiterleben. Durch sie sind wir im Heute mit dem Gestern untrennbar verbunden. Eines Tages dann werden wir selbst Vorfahren geworden sein, wie der Schriftsteller Erich Kästner so schön schreibt. Sollten wir uns vielleicht einmal darauf besinnen, dass wir nicht einsam und allein im Ozean der Zeit schwimmen, sondern jeder das Glied einer unzerreißbaren Kette ist, sogar noch nach dem Tod. Sollten wir vielleicht einmal über Zusammenhänge zwischen dem Gestern und dem Heute nachdenken?

Sicher, das ist besonders für junge Leute nicht so einfach zu verstehen. Die Theologin Margot Käßmann, ehemalige Bischöfin und zeitkritische Autorin nicht weniger Bücher, meint, dass wir in jungen Jahren ständig vorwärts leben und versuchen, die vor uns liegenden Herausforderungen zu bewältigen. Erst später, älter geworden, nehmen wir uns die Zeit um einzuordnen, was wir und andere erlebt haben, suchen Zusammenhänge – in der zweiten Hälfte des Lebens.

Da aber ist es oft schon zu spät, um Zeitzeugen, beispielsweise Großeltern, zu befragen. Ich habe das schmerzhaft wahrnehmen müssen. Denn beim Sammeln der Lebensdaten der Vorfahren ergaben sich immer wieder Fragen, die nicht so einfach zu beantworten waren. Doch dazu später.

Mit 65 Jahren hatte ich mit tatkräftiger Hilfe meiner Frau Brigitte schon eine Ahnentafel für unsere Kinder angefertigt. Da waren sie schön aufgereiht – Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Auch die nächste Generation hatten wir manchmal gefunden, aber dafür war das verwendete Formular zu klein. Es reichte nur für Berufe, Geburts-, Todes- und Hochzeitsdaten.

Dazwischen gab es jedoch zahlreiche interessante, spannende, dramatische Geschichten von und über die Vorfahren, über ihr Leben zwischen Geburt und Tod, über die „Verhältnisse“, die sehr oft einfach nicht so waren, wie sie hätten sein sollen, für Brot und Wein, für ein Leben in Frieden und Zufriedenheit. Verhältnisse, die sie trotzdem überstanden, ja auch meisterten.

Davon wollen wir für die Generation unserer Kinder und vielleicht auch die der nächsten Generation, die der Enkel, ein wenig erzählen. Wie und was waren sie, die Vorfahren?

 

Bevor wir mit unserem Bericht beginnen, noch ein Hinweis: Erzählt wird im Folgenden von den Vorfahren aus unserer Sicht bzw. der unserer Generation, also der jetzt etwa 70-Jährigen. Da sind unsere Eltern die Großeltern unserer Kinder, unsere Großeltern die Urgroßeltern der Kinder und so fort. Dabei langten wir schließlich bei unseren Urgroßeltern an. Das sind immerhin acht Frauen und acht Männer, über die zu berichten ist. Manchmal, wenn das möglich und sinnvoll war, sind wir noch einen Schritt weiter gegangen, zur nächsten Generation, zu den Ur-ur-Großeltern. Beendet haben wir die Suche im Geäst des Familienstammbaumes dort, wo nur noch einzelne Namen zu finden waren.

Schließlich, nach Fertigstellung des Manuskriptes, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass das von uns Gefundene auch für andere Familien interessant sein könnte. Vielleicht finden Leser Parallelen zu Lebensläufen oder erhalten Anregungen für eigene Recherchen.

Ahnentafel Brigitte Teubner

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Ahnentafel Werner Müller

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Kapitel 1 – Zeit der Urgroßeltern

Diese Vorfahrengeneration, laut Ahnentafel mit jeweils acht Uromas (Urgroßmüttern) und Uropas (Urgroßvätern), lebte etwa zwischen etwa 1850 und 1950 in ganz verschiedenen Regionen bzw. Staatsgebilden. In diesem Zeitraum gab es in Mitteleuropa tiefgreifende Veränderungen, denen auch diese Menschen unterworfen waren.

So fanden sich zunächst in der Donaumonarchie Österreich-Ungarn lebende Männer und Frauen nach dem 1. Weltkrieg im neu geschaffenen Staatengebilde Tschechoslowakei wieder. Das waren die ab 1918 meistens „Sudetendeutsche“ genannten Deutschmährer und Deutschböhmen.

Andere der Vorfahren stammten aus der damaligen Provinz Niederschlesien des Königreichs Preußen oder aus dem Königreich Bayern, die beide 1918 zu Freistaaten wurden und damit auch Gliederstaaten der föderativen Weimarer Republik. Zu dieser gehörte neben anderen noch das vormalige, von Napoleons Gnaden als Königreich erhobene Kurfürstentum Sachsen, ebenfalls ab 1918 ein Freistaat und Heimat von einigen der Vorfahren.

Das mag zunächst etwas verwirrend sein, ist aber für das Verständnis der folgenden Geschichten nicht zu umgehen.

Ein Vielvölkerstaat zerbricht

Donaumonarchie, Sudetenland und Tschechoslowakei

 

Die Geschichte der Donaumonarchie ist kompliziert und vielfältig. Ich aber bin ja kein Geschichtslehrer und will meine Leser nicht damit langweilen. Vielleicht nur so viel, dass dieser Vielvölkerstaat nach Ende des Ersten Weltkrieges zerbrach oder zerbrochen wurde und aus ihm verschiedene neue Staaten entstanden. Dazu gehörten Deutsch-Österreich und die Tschechoslowakei. Letztere war wieder ein Vielvölkerstaat, der sich aber unter Führung tschechischer Politiker wie Masaryk und Benes eindeutig national-tschechisch ausrichtete. Sie wurden dabei von den Siegemächten des Krieges unterstützt, vor allem von Frankreich. Die Slowakei löste man mit Gewalt aus dem Mutterland Ungarn heraus.

Die vor allem im gesamten Grenzgebiet Böhmens und Mährens sowie in einigen Sprachinseln lebenden Sudetendeutschen oder auch Deutschösterreicher fragte niemand. Verschiedene Versuche zu einer Volksabstimmung über ihren Verbleib in dem neuen Österreich wurden unterdrückt. Es gab auch Tote.

Die Tschechoslowakei hatte Anfang der 1920er Jahre knapp 14 Millionen Einwohner. Rund sieben Millionen gehörten aus ethnischer Sicht zu den Tschechen, 2 Millionen zu den Slowaken und über 3 Millionen zu den Deutschen. In der 1920 verabschiedeten Verfassung war die Rede von einer tschechoslowakischen Nation und einer tschechoslowakischen Sprache – beides Erfindungen, die dafür sorgten, dass sich die Slowaken als Staatsvolk betrachten konnten, die zahlenmäßig stärkeren Deutschen jedoch als nationale Minderheit galten. Theoretisch waren Tschechen und Slowaken in der neuen Republik gleichgestellt, doch ohne Zweifel dominierten die Tschechen in allen Bereichen. Und dies blieb nicht ohne Folgen.

Selbst die Spaltung der Tschechoslowakei 1992 in zwei selbstständige Republiken ist mit darauf zurückzuführen.

Auch die von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs vorgenommenen Grenzziehungen in den Gebieten des ehemaligen osmanischen Reiches und damit die Schaffung weiterer neuer Staaten nach 1918 hatten weitreichende politische Folgen. Diese trugen maßgeblich zur Entstehung von Konflikten bei, die diese Region bis heute erschüttern.

 

Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Afrika von den Kolonialmächten willkürlich gezogenen Grenzen haben verheerende Auswirkungen bis heute. Ethnische und historische Gegebenheiten fanden dabei nicht die erforderliche Beachtung. So wurden Familien getrennt, Feinde vereint und Handelsrouten unterbrochen.

 

Und das ehemalige Jugoslawien? Und die nun glücklicherweise nach 40 Jahren gewaltsamer Trennung wieder vereinten zwei Teile Deutschlands?

Der Handschuhmacher und die Musikerin

Handschuhmacher Josef Höllmann (1867 – um 1940) und Musikerin Rosa Bärtl (1870 – 1955)

 

Jetzt schauen wir zurück ins frühere Sudetenland.

Von Vysluni (ehemals Sonnenberg) im heutigen Tschechien kommend, wurde in Kadan (ehemals Kaaden) der Handschuhmacher Josef Höllmann mit seiner Frau Rosa sesshaft.

Es war nicht einfach, Näheres über die Vergangenheit dieses Familienzweiges zu erfahren. Zeitzeugen konnten nicht mehr gefragt werden. Dokumente aus Nachlässen, Recherchen bei verschiedenen Standesämtern und in Archiven der Tschechischen Republik haben dann noch einiges zutage gebracht.

Josefs Vater war Fleischer, Rosa stammte aus der Sonnenberger Musikerfamilie Bärtl. Die zog, immer auf Suche nach Beschäftigung, durch die Lande, und so fand ich in Rosas Geburtsurkunde als Geburtsort Varna (Bulgarien) eingetragen.

Geheiratet wurde 1894 in Kaaden. Kinder aus dieser Familie waren Josef, Emil, Elvira und Albina, eine spätere Oma Brigittes.

 

Die Handschuherzeugung war in alter Zeit kein eigenes Gewerbe. Handschuhe aus Leder erzeugten früher die Beutler, die eben Beutel aus Leder machten, aber auch Lederhosen, Säbeltaschen, Ranzen und Handschuhe.

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Josef Höllmann 1936 (69 Jahre)

Im 19. Jahrhundert hatte das Handwerk seine Blütezeit. Der größte Teil der Handschuhe wurde damals in Heimarbeit hergestellt. Das war auch bei den Höllmanns so, wie sich Brigittes Vater Willi später an seinen Großvater erinnerte.

Dabei war meistens die ganze Familie beschäftigt: Der Mann am Wirkstuhl, die Frau an der Nähmaschine, ungeübte Kräfte und Kinder jeden Alters, auch schon sehr kleine Kinder, werkten am Spulrad oder bei verschiedenen Hilfsarbeiten.

Der für die Produktion benötigte Wirkstuhl wurde dem Handschuhmacher von einem Unternehmer gegen Entgelt zur Verfügung gestellt. Dieser nahm ihm nicht nur die Ware gegen einen bestimmten Preis ab, sondern versorgte ihn auch mit Garn, Seide und anderen Dingen, die er zur Herstellung der Handschuhe benötigte.

An einem Tag soll ein geübter Handschuhmacher 12 Paar Handschuhe hergestellt haben. Der Lohn dafür war bescheiden. Außerdem musste der Heimarbeiter in der Regel neben dem Stuhlzins auch noch die Auslagen für den Bruch von Nadeln und Platinen bestreiten.

Zwischen 1914 und 1915 gehörten der Handschuhmachergenossenschaft in Kaaden 31 Fabrikanten an, bei denen über 240 Gehilfen, Zurichter, Färber und Dresseure und ca. 800 Näherinnen beschäftigt waren. Im Jahr 1914 wurden ungefähr 630 000 Stück Leder zu 1 200 000 Paar Handschuhen verarbeitet.

Die Zahl der Handschuhmachergehilfen und der Näherinnen war in der Bevölkerung Kaadens beachtlich. Josefs Sohn Emil war selbst Handschuhmacher, seine Tochter Gretel als Handschuhnäherin tätig.

Eine Bergmannsfamilie mit 12 Kindern

Bergmann Wilhelm Teubner sen. (1869 – 1950) und Franziska Schiega (1873 – um 1935)

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Eine zweite sudetendeutsche Familie fand ich in der heutigen Tschechischen Republik in Pritkov (damals Jüdendorf). Das ist gar nicht weit von Teplice (damals Teplitz) entfernt, nahe der böhmisch-sächsischen Grenze.

Dort lebte der aus Chotyne (damals Ketten) bei Liberec (damals Reichenberg) stammende Wilhelm Teubner sen. mit seiner in Rybinany (damals Ribnian) geborenen Frau Franziska, die er um 1890 heiratete.

Die beiden hatten 12 Kinder, 4 Mädchen und 8 Jungen. Der Älteste war Wilhelm Franz, einer der späteren Opas oder Großväter von Brigitte. Er wurde als erster Sohn traditionsgemäß nach seinem Vater genannt. Das war in der Familie vorher so und auch später bis hin zu den Eltern.

Bei den Nachforschungen zu unserer Familiengeschichte halfen hier sogar tschechische Archive. Als Glücksumstand erwies sich außerdem, dass ich in Zwickau den Sohn des Mannes finden konnte, der Opa Wilhelms Schwester Anna geheiratet hatte. Er gab mir zur Geschichte der Familie Teubner wertvolle Hinweise. Doch davon später mehr.

Vater Wilhelm wird in alten Akten als Kesselheizer und später Oberhauer im damaligen Braunkohlenbergbau in dieser Region genannt. Zum Oberhauer konnte man nach langjähriger erfolgreicher Berufserfahrung befördert werden und fungierte damit als Vorarbeiter.

Da ja Teplitz nicht weit von meiner Heimatstadt Pirna entfernt ist, bin ich mit Brigitte und unseren zwei Kindern in den 1970er und 1980er Jahren manches Mal im sogenannten kleinen Grenzverkehr dort gewesen. Von Bergbau hatten wir nichts bemerkt. Doch eine Internetrecherche belehrte mich eines Besseren. Demnach begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Abbau von Hartbraunkohle in den reichen Braunkohlenlagern der Umgebung der Stadt in größerem Stil. Teplitz entwickelte sich dadurch zu einem bedeutenden Industrie- und Handelsplatz.

Der Abbau von Braunkohle erfolgte damals in den meisten Revieren im Tiefbau. Erst mit zunehmender Mechanisierung verschob sich das Gewicht der Gewinnung zum Tagebau. In der Nähe von Most, ebenfalls im Nordböhmischen Becken gelegen, wurde noch bis 1991 Braunkohlentiefbau betrieben.

Die Arbeit im Braunkohlenbergbau war schwer und oft gefährlich. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen sicherten meistens nur das Überleben der Familien. Früher Tod der Bergleute war keine Seltenheit, genauso wie Kinderarbeit.

Ein Foto der Familie mit 12 Kindern, aufgenommen 1923 zur Hochzeit der Tochter Anna, zeigt einen Teil der Kinder barfuß und in ärmlicher Kleidung. Die Mutter Franziska ist 50 Jahre alt, der Vater Wilhelm 54. Vorn rechts fällt ein gut gekleideter junger Mann auf. Das ist Wilhelm Teubner jun. mit 30 Jahren. Er hatte Elektriker gelernt und zu diesem Zeitpunkt schon sieben Jahre erfolgreich im Elektrizitätswerk von Kaden gearbeitet.

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Familie Teubner mit ihren 12 Kindern 1923

Sächsische Geschichte

Königreich Sachsen, Deutsches Reich und Weimarer Republik

 

Um 1900 hatte Deutschland 56 Millionen Einwohner mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 40 bis 50 Jahren. Das waren Folgen der um etwa 1830 begonnenen industriellen Revolution.

Auf technischem Gebiet traten an die Stelle von Handarbeit und Muskelkraft vermehrt Werkzeug- und Dampfmaschinen, die menschliche Arbeit ersetzten.

Ein bis dahin nicht erlebter Bevölkerungsüberschuss erschütterte die althergebrachte Sozialstruktur. Die Abwanderung vom Land in die Stadt löste einen Prozess der Verstädterung aus und beseitigte das Übergewicht ländlicher Strukturen.

In Sachsen arbeiteten 1900 bereits 60% der Bevölkerung in der Industrie (im Deutschen Reich 40%) und nur noch 14% in der Landwirtschaft (im deutschen Reich 35%).

Die Schwerindustriegebiete waren Oberschlesien, Sachsen, das Ruhrgebiet und das Saarland.

Das bestehende Eisenbahnnetz wurde auf 50 000 Kilometer ausgebaut.

 

Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 folgte eine längere Zeit des Friedens, die mit dem ersten Weltkrieg ein jähes Ende fand. Todesanzeigen von gefallenen Soldaten prägten die Zeitungen. Die Nahrungsknappheit wurde immer gravierender, Hunger war in weiten Kreisen der Bevölkerung an der Tagesordnung. Sprichwörtlich ist hier der Kohlrübenwinter 1916/1917 geworden, eine Hungersnot. Es folgten schwierige Nachkriegsjahre, geprägt durch die Reparationsforderungen der Siegermächte des Krieges an Deutschland. Die sich entwickelnde Geldentwertung gipfelte 1923 in der Hyperinflation. Das Geld war nichts mehr wert.

1 Dollar entsprach am 2. Dezember 1923 4,21 Billionen Reichsmark. Eine heute unvorstellbare Zahl.

Um 1926 erreichten Reallöhne, Produktions- und Exportzahlen in Deutschland wieder den Vorkriegsstand. Mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse nahmen auch die innenpolitischen Spannungen ab. Die Menschen hatten das Gefühl, dass es nun wieder aufwärts geht. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff der „Goldenen Zwanziger Jahre“. Doch es ist eben nicht alles Gold, was glänzt. Schon 1929 folgte, beginnend in den USA, eine jahrelang anhaltende Weltwirtschaftskrise. Im Februar 1932 erreichte sie in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt ihren Höhepunkt: Es standen 6 120 000 Arbeitslosen, also 16,3 % der Gesamtbevölkerung, nur 12 Millionen Beschäftigte gegenüber.

Eine soziale Milderung der Massenarbeitslosigkeit so wie heute bei uns gab es nicht. Die Folgen waren Not und Elend in großen Kreisen der Bevölkerung. Zunahme der Obdachlosen, steigende Kriminalität, erhöhte Selbstmordrate sind nur einige der Auswirkungen gewesen.

Erst 1936 hatte Deutschland die Krise einigermaßen bewältigt und erreichte Vollbeschäftigung.

Mit vier Kindern plötzlich Witwer

Former Max Werner (1872 – 1944) und Arbeiterin Martha Oswald (1869 – 1905) /Erna Hölzel (1879 -1972)

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In Radeberg bei Dresden kam 1872 Max Werner als uneheliches Kind zur Welt. Von seiner Mutter ist nur der Name überliefert, Selma Therese Werner. Der Landarbeiter Johann Diesner, den sie später heiratete, war sein Stiefvater.

Im nicht weit entfernten Großröhrsdorf, wurde dem Bandweber Ernst Moritz Oswald und seiner Frau Emilie Auguste Schöne 1869 eine Tochter namens Flora Bertha Martha Oswald geboren.

1895 heirateten Max und Martha in Radeberg. Leider waren ihnen nur zehn gemeinsame Jahre vergönnt. Martha starb 1905 im Alter von 36 Jahren. Die Akten des Archivs vermelden, dass das im Krankenhaus war. Erlag sie einem Kindbettfieber?

Ihre Tochter Doris, eine meiner Großmütter, war damals gerade sieben Jahre alt. Da noch drei weitere Geschwister im Haushalt lebten, war die Situation für den nun alleinstehenden Vater nicht einfach. So blieb als Ausweg nur die Unterbringung der Kinder in Pflegefamilien.

Da war es dann ein im Leben nicht so häufig vorkommender Glücksfall, dass Max Werner die mit ihrem Sohn Martin allein lebende Erna Hölzel kennenlernte.

Sie heirateten 1908 in Heidenau, und von gelegentlichen Besuchen in den 1950er Jahren in der dortigen Wohnung kenne auch ich noch die „Heidenauer Oma“ Erna.

Mit ihr wuchs die Familie wieder zusammen und die Kinder hatten wieder eine Mutter.

Dieser neue Lebensabschnitt brachte auch den Wegzug von Radeberg nach Heidenau mit sich.

Max arbeitete vorher als Former in einer Radeberger Fabrik, die Eisenformen zum Guss von Glas, also Pressglas, anfertigte. Im 19.Jahrhundert hatten sich die manufakturähnlich arbeitenden Glashütten in Glasfabriken verwandelt, so auch hier. Alles das, was neben der eigentlichen Glasproduktion erforderlich war, wurde aus anderen Industriezweigen beschafft. So entstand der Glasformenbau als eigenständiges Gewerbe. In Radeberg erarbeiteten sich die Glasformenhersteller dabei bis zum Ersten Weltkrieg eine Vormachtstellung als Zulieferer für die deutsche Glasindustrie.

Doch auch in Heidenau wurden für die hier ansässige Glas- und Eisenindustrie Gussformen benötigt. Also brachte der Umzug ebenfalls die so wichtige, Einkommen sichernde Beschäftigung mit sich.

Max‘ erste Frau Martha, deren Eltern zum Zeitpunkt ihrer Heirat beide schon nicht mehr lebten, wird in der Heiratsurkunde als Arbeiterin bezeichnet. Ein Zeichen dafür, dass sie die Arbeit in einem Industriebetrieb der Dienstmädchenlaufbahn vorzog. Diese war seinerzeit im Vergleich zu anderen Berufen mit umfangreichen Aufgaben und Pflichten bei wenig persönlicher Freiheit mit geringem Lohn verbunden und deshalb immer mehr gemieden. Stattdessen wurde öfter eine Arbeit in der wachsenden Industrie angenommen.

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Max und Erna, wahrscheinlich 1916

Erna, die zweite Frau von Max, stammte aus einer Bandweberfamilie in dem nicht weit von Radeberg entfernten Großröhrsdorf. Sie musste sich mit ihrem Sohn als alleinstehende Mutter durchschlagen. In der Heiratsurkunde ist zu lesen, dass sie im heutigen Ortsteil Mügeln der Stadt Heidenau wohnte und sich ihren Lebensunterhalt als Wirtschafterin, also in der Dienstbotenrangordnung schon etwas höher stehend, verdiente.

Gern hätte ich ein Foto von Martha mit Max gezeigt. Doch weder von ihr noch von Erna war ein Hochzeitsbild zu finden.

Stattdessen gibt es eine Aufnahme von Max in Landwehruniform aus der Zeit des Ersten Weltkrieges gemeinsam mit Erna. Ernst, ja nachdenklich, schauen sich die beiden da an, halten sich fest an den Händen.

Die Aufnahme stammt mit großer Wahrscheinlichkeit von 1916. Max ist da 44 Jahre alt, seine Frau 37. Die hohen Verluste des Krieges führten zur Mobilmachung des Landsturmes als letztes Aufgebot der Wehrpflichtigen.

Diesmal hatten die beiden Glück, Max kehrte unversehrt zurück.

Als Ausgleich für die arbeitsreiche Woche und als Nahrungsquelle diente in den folgenden schweren Jahren ein Garten in der Nähe der Wohnung, in dem sich die Familie gern traf. Ein Foto aus den 1930er Jahren zeigt hier glückliche Großeltern mit den Enkeltöchtern Charlotte und Erika.

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Garten in Heidenau

1944 beendete eine Krankheit das Leben von Max. Erna blieben noch fast 28 Jahre, die sie allein, aber nicht einsam in ihrer Heidenauer Wohnung verbrachte. 1972, einen Monat vor dem 93. Geburtstag, endete ihr Lebensweg.