Impressum

Karina Brauer

Dann bist du tot! Mausetot!

ISBN 978–3–96521–194–0 (E–Book)

 

Die Druckausgabe erscheint zeitgleich im Eigenverlag Karina Brauer.

Umschlaggestaltung: Uta Stockdreher, www.stockdreherdesign.de

 

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Vor Büchern muss man sich nicht fürchten.

Ungelesen sind sie harmlos.

(unbekannter Autor)

Erster Teil

1.

Februar 1971

Nieselschneeregen zieht übers Land. Die Scheibenwischer des blauen Wartburgs schieben schmierend und quietschend den Schneeregenmatsch über die Frontscheibe. Seit den späten Vormittagsstunden ist die dreiköpfige Familie schon unterwegs in den Norden der Republik, nach Hause.

Am Abend zuvor hatten die drei nach dem zehntägigen Skiurlaub im Süden der Tschechoslowakei nahe der ungarischen Grenze noch einen Stopp bei den Eltern des Mannes in der Nähe von Dresden eingelegt.

Zur Ankunft am vergangenen Abend gab es „Käffchen“ und ein „Conjäckchen“ für die Männer. Für die Damen ein „Sektchen“. Danach „Schnittchen“ und noch ein „Bierchen“ und noch ein „Conjäckchen“ und noch ein „Sektchen“ und noch ein „Bierchen“…

Das Mädchen trank rote Brause – mal etwas ohne „chen“. Sie war ja noch ein Kind, ein Kindchen, erst neun Jahre alt.

 

Gelacht hatten die Erwachsenen – also vor allem die Großmutter und der Vater – und sich ständig gratuliert und umarmt. Das Mädchen hatte nur beobachtend dabeigesessen. Sie wusste nicht, was da um sie herum geschah. Es war ihr aber auch egal. Hauptsache war: Mama und Papa stritten sich nicht. Dann musste das Kindchen ins Bett und erfuhr nichts vom Plan der Eltern, in den Süden der DDR, in die Nähe der Großeltern zu ziehen. Nichts wusste das Mädchen von den Plänen des Vaters und auch nichts von denen der Mutter, die doch bei gleichem Ziel so ganz unterschiedlich waren.

 

Am Morgen stiegen dann alle drei – Vater Martin, Mutter Annegret und Kind Katharina – lachend in den Wartburg. Der Vater pfiff sogar. Die Mutter blickte angestrengt durch die Frontscheibe, der Alkohol wirkte noch immer. Die Fröhlichkeit des gestrigen Abends verflog, sobald sie das Grundstück der Großeltern verlassen hatten. Die Fassade bröckelte, nur bemerkte es außer Katharina anscheinend niemand. Das Mädchen, das hinten saß, hatte gleich nach der Abfahrt die Augen geschlossen und wünschte sich ganz fest, dass die Eltern sich nicht streiten würden.

 

Vater Martin hatte endlich mit dem Pfeifen aufgehört. Die Mutter Annegret schläft. Ihre Schnarchgeräusche übertönen das Quietschen der Scheibenwischer. Nach einer ganzen Weile öffnet das Mädchen die Augen und blickt hinaus in die Landschaft. Auf einem Straßenschild liest sie, dass es noch achtundvierzig Kilometer bis nach Berlin sind. Leise flüstert sie, mehr zu sich selbst: „Berlin!“ Die Eltern hören das Wort dennoch. Martin und Annegret Juncker wiederholen den Namen der Hauptstadt, und fast scheint es, als würde ein Zauberwort durch das Wartburg–Innere schweben, jedoch hat es für jeden der drei eine andere mehr oder weniger magische Bedeutung.

Schweigend hängen die drei Insassen nun ihren Gedanken und Erinnerungen nach.

Die Frau denkt an ihre Berliner Tante Wilma und daran, wie lieb diese sie vor allem damals im August 1961 umsorgt hatte … Damals, an dem Tag, als sie das langersehnte Kind Katharina Regina Elisabeth zur Welt brachte. Annegret dreht sich um und lächelnd betrachtet sie ihr Kind. Dann schaut sie zu ihrem Mann und ihr Blick verfinstert sich. Ja, damals an diesem geschichtsträchtigen Tag, als die Mauer plötzlich da war und das Kind eben auch – zwei Wochen zu früh. Zu früh für Martin und seine Pläne … Das Kind sollte in Berlin zur Welt kommen – nur eben an einem anderen Tag und in einem anderen Teil der Stadt. Damals begann Martin sie, seine Frau Annegret, endgültig zu hassen – nach sieben Jahren Ehe.

Katharina erinnert sich an die letzten Herbstferien, die sie mit der Mutter bei Tante Wilma verbrachte und daran, dass die Mutter keinen einzigen Tropfen Alkohol getrunken hatte. Was waren das für schöne Stunden gewesen! Das Kind schließt nun auch die Augen und ist in Gedanken mit der Mutter in der Achterbahn im Plänterwald und sie schreien vor Glück und ein wenig auch vor Angst, als die Fahrt hinabgeht und wieder hinauf …

Und Martin, der Vater und Ehemann, ist voller Groll, wenn er sich zurück an jene Tage im August ‘61 erinnert. Alles, aber auch wirklich alles war anders gelaufen, als es geplant gewesen war. Hasserfüllt blickt er kurz zu seiner Frau.

Aber Berlin hatte seinen Zauber nicht verloren und irgendwann, irgendwann würde er Berlin für sich erobern. Berlin, Westberlin!

Plötzlich beginnt Martin laut zu singen, nein, eher zu grölen: „Ich habe noch einen Koffer in Berlin, deswegen muss ich da nächstens wieder hin …“ Weiter kommt er nicht. Die Frau schreit ihn an, er solle den Mund halten. Katharina, die den Vater von ihrem Platz gut beobachten kann, sieht, dass er nun wieder sein breites, böses Lächeln zeigt. Das Mädchen zieht ihren Teddybären höher vors Gesicht – so hoch, dass sie den Vater zwar weiterhin sehen kann, er sie jedoch nicht. Die Mutter ist nun richtig wütend geworden: „Du und noch einen Koffer in Berlin? Ha, das wüsste ich ja wohl. Der Zug ist weg.“ Dann lacht sie, aber es klingt ebenso fürchterlich wie der Gesang des Vaters – jedenfalls in den Ohren des Mädchens. Noch fester schließt das Kind die Augen und hofft, dass wieder Ruhe einkehrt.

„Sei still, das Kind schläft“, hört Katharina den Vater sagen.

„Na und, das ist mir egal. Soll sie ruhig hören, dass du deine Pläne noch immer nicht aufgegeben hast.“

„Halt den Mund!“

„Tja, mein Lieber, damit habe ich dich in der Hand. Sag’ ich es weiter, bist du erledigt.“ Bremsen quietschen. Abrupt hält der Wagen.

„Du bist tot, wenn du nicht das Maul …“ Mehr sagt der Mann nicht, er hat bemerkt, dass Katharina zuhört. Dem Kind war der Teddy vor Schreck aus den Händen gefallen. Martin fährt jetzt schweigend weiter.

Am liebsten hätte das Kind geweint, aber Katharina hatte gelernt, Tränen nicht vor den Eltern zu zeigen. Katharina hat die Augen ganz fest geschlossen, sie tastet nach ihrem Plüschtier und versteckt in dessen Bauch ihr Gesicht.

Immer wieder grübelt sie, was die Mutter wohl wissen würde. So offen hatte Mama sich doch noch nie gegen den Papa geäußert. Dass der Vater der Mutter drohte, das war nicht neu, aber auch er hatte so etwas noch nie gesagt. Was gab es, das Katharina nicht wusste? Nicht wissen durfte!

Irgendwann war das Mädchen doch eingeschlafen. Laute, grässliche Worte wecken sie erneut. Wieder drohen die Eltern einander, wünschen sich gegenseitig den Tod.

„Ich muss mal“, flüstert das Kind nun leise in diese bedrohliche Stimmung hinein und plötzlich sind die Eltern wie verwandelt. Scheinbar ist ihre Auseinandersetzung beendet. Vor einem Gasthof hält der Mann. In einen fast freundlichen Ton bittet er nun seine Frau nachzusehen, ob drinnen wohl drei Plätze für sie sind. Es sei doch eine gute Gelegenheit, hier gleich zu Abend zu essen, meint Martin. Wenige Augenblicke später winkt Annegret ihre Familie hinein in das Gasthaus.

Während Katharina sogleich auf die Toilette läuft, folgt ihr Vater der Mutter in den verräucherten Gastraum. Als auch das Kind am Tisch sitzt, kommen bereits die Getränke. Für den Vater ein Bier, vor die Mutter und Katharina stellt der Kellner je eine Cola. Gerade als das Mädchen sich zu freuen beginnt, bringt der Wirt jedoch noch zwei Gläser Weinbrand. Martin schiebt seins sogleich zu seiner Frau. Dann essen sie Bauernfrühstück und eine Stunde später verlässt die Familie die Gaststätte. Annegret hat nach den beiden Gläsern Weinbrand noch zwei weitere geleert. Der Vater ordnet nun an, dass Katharina vorne sitzen soll.

 

Je weiter sie nach Norden kommen, desto stärker wird der Schneefall. Ihr Zuhause ist schon fast in greifbarer Nähe. Plötzlich biegt Martin Juncker von der Straße ab und fährt in den Wald hinein. Der Wartburg ruckelt hin und her.

„Martin, warum schaukelt der Wagen so“, fragt die aus ihrem Schlaf gerüttelte Ehefrau. Der Angesprochene blickt böse und wortlos in den Rückspiegel. Es hätte ohnehin keinen Sinn zu antworten, deshalb unterlässt er es. Soll er dieser versoffenen Schachtel, wie er seine Frau im Stillen nennt, erklären, dass er in der Ferne ein Blaulicht auf der Chaussee gesehen hatte und eine Verkehrskontrolle ihm nicht gefallen würde? Und sollte er sich jetzt auf eine Diskussion mit seiner Frau darüber einlassen, dass das Befahren dieses Weges eigentlich nicht gestattet ist? Die betrunkene Annegret schläft auch längst wieder und furzt und schnarcht vor sich hin. Und Martin? Der beginnt, leise ein Lied zu trällern. Katharina beobachtet ihren Vater ungläubig. So ausgelassen, so froh gelaunt, hätte sie ihn jetzt nicht erwartet. Wenn sie nur wüsste, worüber die Erwachsenen im Haus der Großeltern im fernen Elbsandsteingebirge gesprochen hatt…

BUMS!!! Der Wartburg scheint zu hopsen. „Maaaartin, was ist los?“, quäkt nun erneut Annegret.

„Nichts“, schreit Martin, „ein Wildschwein ist vors Auto gelaufen.“

Katharina lacht laut gackernd und prustend auf. „Ein Wildschwein auf einem Fahrrad…“ Weiter kann sie nicht reden. Hart trifft sie der Handrücken ihres Vaters mitten im Gesicht. Sofort beginnt ihre Nase zu bluten. Der Mann öffnet, ohne Katharina zu beachten, die Fahrertür und steigt aus. Er geht vor den Wagen, blickt prüfend die Front des Wartburgs ab. Kurz schaut er links neben den Wartburg auf das dunkle Etwas dort im weißen Schnee. Für einen Moment zögert er. Katharina und Annegret bemerken nichts von dem, was er tut – die eine aus Angst vor einem erneuten Schlag, die andere ist zu betrunken. Dann bückt sich der Mann, hebt etwas auf, steckt es in die Jackentasche und kommt zurück. Als er wieder sitzt, herrscht der Mann das verängstigte, blutende Kind an: „Halt ja das Maul! Wenn du noch irgendetwas dazu sagst …“ Einen Moment schweigt er – wahrscheinlich, um sich zu beruhigen: „… wenn du jemals etwas darüber sagst, dann bist du tot! Mausetot!“ So, wie Martin Juncker seine Tochter in diesem Moment ansieht, steht außer Frage: Er würde sie töten. „Hast du das verstanden?“, fragt er noch einmal scharf nach. Katharina nickt verstört und rutscht so unauffällig wie möglich vom Vater weg. Ohne weitere Worte zu verlieren, legt der Mann den Rückwärtsgang ein, fährt ein paar Meter, dann wendet er. Wie ein Verrückter rast Martin Juncker zurück zur Chaussee. Nun biegt er nach links in die Richtung, aus der sie vorhin gekommen waren, um nach ein paar Kilometern über eine andere Landstraße zu ihrem Ziel zu kommen.

Der Schnee fällt in immer dichteren Flocken. Den Mann scheint das sichtlich zu erfreuen. Katharina läuft noch immer etwas Blut aus der Nase, Tränen kullern über ihre schmerzverzerrten Wangen. Sie spricht nichts, sie denkt nichts, sie ist wie leer. Verkrampft hält sie sich das nasse blutrote Taschentuch vor die Nase.

Und es schneit und schneit. Riesengroße dicke weiße Flocken fallen sanft vom Himmel auf die Erde hinab. Auch auf das Fahrrad, das Katharina ganz deutlich gesehen hat.

Plötzlich bremst der Vater. Verwundert und zugleich völlig verängstigt, blickt das Mädchen den neben ihm Sitzenden an. Der Vater klopft scheinbar freudig auf das Lenkrad. Urplötzlich gibt Martin Juncker Gas. „Haltet euch fest …“, hört Katharina ihn noch brüllen, da gibt es schon einen gewaltigen Aufprall. Dann herrscht Stille. Totenstille!

Als Katharina kurz zu Bewusstsein kommt, liegt sie auf einer Trage. Die Sanitäter bringen sie zum Krankenwagen, als sie den Vater bei einem Polizisten erkennt. Das Kind nimmt aber nicht mehr wahr, wie der Vater auf den Uniformierten einredet: „Genosse Unterleutnant, ich habe meine Frau und mein Kind aus dem Wagen geholt und eine Notversorgung vorgenommen. Ich habe meiner Frau zur Beruhigung einen Becherovka geben wollen und dann habe ich selber einen kräftigen Schluck genommen, als ich bemerkte, dass sie tot …“ Er schweigt und tatsächlich rollen dicke Tränen über sein Gesicht. Martin spielt seine Rolle gut. Noch immer hält er die grüne Flasche in der einen Hand. Mit der anderen stützt sich der große und athletisch gebaute Dr. Martin Juncker am Polizeiauto ab. Das Kind ist längst im Krankenwagen. Der Arzt darin streichelt dem Mädchen beruhigend über die Wange. Sekunden später steigt er aus und geht auf deren Vater zu. „Mensch, Martin, es tut mir so leid.“ Er klopft Juncker auf die Schulter und ruft dann zu dem Polizisten, der über Annegret Junckers Leichnam steht, hinüber: „Genosse Lenz, haben Sie das nicht verstanden? Seine Frau ist tot. In so einer Situation kann man froh sein, wenn man“, kurz unterbricht er sich und zeigt auf zwei am Straßenrand liegende verendete Wildschweine, „ja, wenn man bei dem Schwein einen Schnaps bei sich hat.“

„Ist ja schon gut, Herr Doktor. Sie wissen doch, ich muss das alles fragen.“ Er hebt die Hand an die Uniformmütze und verabschiedet sich stumm.

Der Arzt nickt. Martin Juncker steigt mit in den Rettungswagen, in dem seine Tochter liegt. Die Tränen hat der Mann längst abgewischt. Sie haben ihren Zweck erfüllt. Annegret, seine Frau, seine verstorbene Frau, liegt noch immer auf der Straße, mit einer Plane abgedeckt. Neben ihr befindet sich ein kleines orangefarbenes Plasteteilchen, das Martin Juncker aus der Jackentasche gefallen war, als er sich theatralisch ein Taschentuch herauszog, um sich die Tränen abzuwischen. Der Unterleutnant nimmt das Teil an sich.

 

Als der Krankenwagen sich in Bewegung setzt, sieht Martin noch einmal zurück zur Unglücksstelle und ein leichtes Lächeln umspielt seinen Mund. Dann dreht er sich zu seinem Kind, das gerade wieder für einen winzigen Moment die Augen geöffnet hat.

„Mein armer, kleiner Liebling, da ist uns doch wirklich so eine blöde Wildschweinrotte ins Auto gelaufen. Aber darüber wollen wir gar nicht mehr reden, sonst kannst du das gar nicht vergessen.“ Sein Blick ist böse und drohend und passt so gar nicht zu der freundlichen Stimme. Aber das ist egal, ihm hört doch niemand zu. Das Kind hat längst wieder das Bewusstsein verloren und als es am nächsten Morgen im Krankenhaus erwacht, hat es alles vergessen. Es scheint, als wäre der gestrige Tag vollkommen aus seinem Gedächtnis gelöscht. Martin ist es recht und er wird alles unternehmen, damit es auch so bleibt.

2.

Lange bleibt das Kind im Krankenhaus. Schulter- und Armbruch sind schnell diagnostiziert worden, ebenso wie die Gehirnerschütterung und der Nasenbruch. Durch den Aufprall war Katharina mit dem Gesicht frontal an die Scheibe geknallt, dadurch war die Verletzung durch den Vater auch nicht mehr erkennbar. Das blutdurchtränkte Taschentuch war auf der Beifahrerseite in dem Schrottauto zurückgeblieben, es hatte niemanden interessiert. Der Nasenbeinbruch gehört mit zur Unfallverletzung. Darauf, dass das auch so in den Unterlagen festgehalten wird, hat der Mediziner Dr. Martin Juncker peinlichst geachtet.

 

Fast täglich radelt die Großmutter Elisabeth Pannfisch aus dem kleinen Fischerdorf Grünhagen in die Stadt und besucht Katharina. Der Großvater Johann kommt an jedem Sonntag mit.

Wo nur die Mutter bliebe, will Katharina eines Tages wissen. Nach langem Zögern erzählt die Großmutter dem Kind, dass die Mutter nie mehr kommt: „… der Unfall. Erinnerst du dich denn gar nicht?“ Das Kind schüttelt den Kopf, weint kurz, dann reißt es sich zusammen. In Katharina ist etwas zerstört, zerbrochen, aber das kann sie nicht erklären – weder sich noch irgendjemand anderem. Die Großmutter selbst ist zu sehr gefangen in ihrem Schmerz, in ihrem Kummer über den Verlust ihres einzigen Kindes, ihrer Annegret. Sie bemerkt nichts.

 

Martin hatte auf eine schnelle Beerdigung gedrängt und dann war er fort. Er ließ sich immer entschuldigen. Er hat so viel zu tun. Katharina ist es egal, sie sehnt sich sowieso nicht nach ihm.

Am Ostersonntag aber erscheint der Vater sogar mit seinen Eltern, die extra aus dem sächsischen Elbsandsteingebirge angereist sind, im Krankenhaus. Kurz nach deren Ankunft treffen auch die anderen Großeltern ein. Die Blicke der Erwachsenen sind eisig. Katharina spürt, dass etwas nicht stimmt, dass sozusagen Etwas in der Luft liegt.

 

Solange Katharina lebte, war es nie zu einem Zusammentreffen der beiden Großelternpaare gekommen. Das erste und letzte Mal hatten sich die beiden Elternpaare auf der Hochzeit von Martin und Annegret im Sommer 1954 kurz vor dem Beginn ihres zweiten Studienjahres in Berlin getroffen. Und weil die beiden Liebenden es so wollten, heirateten sie in der Stadt ihrer unendlichen, einzigartigen Liebe – in Berlin.

Es soll gewaltig geknallt haben auf der Hochzeit, denn Martins Eltern, also eigentlich nur seine Mutter, waren gegen die Fischertochter aus dem Norden, auch wenn Annegret wie ihr eigener Sohn Medizin studierte und sogar bessere Noten hatte. Andersherum war Johann, der Fischer aus Grünhagen an der Ostsee, gegen den sächsischen Intelligenzlersohn aus Frohntal.

Aber was kümmerte das damals Martin und Annegret? Sie liebten sich und schworen sich ewige Liebe und Treue. Es war nicht viel geblieben von den gemeinsamen Schwüren und Träumen.

 

Nun stehen die Großeltern also an Katharinas Bett und werfen einander Blicke zu, die, wären es Pfeile gewesen, zu tödlichen Verletzungen geführt hätten. Lange schweigen sie sich an. Regina Juncker, Martins Mutter, kann dann nicht länger an sich halten. Etwas ungestüm drückt sie ihr einziges Enkelkind an sich, nicht auf den Schmerz achtend, den das Kind durch diese Umarmung erleidet. Regina zwinkert Martin von den Anderen unbemerkt zu, nun platzt es aus der sächsischen Großmutter heraus: „Noch drei Wochen und dann kannst du dein schönes großes Zimmer beziehen. Es wird dir bei uns gefallen.“ Schweigen. Plötzlich schreit Elisabeth Pannfisch, die Frau des Fischers, dass sie das nicht zulassen würde. Die anderen Besucher in dem Krankenzimmer bitten um Ruhe. Endlich räuspert sich Martin, erwartungsvoll blicken die Schwiegereltern und Katharina ihn an. „Ja, also, Katharina, wir ziehen nach Frohntal, also ich wohne schon dort …“ Weiter kommt er nicht. Der Fischer-Großvater Johann greift dem Schwiegersohn mit der linken Hand über das Bett von Katharina ans Jackett-Revers und will schon mit der rechten Hand ausholen, als eine Krankenschwester den Raum betritt. Sofort lässt der Großvater los. „Was ist denn hier los, Herr Doktor Juncker?“, fragt die junge Frau Martin. Dem ist das Blut anscheinend aus dem Kopf gewichen. Blass und wortlos steht er da – unfähig, eine Erklärung abzugeben. Dafür hat Johann Pannfisch sich wieder gefasst.

„Ist schon gut, Schwester. Wir gehen.“ Dann gibt er Katharina einen Kuss, fordert seine Frau Elisabeth auch auf, sich von der Kleinen zu verabschieden. An der Tür dreht er sich noch einmal um. „Atschüß ok, min lütten Deern.“ Im Hinausgehen murmelt er seiner Frau zu, dass in den nächsten drei Wochen noch so viel geschehen könne. Dann zieht er hinter seiner weinenden Elisabeth die Tür zu. Weder die Hinausgegangenen noch Katharina ahnen, dass dies ein Abschied für lange, sehr lange Zeit werden würde.

 

Bevor Katharina so richtig begreift, worum es ging, hatten sich die sächsischen Großeltern wieder ihrer angenommen und erzählten und erzählten. Also eigentlich erzählte nur die Großmutter Regina. Walter, der Großvater, schwieg wie meistens. Nach einer Stunde trat Martin Juncker erneut an das Bett seiner Tochter heran, das Mädchen hatte gar nicht bemerkt, dass auch er den Raum verlassen hatte. Obwohl sich jetzt nur die vier Personen in dem Krankenzimmer befanden, flüsterte Martin, dass sie in einer halben Stunde das Krankenhaus verlassen würden. Er verkündete diese Nachricht, als hätte er sie schwer erkämpfen müssen. Walter Juncker nickte stumm, auf seine Meinung legte ohnehin niemand Wert und Regina strahlte übers ganze Gesicht. Stolz nickte sie ihrem Sohn zu und der zwinkerte vielsagend zurück.

„Schlafen wir dann heute noch bei Oma Eli und Opa Jo“, wollte das Mädchen aufgeregt wissen. Der Vater schüttelte heftig den Kopf. In diesem Moment begriff Katharina, dass er andere Pläne hatte. Ihr war klar, dass sie schon jetzt fortmusste – ohne Abschied. Martin Juncker hatte seine Schwiegereltern absichtlich getäuscht – nicht zum ersten Mal.

 

Klaglos fuhr das Mädchen noch an diesem Abend mit dem Vater und den Großeltern ins Elbsandsteingebirge, nach Frohntal. Alles, wirklich alles war ihr fremd.

Gemeinsam mit dem Vater wohnte sie fortan im riesigen Haus der Großeltern, in der Villa – wie die Großmutter stets betonte.

Der Großvater hatte seine Arztpraxis im Haus und die Großmutter anscheinend nichts weiter zu tun, als den ganzen Tag mit irgendwelchen Patienten zu reden oder sich mit Leuten in der nahen Bezirksstadt zu treffen. Sie nahm sich sehr wichtig.

Im Haushalt rührte sie keinen Finger. Die ganze Arbeit machte Lina, die zum Juncker-Haushalt dazugehörte wie das Elbsandsteingebirge zu Sachsen und sie war auch die Einzige, die sich ernsthaft bemühte, Katharina wieder Freude am Leben zu geben.

Drei Wochen nach ihrem unfreiwilligen Umzug besuchte das Mädchen zum ersten Mal ihre neue Schule. Katharina war still und in sich gekehrt geworden. Selten sah irgendjemand sie lachen. Sie lernte fleißig, das war ihre Art. Sie wusste eben längst, dass sie nur über sehr gute Leistungen Aufmerksamkeit erhalten würde – jedenfalls beim Vater und bei der Großmutter.

Einzig Lina findet, wenn sie beide allein und unbeobachtet sind, ein nettes Wort, streichelt dem Kind übers Haar. Beide, Lina, die fünfundfünfzigjährige Hausangestellte und das neuneinhalbjährige Mädchen Katharina spüren, dass sie das gemeinsame Schicksal miteinander verbindet und dennoch fällt es beiden zunächst schwer, einander zu vertrauen. Die Angst vor Verrat und Bestrafung ist groß, zu groß. Noch!

3.

Zu Pfingsten schreibt Katharina den ersten Brief an die Großeltern in den Norden, an die Ostsee. Sie teilt ihnen mit, dass sie sie gerne in den großen Ferien besuchen würde. Auch von ihrem schönen Zimmer berichtet sie, von den inzwischen netten Klassenkameraden, von Lina, die so freundlich ist … Nur vom Vater und den Großeltern schreibt sie kein Wort.

Zwei Wochen wartet sie sehnsüchtig auf Post. Nichts! Erneut schreibt sie an die Pannfisch-Großeltern. Katharina berichtet vom ersten gemeinsamen Wandertag mit den Mitschülern, von Lina, die so wunderbar kochen kann. Und sie lässt die Großeltern wissen, wie sehr sie sie vermisst und dass sie ihnen noch so viel zu erzählen hat.

Als Katharina den Brief in den Umschlag steckt und mit der Anschrift der Großeltern versieht, da stellt sie fest, dass sie gar keine Briefmarke hat. Sie holt ihre Geldbörse aus der Schultasche. Leer. Nun erst wird dem Kind bewusst, dass sie seit langem kein Taschengeld mehr bekommen hatte. Seit der Vater nicht mehr daheim in der Villa der Juncker-Großeltern schläft …

Als die Mutter noch lebte, bekam Katharina jede Woche eine Mark. Doch diese Zeit ist lange vorbei. Tränen kullern über ihr Gesicht. In der vergangenen Woche hatte das Mädchen das letzte Geld aus der Spardose genommen, um ihren Pionierbeitrag zu bezahlen. Das Kind wischt nun die Tränen fort. Sie geht hinunter ins Erdgeschoss, wo die Großmutter Regina im Wohnzimmer, das in diesem Hause immer Salon genannt wird, sitzt. Das Mädchen klopft an die Tür, das muss sie immer tun, bevor sie irgendwo eintritt. Mit dem Brief in der Hand wartet sie auf Antwort. Endlich kommt ein schnarrendes „Herein!“ Katharina zögert. Die Tür zur Küche steht offen und ein leises „Tu‘s nicht“ erreicht ihr Ohr. Doch es ist zu spät. Bevor Lina, die Gute, die Küchentür erreicht, um die Warnung zu wiederholen, hat Regina Juncker nun schon fordernder zum Eintreten gerufen. Katharina tritt also ein und bittet, in der Türöffnung stehenbleibend und all ihrem Mut zusammennehmend, die Oma, ihr zwanzig Pfennig zu leihen. Regina Juncker betrachtet das Kind böse, das da an der Tür zum Salon steht und sich nicht traut, weiter einzutreten. „Komm herein und frage mich noch einmal“, sagt Frau Juncker in einem strengen Ton. Als Katharina eine halbe Stunde später den Raum verlässt, schwört sie sich, die Großmutter nie wieder um etwas zu bitten und vor allem, dieser bösen Frau nie wieder ängstlich gegenüberzutreten. Katharina ist traurig und enttäuscht. Von der Großmutter, vom Vater, ja auch von Lina. Diese steht nun auf dem Flur und will dem Kind Trost spenden, Katharina lässt es nicht zu, sie geht, ohne die Frau zu beachten, an dieser vorbei. Oben in ihrem Zimmer weint das Kind – und unten in der Küche Lina.

Als Katharina sich endlich beruhigt hat, die Tränen getrocknet sind, da überlegt sie, was sie nun tun muss. Weder vom Vater noch von den Großeltern, vielleicht nicht einmal von Lina durfte sie Hilfe erwarten. Die Großmutter hatte gesagt, sie wäre undankbar und faul, und wenn sie Geld bräuchte, dann müsse sie eben etwas dafür tun. Und dann hatte die böse Frau erzählt, dass Post aus Grünhagen angekommen wäre: „Ja, es ist ein Glück, dass ich den Brief in Empfang genommen habe. Die Leute sind kein guter Umgang für dich. Wer es im Leben zu etwas bringen will, darf sich nicht mit Jammerpack zusammentun.“

Katharina hatte widersprechen wollen, da hatte Regina sie grimmig angesehen und Ratz-Batz hatte das Mädchen zwei schallende Ohrfeigen bekommen. Der Brief war dann auch vor den Augen des Kindes in winzig kleine Stücke zerrissen worden.

Also überlegt Katharina, was sie tun könnte. Da fällt ihr Blick auf die „ABC-Zeitung“, die auf ihrem Schreibtisch liegt und schon hat sie eine Idee. Mit der Verwirklichung muss das Mädchen allerdings noch einen Tag warten, die Schläge der Großmutter haben Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. So kann das Kind nicht aus dem Haus.

Am nächsten Tag lässt sich Katharina, nachdem sie aus der Schule gekommen ist und ihr Mittag schweigend in der Küche gegessen hatte, vier Beutel von Lina geben. „Kindchen, was willst du denn damit?“, fragt diese.

Katharina antwortet nur kurz: „Geld verdienen!“

Mit den Beuteln in der Hand zieht sie dann los. Schon im Nachbarhaus hat sie mit ihrer Frage: „Haben Sie leere Flaschen und Altpapier für mich?“ Erfolg. Dreimal liefert sie an diesem Nachmittag ihre Sammelbeute beim Altstoffhandel ab.

In jener Woche geht sie noch an zwei weiteren Nachmittagen sammeln. Und Katharina ist sehr erfolgreich, wäre da nur nicht der weite Weg zur Sammelstelle. Als sie zu dem freundlichen alten Mann sagt, dass es schon sehr weit zu ihm wäre, da sieht er sie zunächst fragend an. „Woher kommst du kleine Sammlerin denn“, will er wissen.

„Aus dem Nelkenweg.“

„Tja, Kindchen, von da hat bisher noch niemand gesammelt. Die meisten Leute dort in der Siedlung haben keine Kinder, also keine in deinem Alter. Besorg dir doch einen Handwagen.“ Mit diesen Worten drückt er dem Mädchen ihr Geld in die Hand, sie bedankt sich artig dafür und für den Tipp. Unterwegs überlegt sie, wo wohl ein Handwagen bei den Großeltern stehen würde. Daheim angekommen, will sie von Lina eine Antwort, diese erklärt ihr allerdings, dass es keinen Handwagen gäbe. Sie verrät dem Kind aber, dass der Herr Schmidt, der vier Häuser weiter wohnen würde, ganz bestimmt einen hätte.

Als Katharina das nächste Mal loszieht, klingelt sie als erstes bei Familie Schmidt. Die Frau öffnet und schickt das Kind sofort in den Garten, als sie dessen Frage hört. Katharina findet Herrn Schmidt im Garten bei seinen Kaninchen. Er freut sich, das Mädchen wieder einmal zu sehen. Auf die Frage nach dem Handwagen reagiert er allerdings sehr verwundert. Das wiederum erstaunt das Mädchen und so erklärt sie dem Mann: „Wir haben keinen Handwagen. Das sagt jedenfalls Lina. Und ich kann doch viel mehr Flaschen und Papier sammeln, wenn ich einen …“

„Kindchen, ich habe das schon verstanden. Ich wundere mich nur, dass deine Großmutter dir das erlaubt.“

„Ähm, ja, ähm, also erlaubt hat sie mir nicht, dass ich Flaschen und Papier sammle, aber ich soll mir gefälligst mein Geld für Briefmarken alleine verdienen.“ Die letzten Worte bringt das Mädchen nur noch unter Tränen schluchzend hervor.

„Ilse, komm mal mit Brause nach draußen“, ruft der Mann nun. Wenige Augenblicke später steht die Gerufene mit einer Brause in der Hand bei den beiden.

„Was ist denn los?“ Herr Schmidt nimmt Katharina an die Hand und geht mit ihr zur Laube, seine Frau Ilse folgt den beiden.

„So, Katharina, nun erzähle noch einmal in aller Ruhe. Du brauchst keine Angst zu haben, wir sprechen nicht mit deiner Großmutter.“ Er redet so verständnisvoll und die beiden Eheleute wirken auf Katharina so vertrauenswürdig, da offenbart sie ihnen ihren ganzen Kummer, der auf ihrer kleinen Kinderseele liegt.

Als das Kind nach einer halben Stunde fertig ist, die Tränen getrocknet sind, da sitzen sie alle drei schweigend da. Hubert Schmidt und seine Frau Ilse können, nein, sie wollen nicht wirklich glauben, was sie da gerade gehört haben. Für das ehemalige Lehrerehepaar steht aber sofort fest: Wir müssen dem Kind helfen!

Ilse hat sich als Erste wieder ganz im Griff. „Katharina, wir wollen dir gerne helfen. Wichtig ist natürlich, dass du gehorchst und tust, was deine Großeltern dir sagen. Tun sie dir unrecht, dann kannst du aber auf uns zählen.“ Katharina nickt immerzu mit dem Kopf. Sie ist so froh, dass sie endlich einmal ihren ganzen Kummer herauslassen kann.

„Kindchen“, schaltet sich nun Hubert ein, „du kannst deinen anderen Großeltern schreiben und sie dürfen die Antwort an uns senden. Natürlich lesen wir deine Post nicht.“

In ihrer Freude über dieses Angebot springt Katharina hoch und umarmt den Mann. „Das würden Sie für mich tun?“ Der Mann nickt und windet sich vorsichtig, um das Mädchen nicht zu verwirren, aus ihrer Umarmung. „Es ist …“, weiter kommt der Mann nicht. Zu sehr schämt er sich über seine Hilflosigkeit. Aber was soll er tun? Zu Regina Juncker gehen und sie auffordern, die Enkeltochter nicht zu schlagen, ihr Taschengeld zu geben und Liebe …? Die vor allen Dingen. Nein, mit dieser Frau ließ man sich nicht ein. In der Gegend erzählte man hinter vorgehaltener Hand, dass die Junckersche über Leichen gehen würde, wenn man etwas gegen sie unternähme oder nur einfach etwas anderes, als ihr lieb war. Nun ja, das mit den Leichen war schon etwas übertrieben – hoffte er. Aber dass mit der Frau nicht zu spaßen war, das hatten sie ja nun von Katharina gehört.

Das Mädchen blieb noch eine Weile. Dann ging es mit dem Versprechen, auf sich aufzupassen und bald wiederzukommen. Das tat es dann auch – aufpassen und wiederkommen. Das mit dem Wiederkommen hatte sich wenige Monate später leider erledigt.

In der Woche vor den Herbstferien des vierten Schuljahres. Katharina war bei den Schmidts gewesen, um die neueste Post von ihren Ostsee-Großeltern zu lesen und um ein wenig mit ihnen zu plaudern. Gerade, als sie das Grundstück der Eheleute verließ, fuhr Regina Juncker in ihrem dunkelblauen Wolga die Straße entlang. Kaum hatte die Frau das Mädchen entdeckt, da trat sie auf die Bremse. Der Fahrer des hinter ihr fahrenden Trabants konnte gerade noch rechtzeitig sein Fahrzeug zum Stehen bringen. Regina Juncker drehte das Seitenfenster herunter und rief Katharina zu sich. Das Kind winkte der Oma zunächst erfreut zu. Als sie deren wütendes Gesicht sah, ließ sie die Hand jedoch fallen und schlich zum Auto der Großmutter. In der Erwartung einer Ohrfeige stand sie nun an der Fahrertür und blickte die Frau am Steuer, ohne Angst zu zeigen, an. Der Trabantfahrer hupte und forderte von hinten zum Weiterfahren auf.

„Geh sofort nach Hause“, zischte die Frau und nach hinten rief sie: „Ist ja schon gut.“

Sie fuhr dann los und bog nach wenigen Metern auf das Junckersche Grundstück. Katharina blickte zum Haus der Schmidts. Sie wusste, dass die beiden ihr immer nachsahen, doch nun war nur die noch leicht wehende Gardine zu sehen. Katharina winkte dennoch zum Fenster, hinter dem sie die Eheleute vermutete und beeilte sich, zum Haus der Großeltern zu kommen.

Die Haustür stand bereits offen. Lina kam aus der Küche und wollte das Mädchen gleich zu sich holen. Vergeblich ist ihr Versuch, das nun Kommende zu verhindern. Schon brüllt Regina Juncker aus dem Salon nach der Enkeltochter. Katharina schiebt die sie schützen wollende Lina beiseite und geht tapfer ins Zimmer zur Großmutter. Die hat sich inzwischen in der Mitte des Zimmers aufgebaut wie eine Kriegerin. In der rechten Hand hält sie eine Peitsche. Diese gehörte einst ihrem Vater. Er starb, da war sie fünfzehn Jahre alt. Zurück bleibt sie mit der Mutter, der jüngeren Schwester und dem Gestüt. Niemals hatte sie die Peitsche damals benutzt. Wie hätte sie Pferde, diese so edlen Tiere, schlagen können!?

Nun also steht Katharina vor ihr und blickt sie furchtlos an. Das kann Regina Juncker nicht ertragen, so sehr sie sich vorgenommen hatte, das Kind nach dem Grund für ihren Besuch bei Schmidts zu befragen. Es ging nicht! Sie hatte sich so in eine unbremsbare Wut gesteigert, sie peitscht auf das Mädchen ein wie eine Irre – aber immer darauf bedacht, dass keine sichtbaren Stellen getroffen wurden. Nach zwei Minuten war Reginas ganze Kraft aufgebraucht!

„Verschwinde, du undankbares Balg!“, schreit sie Katharina an. Langsam wendet sich das Kind mit dem Rücken zur Tür, immer noch auf einen weiteren Angriff der bösen Frau wartend. Vor der Tür steht Lina mit Tränen in den Augen. Sie drückt das Kind an sich. Stöhnend vor Schmerzen drängt sich das Mädchen an ihr vorbei.

„Es tut mir so leid“, flüstert die gute Lina. Ohne weiter auf sie zu achten, quält sich das Mädchen hinauf in ihr Zimmer. Gerade will sie die Tür hinter sich schließen, da hört sie die Großmutter nach Lina rufen, gleichzeitig wird die Haustür aufgeschlossen. Ein Tuscheln ist zu vernehmen, dann der wiederholte Ruf nach Lina, nun schon in einem sehr scharfen Ton. Kaum hörbar vernimmt das Kind die Worte: „Du musst etwas unternehmen, Walter!“ Katharina schließt vorsichtig ihre Zimmertür, legt sich bäuchlings auf ihr Bett und erst jetzt beginnt sie vor Schmerz und Wut zu weinen.

Wenige Augenblicke später dringt ein leises Klopfen an ihr Ohr. Das Kind reagiert nicht. Die Tür wird dennoch geöffnet. Walter Juncker tritt herein. Ganz zaghaft nähert er sich dem Bett seines Enkelkindes.

„Katharina, mein Engelchen, ich weiß, dass sie dir Unrecht getan hat. Lass mich deine Wunden versorgen“, sagt der dreiundsechzigjährige Mann leise. Er spricht so leise, als hätte er Angst, selbst jeden Moment ein Opfer der Gewalt seiner Frau zu werden. Katharina hebt den Kopf und betrachtet den Großvater. Fast hat sie Mitleid mit ihm, wie er da so gebeugt und furchtsam an ihrem Bett steht. Sie wischt sich die Tränen fort, putzt sich die Nase und hebt vorsichtig ihren Pullover hoch. Sofort sieht der alte Mediziner die blutigen Stellen: „Warte.“ Auf Zehenspitzen schleicht er zur Tür und blickt dann übers Geländer nach unten. „Lina, Lina, komm hoch!“, ruft er der dort Wartenden flüsternd zu. „Bring meine Tasche mit!“, fügt er noch hinzu und kommt wieder leise angeschlichen. Katharina steht unter Schmerzen auf, geht absichtlich laut polternd am Großvater vorbei und schaltet das Licht an. „Dir tut sie doch nichts“, sagt Katharina vorwurfsvoll zu ihrem Opa. In diesem Moment tritt Lina ein, so dass das Kind seine Reaktion: „Wenn du wüsstest“, gar nicht mehr wahrnimmt. Walter und Lina kümmern sich um die Wunden des Kindes. Niemand spricht mehr. Ein Schweigen liegt im Raum, das mehr als die Wunden schmerzt.

4.

Was ist das für eine Freude, als Elisabeth Pannfisch am Pfingstsonnabend einen Brief von Katharina in der Hand hält. Sie kann es gar nicht fassen. Fast hätte sie den Umschlag sofort aufgerissen, doch sie besinnt sich.

Rasch läuft sie zur Fischereigenossenschaft. Schon von weitem sieht sie ihren Mann, der mit den anderen einen LKW belädt. Mit dem Brief wedelnd, ruft sie ganz außer Atem: „Jo, Jo, dor is man een Breif von de Dern.“ Johann Pannfisch drückt die Kisten, die er in den Händen hatte, den nächststehenden Kollegen in die Hände und rennt, so schnell er kann, auf seine Frau zu. Nun sitzen beide auf den Stufen des Genossenschaftsbüros, atmen schwer und zittern beide vor Freude. Mit Tränen in den Augen reißt Elisabeth den Umschlag auf und beginnt ein paar Sekündchen später – immer noch nach Luft schnappend – vorzulesen.

„Liebe Omi Eli und lieber Opi Jo“, steht auf dem linierten Papier in schönster Kinderschrift. Nun kullert auch Johann eine Träne über die Wange. „Läs‘ man wierer“, fordert er seine Frau auf. Glückselig lauschen beide Elisabeths Worten. „Denn gah‘ man na Hus un schrew de Dern man gliek!“, sagt Johann, den inzwischen schon die anderen Fischer rufen. Rasch gibt er seiner Frau einen Kuss auf die Wange und sie gehen nun wieder ihren Beschäftigungen nach.

Wie enttäuscht waren beide jedoch, als auf ihre Post lange keine Antwort kam und wie wütend wurden sie, als sie dann die Gründe für die Verzögerung erfuhren. Am liebsten wäre Johann gleich nach Frohntal gefahren und hätte das Kind geholt. Das ging natürlich nicht, denn schließlich war Martin ihr Vater, ihr Erziehungsberechtigter – auch wenn der sich scheinbar so gar nicht mehr um sein Kind kümmerte.

5.

Wenige Tage später. Elisabeth hat ihren Hausarbeitstag und ist in die Stadt gefahren. Gerade hat sie den Brief an Katharina zur Post gebracht, da betritt sie, wie so oft in den letzten Monaten, das örtliche Polizeirevier.

„Genosse Polizist! Matthias!“

„Oberwachtmeister! Frau Pannfisch, ich bin Oberwachtmei–ster!“

„Ja, das hast du mir schon beim letzten Mal gesagt, Matthias. Ich wollte doch nur wissen …“

„Frau Pannfisch, es gibt nichts Neues. Es tut mir wirklich leid“, erwidert der Polizist und fühlt sich sehr unwohl, kennt er doch die Frau schon aus frühesten Kindertagen. Elisabeth Pannfisch ist und war für alle Kinder in Grünhagen – auch für Matthias Franke – und aus den umliegenden Dörfern die Kindergärtnerin. So viel hatten sie alle bei ihr gelernt. Und später in der Schulzeit hatte Annegret, deren Tochter, sich als FDJlerin liebevoll um die Schulanfänger gekümmert. Und nun? Nun war Annegret tot und ihre Mutter behauptete steif und fest, der Schwiegersohn hätte sie getötet. Wie nur sollte Franke der Frau erklären, dass Annegret durch einen Unfall, einen schrecklichen Unfall, ums Leben gekommen war. Warum begriff sie das nicht?

Sollte er ihr sagen, dass der Tod der kleinen Martina Fritsch, die am gleichen Tag wie Annegret starb, ihn viel mehr beschäftigen würde? Gerade wollte er – er kam nicht mehr dazu. Die Frau drehte sich enttäuscht um und verließ das Polizeirevier. Elisabeth war so niedergeschlagen, so enttäuscht und wütend; sie achtete nicht auf den Verkehr. Fast hätte es ein Unglück gegeben. Unterleutnant Edgar Lenz, der gerade aus seinem Polizeiwagen ausgestiegen war, rannte auf die Frau zu und hielt sie gerade noch rechtzeitig vom Überqueren der Straße ab. Ein LKW fuhr an ihnen vorbei. Erschrocken, aber gleichzeitig dankbar blickte sie den jungen Mann an. „Oh, da hab‘ ich aber Glück gehabt. Vielen Dank, Edgar“, sagte die Frau nun, sah dann nach links und rechts und überquerte vorschriftsmäßig die Straße, ohne auf eine Ermahnung des Volkspolizisten, den sie auch schon seit seinen frühesten Kindertagen kannte, zu warten. Sie wollte nur noch nach Hause. Lenz schüttelte den Kopf und betrat das Polizeirevier.

„Was wollte Frau Pannfisch denn schon wieder?“, fragte er den jungen Genossen. Dieser antwortete: „Genosse Unterleutnant, die Frau kann sich nicht mit dem Tod ihrer Tochter abfinden. Dabei haben wir doch genug damit zu tun herauszufinden, welcher Schweinehund die kleine Martina auf dem Gewissen hat.“

„Genosse Franke, mäßigen Sie sich!“ Der Ermahnte lief rot an, murmelte eine Entschuldigung und war froh, dass in dem Moment einige Kollegen den Raum betraten. Lenz verschwand wenige Minuten später. In seiner Aktentasche befanden sich mehrere engbeschriebene Zettel und ein oranges Blinklichtteil.

6.

Am Abend saßen die Junckers und Lina in Frohntal zum Essen zusammen. Katharinas Wunden, die sichtbaren, hatte Großvater Walter versorgt. Niemand sprach ein Wort. Plötzlich verkündete Regina, dass für Katharina ab sofort das Altstoffe Sammeln verboten sei. Während Lina und Walter wie versteinert dasaßen, grinste das Mädchen vor sich hin. Das entging ihrer Großmutter nicht. Schon wollte sie ihrem Ärger Luft machen, da sagte Katharina leise: „Ich bin ausgezeichnet worden als beste Altstoffsammlerin bei den Jungpionieren unserer Schule.“ Schweigen. „Herr Schubert, unser Direktor, hat einen Brief an Papas Krankenhaus geschrieben, damit die dort auch wissen, wie vorbildlich seine Tochter die Kinder in Vietnam unterstützt. Ich spende nämlich von meinem selbstverdienten Geld …“ Katharina beendete ihren Satz nicht. Stattdessen erhob sie sich – gegen jede Regel, nahm ihr Geschirr und machte sich auf den Weg in die Küche. Bevor sie den Raum verließ, drehte sich das Mädchen noch einmal um und sagte: „Wenn ich nicht mehr sammeln gehen darf, wird das Papa sehr schaden.“ Das Mädchen machte eine kurze Pause, dann holte es tief Luft und fügte mit fester Stimme hinzu: „Und wenn du mich noch einmal schlägst, dann wird das nicht nur Papa schaden!“ Rasch zog sie die Tür hinter sich zu, trug das Geschirr in die Küche, um danach sofort in ihr Zimmer zu laufen. Schnell drehte sie den Schlüssel herum. Mit klopfendem Herzen und schmerzendem Rücken stand sie an der Tür und wartete auf das, was gleich geschehen würde. Es geschah nichts! Jedenfalls nicht oben. Unten im Salon, da schimpfte und zeterte Regina. Walter und Lina saßen wie ungezogene Schulkinder am Tisch, die Gesichter blickten auf die noch immer auf ihren Oberschenkeln liegenden Servietten und schwiegen. Eine gute halbe Stunde ließ Regina ihre ganze Wut heraus. Niemand hörte ihr zu. Die beiden Nichtzuhörer kannten das Theater seit Jahrzehnten.

 

Am nächsten Morgen rief Regina Juncker ihren Sohn Martin im Krankenhaus an. Er bestätigte, dass er tatsächlich ein Schreiben des Schuldirektors erhalten hatte.

„Ist etwas damit nicht in Ordnung“, fragte Martin.

„Alles ist gut. Das Kind hat gestern erst davon erzählt und wir überlegen nun, wie wir sie unterstützen können. Vielleicht sollten wir einen Handwagen kaufen“, flötete Regina heuchlerisch ins Telefon.

„Oh, Mama, du bist wirklich die Beste. Ich bin so froh, dass ihr, also du, dich um Katharina kümmerst. Was sollte ich bloß ohne dich tun?“

„Ach, Jungchen, das ist doch selbstverständlich“, gab sie ihm zur Antwort. Dann versprach Martin, sich um einen Handwagen zu kümmern. Er selbst könne ihn nicht bringen, aber er hätte jemand, der würde in der nächsten Woche bei den Eltern einen Handwagen vorbeibringen. Dann verabschiedeten sich die beiden. Mein Gott, dachte Regina Juncker, dem Jungen kann man auch wirklich jedes Märchen erzählen. Als Dr. Martin Juncker den Hörer auflegte, hatte er ein wenig ein schlechtes Gewissen, weil er sich so wenig um seine Tochter kümmerte und zu genau wusste, dass seine Mutter nicht die liebevolle Großmama war, die sie ihm da gerade wieder einmal vorgespielt hatte.

Es klopfte zaghaft an der Tür, Schwester Carmen trat herein. Martins Gesicht erstrahlte, mit der rechten Hand fuhr er sich durch das Haar. Nun stand er auf und ging der brünetten zierlichen Frau entgegen und küsste sie zärtlich auf die Stirn.

„War das alles“, fragte die Frau lächelnd und sofort gab Martin ihr noch einen Kuss auf den Mund.

„Hast du etwas? Was bedrückt dich, Martin?“

„Ach, ich hatte gerade ein Gespräch mit meiner Mutter.“ Die Fröhlichkeit wich Carmen aus dem Gesicht.

„Carmen, könntest du dir vielleicht doch vorstellen, dass Katharina, dass mein Kind zu uns …?“ Während seiner Frage hatte er seine Arme auf ihre Hüfte gelegt. Die junge Frau schob ihn entsetzt von sich fort.

„Was denkst du dir? Martin, deine Tochter …“ Carmen machte eine Pause, sie rückte nun doch wieder ganz nah an ihn heran, schlang ihre Arme fest um ihn und blickte zu ihm hinauf. Noch bevor sie weiterreden konnte, küsste Martin sie stürmisch.

„Verzeih mir, Liebes, es war töricht, das von dir zu verlangen. Katharina wird mit meinen Eltern schon klarkommen.“

„Ja“, hauchte nun die zwanzigjährige Carmen dem um viele Jahre älteren Martin zu.

 

In den Herbstferien stand plötzlich ein Handwagen auf dem Hof. „Es soll niemand sagen, dass wir nicht die Kinder in Vietnam oder sonst wo unterstützen, hat die Alte gesagt“, flüsterte Lina Katharina ins Ohr, als sie das Gefährt betrachtete. „Guck jetzt nicht hoch, die steht am Fenster und erwartet Dankbarkeit von dir“, fügte die gute Lina noch hinzu. Katharina hätte zu gerne nach oben zur Großmutter geschaut, am liebsten hätte sie der sogar die Zunge herausgestreckt. Sie tat es nicht. Und genau das ärgerte Regina Juncker wahnsinnig.