Impressum

Walter Baumert

Schau auf die Erde – Der Flug des Falken. Gesamtausgabe

Die rebellische Jugend des Friedrich Engels

ISBN 978-3-96521-161-2 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1981 unter dem Titel „Schau auf die Erde“ im Verlag „Neues Leben Berlin“ und gleichzeitig unter dem Titel „Der Flug des Falken“ im Weltkreis-Verlag Dortmund.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Erstes Buch: In Gottes Hand

Erstes Kapitel: Engelsmühle

Die LOKALE GRUPPE zählt zu den kleineren Ansammlungen galaktischer Inseln in der Unendlichkeit des Kosmos. Ihr gehört ein regulärer Spiralnebel mittlerer Größe an mit etwa hundert Milliarden Sonnenmassen, die um das Zentrum rotieren, MILCHSTRASSE genannt. In einem Seitenzweig ihres Systems von Feldsternen, zwischen zwei der weit hinausragenden Spiralarme zieht die SONNE, umkreist von einem Trabantenschwarm, ihre Bahn. Einer der wenigen größeren Planeten dieses Gestirns schimmert bläulich weiß. Seine Parameter verlaufen ziemlich exakt in der Mitte der Sonnenbiosphäre. Es ist dies ein Planet des Lebens, unsere gute Mutter ERDE.

Ende September 1825 lebten hier ungefähr eine Milliarde Menschen. Einer davon war Johann Wolfgang von Goethe, deutschsprachiger Schriftsteller und großherzoglicher Minister, wohnhaft in der thüringischen Residenzstadt Weimar, Am Frauenplan, sechsundsiebzig Jahre alt. Ein anderer hieß Friedrich Engels, manchmal kurz Fritz oder Fritzchen genannt, ältester Sohn eines wohlhabenden deutschen Textilfabrikanten, wohnhaft in Barmen im Wuppertal, Brucher Platz, vier Jahre und zehn Monate alt.

Beide erwachten wie gewöhnlich so auch an diesem Morgen frühzeitig. Der ältere Herr machte sich allerhand Gedanken über den Brief, den er gestern von Cotta erhalten hatte.

Eine vierzigbändige Gesamtausgabe seines literarischen Lebenswerkes will der Verleger herausbringen. Auch wenn man es nicht wahrhaben möchte, es geht, geht auf das Ende zu! Und noch immer liegt der zweite Teil des „Faust" unfertig da. Noch immer ist keine Antwort gefunden auf die letzte Frage, vielleicht die einzige, die des Nachdenkens wirklich wert war, die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens. „Das Göttliche, das im Menschen zum Bewusstsein seiner selbst gelangt", behauptet Hegel. Wie leicht es doch ein Philosoph hat, mit dem Grundproblem fertig zu werden. Er nimmt sein eigenes Denken als Urgrund und baut den Kosmos darauf. Ein Dichter aber kann sich nur an das Lebendige halten ... Du sollst die Option haben, Cotta, für die siebzigtausend Taler, die du bietest. Aber den zweiten Teil des „Faust" bekommst du erst am Tag nach meinem Tod, so das Schicksal mir die Kraft und die Frist lässt, ihn zu vollenden.

Soweit einige Überlegungen Goethes an diesem Spätsommermorgen. Wir lassen ihn nun mit seinen Gedanken allein und wenden uns dem Jüngeren zu, der noch weit davon entfernt war, moralische Betrachtungen über Sinn und Wert eines menschlichen Lebens anzustellen.

Seine Welt war ein einheitliches Ganzes, innig verschmolzen mit der eigenen Person. Sie bestand aus seiner Mutter, dem Vater, seinen beiden jüngeren Geschwistern Hermann und Marie, aus Ulrike, seiner Amme, und Fräulein Henriette sowie einer Vielzahl weiterer Personen, die kamen und gingen und von denen die bei Weitem wichtigste Opa aus Hamm war. Sie bestand aus dem weitläufigen Elternhaus, in dem es eine Unmenge von Zimmern, Fluren, Treppen, Nischen und noch nicht vollständig ergründeten dunklen Boden- und Kellerräumen gab. Sie bestand aus einem unendlich großen Garten, das Engelsbruch genannt. Nach drei Seiten hin war der Garten eingeschlossen von einer Vielzahl von Bauwerken aller Art. Neben dem eigenen Haus standen die stattlichen Wohnhäuser Onkel Caspars, Onkel Augusts, Onkel Snethlages, eine unübersehbare Menge kleinerer Gebäude, Pferdeställe und Schuppen, in denen Kutschen standen, neue, glänzende und alte, mit rostigen Radnaben und verstaubten Polstern, dazwischen lustige, bunte Fachwerkhäuschen, in denen lauter äußerst freundliche Leute wohnten. Nach der vierten Seite hin, zur Wupper zu aber war der Garten abgeschlossen von einer hohen Mauer. Dahinter spielten sich die erstaunlichsten Dinge ab, von denen noch zu sprechen sein wird, weil sie Friedrich lange und oft beschäftigten.

Über dem Ganzen schien die Sonne, nur manchmal von Wolken bedeckt, von Gewittergüssen und traurigen Regentagen unterbrochen. Doch die Sonnentage waren vollgestopft mit wunderbaren Erlebnissen und tausend Neuentdeckungen. Und in jeden dieser nicht enden wollenden Tage wurde der Junge frühmorgens mit dem ersten glücklichen Augenaufschlag aufs Neue hineingeboren.

 

Draußen hat schon der neue Tag begonnen. Die Morgensonne ist da. Durch die Ritzen der Fensterläden dringt sie, wirft lustige leuchtende Streifen an die Wand über der Zimmertür. Onkel August sagte gestern beim Tee zu Mama: „Einen so langen Sommer gab es noch nie.“ Ja, schön ist der Sommer. Im Garten duftet es nach Honig und herbem Laub. Im Gebüsch summt und brummt es. An den hohen Apfelbäumen stehen Leitern, die man hinaufklettern kann. Vogelschwärme umschwirren die Dächer. Auf der Wiese lagern große weiche Heuhaufen, in denen es sich wohlig herumwälzen lässt. Ein langer, langer Tag liegt vor mir. Ich freue mich!

Friedrich brauchte keinen Übergang, um den Schlaf abzuschütteln. Aus der schemenhaften Welt verwirrender Träume wechselte er schlagartig in die Wirklichkeit über mit einer Überfülle von lebensprallen Bildern und abenteuerlichen Plänen.

Ob ich heute wieder den langen Weg zwischen den Rosenbeeten hindurch, an den Stachelbeeren und den Apfelbäumen vorbei zur Schule gehe? In das Klassenzimmer, wo Cousin Karl sitzt, kann man vom Garten aus hineinschauen. Jetzt im Sommer stehen die Fenster weit offen, und ich kann hören, was Herr Priester erzählt. Noch lustiger ist es, wenn Herr Priester sein Schläferchen macht. Dann machen die Schüler allerhand Faxen, kommen ans Fenster, und es geht sehr lustig zu. Tante Julie sagt: „Der Priester trinkt. Karl lernt nichts in der Klippschule, aber wir können uns keinen Hauslehrer leisten. Wegen der Handelskrise.“

Ob Onkel Caspar arm ist? - Nein. Die Armen sehen anders aus. Sie haben meistens eine Mütze in der Hand. Nicht nur in der Kirche. Hinter der Mauer in unserer Fabrik arbeiten sie. Oder sie müssen betteln gehen. Sie sind immer „hungrig“. Ich habe auch oft Hunger, aber ,»hungrig“ bin ich nicht. Auch Kinder haben die Armen. Viele, viele Kinder. Ob die auch schon „hungrig“ sind? Jedenfalls sind sie krank. Leider. Deshalb darf ich nicht mit ihnen spielen, weil ich sonst auch krank werde und sterbe, wie früher einmal beinahe. Aber das ist eine alte dunkle, fast vergessene Geschichte.

Nein, ich möchte nicht sterben. Es ist herrlich, auf der Welt zu sein! Nicht immer. Nicht, wenn Ulrike abends die Lampe so früh ausdreht, statt noch eine Geschichte zu erzählen. Schön sind Ulrikes Märchen, leider immer dieselben. Mama erzählt jedes Mal neue. Aber sie kommt nur sonntags ans Bett. Die allerbesten Geschichten kennt Opa. Warum lebt er so weit weg? Er könnte doch dauernd bei uns in dem riesengroßen Haus wohnen und jeden Abend eine Geschichte erzählen.

Es war noch still im Haus. Immer wenn Vater verreist war, blieb es lange still im Haus. Ob er einfach aufstand? Ulrike war bestimmt schon wach und arbeitete in der Küche. Er könnte sagen, dass er Hunger habe. Dann machte sie ihm eine Schnitte. Aber sie erzählte es vielleicht Mama. Und die schimpfte, weil es verboten war, vor dem Gong aufzustehen, denn ein Kind brauchte seinen Schlaf. Er wollte schnell groß werden. Dann konnte er aufstehen, wann er wollte, und brauchte überhaupt nicht mehr ins Bett zu gehen.

Warum schlief Mama bloß so lange? Friedrich wurde fast ärgerlich. Da fiel ihm ein, dass seine Mutter kränklich war in letzter Zeit. Es war schon einmal so mit Mama. Vor langer, langer Zeit. Und plötzlich schenkte uns der Herrgott Marie.

Friedrich lachte in Gedanken an das Schwesterchen. Er dachte daran, wie drollig es aussah, wenn die Kleine durchs Zimmer trapste. „Itz“, sagte sie zu ihm, weil sie das „Fr“ noch nicht sprechen konnte. Ob uns der Herrgott wieder ein Schwesterchen schenkt?

Da waren seine Gedanken schon im Garten. Ob es wahr ist, dass man klein bleibt, wenn man nicht lange genug im Bett liegt? Einmal, ein einziges Mal kann bestimmt nicht schaden! Ich muss nur leise die Treppe hinunterschleichen, vorsichtig an der Küchentür vorbei, durch den Salon, über die Veranda. Nur bis zum Pferdestall. Dem Pegasus ein paar Büschel frisches Gras ins Maul. Der Lotte um den warmen Hals gefasst. Bloß ein paar Minuten, dann rasch wieder zurück ins Haus. Heimlich die Treppe hinauf.

Der Entschluss war gefasst: Raus aus dem Bett! Es würde niemand bemerken. Es konnte niemand bemerken. Schon hatte er die Hose angezogen. Da stutzte er: Oder doch? Der EINE. Der alles weiß. Alles sieht. - Ach was. ER wird doch auch mal wegsehen. Oder schlafen wie Mama. Oder mal einnicken wie Herr Priester.

Als Friedrich, nass vom Wiesentau, mit einem Arm voll gerupften Grases in den Pferdestall kam, da geschah es. Vor ihm stand - der liebe Gott!

Es war ein hochgewachsener alter Mann mit einem langen, weißen Bart, einer hohen Stirn, veilchenblauen, etwas verschwommenen Augen in einem blassen, länglichen Gesicht, die Augenbrauen ein wenig umdüstert, das Haupthaar in der Mitte gescheitelt und zu beiden Seiten bis auf die Schultern herabwallend. Er trug einen langen, bräunlich getönten Mantel, mit einer dicken weißen Kordel umgürtet.

Oh, Friedrich wusste genau, wie der liebe Gott aussah! Nicht umsonst hatte er in der Kirche seinen Platz genau gegenüber dem großen Wandgemälde „Die Schöpfung“, auf dem ER dargestellt war, schwebend zwischen Himmel und Erde, mit ausgebreiteten Armen, segnenden Händen, unter denen unten auf dem Erdrund lauter Bäume, bunte Blumen, drollige Schafe, kecke Vögel zu sehen waren und ein einziger Mensch einsam herumspazierte. Viele Stunden hatte Friedrich damit zugebracht, sich dieses Bild bis in jede Einzelheit einzuprägen, besonders den himmlischen Vater selbst. Dieser hier glich ihm aufs Haar.

Ihm kamen Bedenken. Der alte Mann vor ihm war erstens kleiner und wirkte allzu menschlich. Zweitens: Wie kam er von seinem Wolkenthron herunter in den Pferdestall?

„Bist du der liebe Gott?“, fragte Friedrich, um sich Gewissheit zu verschaffen.

Der alte Mann wunderte sich. „Wie kommst du denn darauf, Junge?“

„Weil du genauso aussiehst.“

Der Alte strich sich verlegen den Vollbart. „So? Sehe ich so aus:“

Friedrich nickte.

Der Alte schüttelte den Kopf. „Ich bin es trotzdem nicht.“

„Wer bist du denn dann? Ich habe dich noch nie gesehen.“

Der alte Mann war näher gekommen. „Wer bist du denn?“, fragte er zurück.

„Mich kennt hier jeder. Ich bin der Fritz und wohne dort drüben.“

„Aha“, erwiderte der Fremde und streckte Friedrich seine Hand hin. „Ich bin Vater Rostand.“

Friedrich betrachtete ihn mit unverhohlener Neugier. Er hatte schon gehört vom Vater Rostand, der seit unerdenklichen Zeiten in dem seltsamen Gemäuer am Wupperwehr wohnte, in dem es geheimnisvoll stampfte und brauste, der sich nur selten unter die Menschen mischte, aber mit äußerster Zuverlässigkeit die Wasserkraft für die Fabrik besorgte. Friedrich wusste zwar nicht, was das war, „die Wasserkraft“. Aber, dass es etwas Bedeutendes und Großartiges war, stand fest. Karl, sein älterer Cousin, hatte sie schon gesehen und ihm eine zwar verworrene, aber deshalb nicht weniger beeindruckende Beschreibung davon gegeben.

„Was machst du hier im Pferdestall?“, fragte Friedrich.

„Ich spanne die Lotte vor den Wagen draußen, auf dem ein neues Zahnrad für die Mühle liegt.“

„Kann ich dir helfen?“

„Wenn du willst.“

Friedrich warf voll Freude sein Gras beiseite. Vergessen war Pegasus. Er durfte die Lotte auf die Straße führen und beim Anschirren zufassen.

Noch einmal stutzte er. „Du bist auch wirklich nicht der liebe Gott?“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Ganz bestimmt nicht. Ich schwöre es dir!“

Friedrich glaubte es und wagte nun, seinen größten Herzenswunsch auszusprechen. „Nimmst du mich mit zur Mühle?“

„Warum nicht, wenn es deine Mutter erlaubt.“

Friedrich jubelte. „Ich frage sie.“

Wie der Blitz rannte er zum Haus zurück. Doch in der Veranda stockte er. Alles war still. Der Gong hatte noch nicht getönt! Mama schlief. Selbst wenn er sie wecken würde. So wie er dastand, nicht gewaschen, ohne Frühstück - hoffnungslos. Allerhöchstens versprechen würde sie ihm, dass Vater, wenn er aus Paris zurückkäme und einmal Zeit hätte, ihm die Mühle zeigen würde. Dabei blieb’s dann. Unsagbar traurig kehrte Friedrich zu Vater Rostand zurück. Als er beim Wagen ankam, liefen ihm Tränen über die Wangen.

Vater Rostand streichelte seinen Kopf. „Deine Mutter hat es also nicht erlaubt.“

Friedrich stammelte: „Hab sie nicht gefragt. Sie schläft noch.“

Vater Rostand nahm ihn einfach in die Arme und setzte ihn neben sich auf den Kutschbock. „Nimm die Zügel und warte hier.“ Er ging ins Haus. Das Wunder geschah: Fünf Minuten später rollte der Wagen mit Fritz und dem Alten über den Brucher Platz auf die Engelsstraße zu, die zum Wupperwehr hinunterführte, wo das mächtige Gebäude der Engelsmühle stand.

„Ich hab dem Mädchen in der Küche Bescheid gesagt, damit sich deine Mutter keine Sorgen macht“, sagte Vater Rostand. „Fast in Ohnmacht ist die gefallen vor Schreck. Aber das macht nichts“, fügte er verschmitzt hinzu.

Friedrich blickte den alten Mann verblüfft an. Ulrike Bescheid gesagt und die Mutter gar nicht gefragt ..., hm. Nie wäre er auf diese Idee gekommen! Vater Rostand schien Friedrichs Gedanken zu erraten. Er legte den Arm um seine Schultern. „Die Frauen, du lieber Himmel, wenn man sie immer erst fragen würde ...“, sagte er und lachte kühn in die Sonne. Und Friedrich lachte schließlich, allen Bedenken zum Trotz, mit.

Später dann, als sie schon in Sichtweite des grauen Bruchsteingebäudes waren, zu dem Friedrich unzählige Male sehnsüchtig hinaufgeschaut hatte, nahm der Alte noch einmal das Wort. „Deinen Vater habe ich mit zur Mühle genommen, da war er nicht viel größer als du, einen Heidenkrach gab’s danach mit deiner Großmutter. Aber der Stadtrat, dein Großvater, der hat sich halb tot gelacht. Das war ein Mann, ein richtiger Mann! Nichts war ihm gewaltig und groß genug. Die halbe Welt habe ich mit ihm bereist, bis wir in Lyon das richtige Modell fanden für unsere Anlage. Er hat den Bau durchgesetzt gegen die Bedenken deines vorsichtigen Urgroßvaters und unter dem Hohngelächter der braven Handwerksmeister und Verleger, die nur im kleinen Maßstab denken konnten. Was wär aus euch Engels geworden, wenn dein Großvater seinen Willen nicht durchgesetzt hätte? Was wär aus diesem Landstrich hier herum geworden? Alles, mein Junge, was du hier siehst, die vielen Spinnereien, die Websäle, die Bleichen und Färbereien, die Straßen und Brücken, die Schule, Asyl und Spital, das Gemeindehaus, der Stadtpark, das alles würde hier nicht stehen ohne den Stadtrat, seinen Mut, seine Tollkühnheit, seine Tatkraft. Nur ein paar kleine verschlafene Weber- und Bauerndörfer. Angefangen hat das mit dem Bau des Wehrs und der Wassermühle.“ Vater Rostands Rücken straffte sich. „Und ich war dabei“, sagte er, „von Anfang an.“ Friedrich warf einen bewundernden Blick auf den Alten. Unwillkürlich setzte auch er sich aufrechter. Es stand für ihn fest: Vater Rostand war ein bedeutender Mann. Und kein Traum war es: Er saß neben ihm, durfte endlich in das Geheimnis der Engelsmühle eindringen.

Es blieb keine Zeit, diesen Gedanken weiter auszuspinnen. Sie waren angekommen. Es ging durch die Toreinfahrt in einen engen Hof. Das Stampfen, Brodeln und Rauschen war hier so laut, dass man kaum die eigenen Worte hören konnte. Aber was war das gegen das mächtige Getöse, das ihn empfing, als er dem Mühlenwärter in das Innere des Gemäuers folgte! Durch einen dunklen Gang führte der Weg zu einem riesigen, lichtdurchfluchteten Saal. Die Erde unter seinen Füßen bebte. Die Luft erzitterte. Vor ihm, über ihm, unter ihm war das Donnern und Brausen des Wassers zu hören. Friedrich glaubte, den Atem anhalten zu müssen, um nicht in dem Geräusch zu ertrinken. Da plötzlich stand er zu Füßen eines gewaltigen Rades, das sich langsam, wie von Geisterhand getrieben, auf ihn niederdrehte. Instinktiv wollte er sich hinter Vater Rostand flüchten. Dann begriff er: Das, das ist sie, das ist sie! Er warf die Arme in die Luft, begann zu jubeln, zu tanzen, zu schreien: „Die Wasserkraft! Die Wasserkraft!“

Als er sich beruhigt hatte, führte ihn der Mühlenwärter eine Treppe höher zur Schleusenkammer. Er zeigte ihm eine Art Gatter. „Damit kann man dem Wasser den Weg versperren“, schrie er, „dann bleibt das Rad stehen und mit ihm alle Spindeln und Webstühle unten in der Fabrik.“

Friedrich schaute dem Mühlenwärter skeptisch ins Gesicht. Die Fabrik Caspar Engels & Söhne, wo die vielen Arbeiter Lohn und Brot erhielten. Das wundersame Reich hinter der hohen Gartenmauer. Der Fluss war es, der dies alles in Gang hielt? Unerhört schien ihm dieser Gedanke! „Aber wie?“, wollte er wissen.

„Komm, ich zeige es dir!“, gab ihm der Mühlenwärter zu verstehen und führte ihn noch etliche Stufen höher hinauf in die oberste Etage des Gebäudes. Das Geräusch des Wassers erstickte nach und nach in einem neuen Geräusch, einem Donnern und Kreischen, einem Dröhnen und Fauchen, das immer lauter wurde. Oben angekommen, öffnete Vater Rostand eine Tür. Gebannt blickte Friedrich auf ein Gewirr sich drehender Zahnräder. Bedächtige große gab es hier, die sich im Schneckentempo bewegten, und eilige kleinere, deren Speichen und Zähne man kaum wahrnehmen konnte. Der Alte zeigte auf zwei mächtige Scheiben, die in rasender Geschwindigkeit rotierten. „Die Schwungräder“, brüllte er ihm ins Ohr. An ihren Planken waren breite Ledergürtel angebracht, die durch eine Öffnung aus der Mühle hinausliefen. Vater Rostand zog Friedrich zu einer zweiten Tür. Ein schmaler Brückengang öffnete sich. An den breiten Ledergürteln entlang ging er hinter dem Alten her auf ein Fabrikgebäude zu. Am Ende des Ganges öffnete Vater Rostand eine Klappe. Friedrich blickte in einen Saal, in dem sich in einer Reihe die Spindeln drehten. Dazwischen liefen Frauen umher, trugen Arme voll Garnrollen davon, steckten Nocken auf, knüpften Fäden. Ganz hinten blickte er in einen kleineren Saal ... Jäh überfiel ihn die Erinnerung.

„Vater Rostand“, schrie er und .zeigte in diesen Raum. „Da sind sie!“

An zwei langen Tischen saßen größere Kinder und zupften in den Wattebäuschen. Im Dunkel dahinter, in dem riesigen Rohseidenberg, tummelten sich die kleineren ... Er erkannte alles wieder. Dort war er gewesen, mitten unter den Kindern. An jenem zurückliegenden Tag - jede Einzelheit stand ihm wieder vor Augen.

Ein warmer Morgen im Garten. Ulrike saß mit dem Strickstrumpf auf der weißen Bank an der Wiese. Die alte Gärtnersfrau hockte daneben im Erdbeerbeet. Sein Ball rollte im Gras. Und er selbst rannte dem Ball nach. Weiter, weiter, immer weiter. Über die Wiese hinweg, bis ans Ende des Gartens. Dort sah er einen Zaun. Ein einfacher Zaun mit Holzlatten war da, wo heute eine hohe Mauer alles versperrte. Voller Staunen erblickte er hinter dem Zaun eine andere Welt. Vergessen war der Ball. Vergessen Ulrike, die Wiese, seine gewohnte Welt. Zwischen die Latten presste er das Gesicht und beobachtete das Fabrikgelände. Ein Gewirr von großen und kleineren Gebäuden. Ein Platz mit Rollwagen. Viele Leute, die geschäftig hin und her liefen, Pferde anschirrten, große Ballen ab- und schwere Rollen aufluden. Er hörte, wie Ulrike und die Gärtnersfrau aus der Ferne seinen Namen riefen. Als die Stimmen immer näher kamen, bekam er Angst, man könnte ihn finden, wegnehmen von seinem Beobachtungsplatz. Er zwängte sich am Zaun entlang durch die Büsche. Da gab es eine Mulde unter dem Zaun. Es gelang ihm mühsam, hindurchzukriechen. Quer über den Platz ging er ... Irgendwie gelangte er in das größte Gebäude, entdeckte einen Saal, wo es surrte und ratterte. Scheu blickte er auf eine Reihe seltsamer gleichförmiger Ungetüme, die in ständiger Bewegung ratterten. Er war in der Spinnerei gelandet.

„Scher dich hoch in die Kämmerei!“, herrschte ihn eine raue Männerstimme an. Als er den Mann nur ratlos anstarrte, nahm der ihn unter den Arm und trug ihn eine Treppe hinauf. Weder Schreien noch Kratzen und Beißen halfen ihm. Eisern umklammert hielt ihn der Männerarm. Nach einer angstvollen Minute landete er, wupp, in einem Riesenberg weicher Watte. Als er aufblickte, sah er um sich herum viele Kinder. Mädchen und Jungen, größere als er und ebenso kleine, die sich schreiend und lachend in dem Wattegebirge tummelten. So viele Spielgefährten hatte er noch nie. „Wer bist du?“, fragte ein größeres Mädchen. „Fritz“, antwortete er, und schon hatte er sich unter die Bälger gemischt, kletterte wie sie auf die dicken Säcke hinauf, sprang jauchzend hinab und versank in der duftigen Watte. Hui, war das ein Spaß, den man viele Male wiederholen konnte, ohne müde zu werden. Zwischendurch sah er die Tische, wo größere Kinder in der Watte zupften. Ab und zu nahm er - wie seine Spielgefährten es taten - einen Arm voll davon aus dem Berg und brachte sie zu den Tischen. Dabei konnte er jedes Mal in den Saal mit den unendlich vielen Spindeln sehen, wo die Frauensleute hin und her liefen. Er schlich neugierig dort hinüber, um zuzusehen. Die Frauen beachteten ihn kaum. Nur eine hatte ein Lächeln für ihn. Ihre geschäftige Hand griff in die Schürzentasche, sie schenkte ihm einen dicken Apfel, mit dem er zurücklief zu den Spielgefährten, um ihn mit ihnen gemeinsam zu verzehren.

Einmal kam ein hagerer Mann. „Der Aufseher!“, schrien die Kinder, wälzten sich vom Watteberg herab und stellten sich artig in eine Reihe. Nur er selbst, der Neuling, der nicht schnell genug begriff, wurde auf dem Berg ertappt und bekam einen Rüffel und eine Ohrfeige von dem Hageren. Es tat gar nicht weh, und als der Hagere weiterging, streckte Friedrich die Zunge heraus und machte laut: „Bäh!“ Als der sich umdrehte, hatten die Kinder den Aufrührer rasch in ihren Reihen versteckt. Und als er den Rücken drehte, machte die ganze Gesellschaft: „Bäh!“. Dem Hageren blieb nichts anderes übrig, als ärgerlich das Feld zu räumen. Später brachte eine Frau einen Korb mit Schmalzbroten, mit großem Appetit wurde gegessen.

War das ein herrlicher Tag! Natürlich dachte er nicht im Traum daran, in welche Aufregung er mit seinem rätselhaften Verschwinden unterdes die Mutter versetzt hatte. Alles, was Beine hatte jenseits des Zaunes, suchte nach ihm. Endlich entdeckte die Gärtnersfrau die Öffnung im Zaun. Im Nu war die Fabrik in Alarmzustand versetzt. Zu spät bemerkte Friedrich, dass die Männer, die plötzlich die Halle betraten, nach ihm suchten. Ehe er sich verstecken konnte, hatte ihn eine große Hand am Kragen gepackt, hochgehoben und hinausgetragen, quer durch das Gelände in das Kontorgebäude, wo er als schmutziges Bündelchen Mensch seiner bestürzten, weinenden Mutter in die Arme gelegt wurde. Daheim wurde er ausgezogen, in heißem Wasser gebadet. Seine Kleider wurden im Kamin verbrannt. Atemlos trat Dr. Dörner ein, schaute ihm in die Augen, behorchte, betastete und beklopfte ihn, und man steckte ihn ins Bett, das er nun tagelang nicht verlassen durfte. Erst danach wurden die besorgten Augen der Mutter allmählich wieder freundlicher und wohlgemut.

Was er an diesen Geschehnissen nicht begreifen konnte, wurde ihm nun erklärt: Unter den Armen im Wuppertal grassierte eine furchtbare Epidemie, die Hunderte von ihnen heimtückisch hinwegraffte, die Cholera. Doch die befürchtete Ansteckung blieb aus. Als Friedrich wieder aus dem Bett aufstehen durfte, veränderte sich vieles. Das neue und ganz strenge Kinderfräulein Henriette nahm ihn in Empfang. Nur an ihrer kühlen festen Hand durfte er nun durch den Garten spazieren. Dort aber waren inzwischen Berge von Steinen angefahren worden, und eine Kolonne von Arbeitern war dabei, jene hohe Mauer zu errichten, die ein für alle Mal den Garten abschloss von der Welt, die er entdeckt hatte und die bald nur noch existierte als ein ferner Traum ...

„Hast du dich sattgesehen?“, fragte Vater Rostand hinter ihm. Friedrich kehrte in die Gegenwart zurück. Er nickte ein wenig benommen. Der Mühlenwärter schloss die Klappe wieder. „So, nun bist du wohl ein bisschen schlauer. Jetzt kennst du die Wasserkraft.“

Auf der Rückfahrt saß Friedrich schweigend neben Vater Rostand. Er spürte die warme Sonne im Rücken. Er sah die Häuser zwischen den grünen Bäumen. Die Brücke nach Gemarke. Die Berghänge jenseits des Tales. Die Christuskirche auf dem Fuchshügel. Alles war wie auf der Herfahrt. Und doch war es anders, auf eine merkwürdige Weise neu und verändert. Sein Blick fiel in den rot schimmernden Fluss neben der Straße. Ich weiß etwas von ihm.

Daheim angekommen, rannte er der Mutter direkt in die Arme. Er umschlang heftig ihren Hals und küsste sie, bevor sie ein Wort des Tadels hervorbringen konnte. Die Worte, mit denen er eine Beschreibung seines Erlebnisses geben wollte, sprudelten wild aus ihm hervor. Schließlich konnte Elise Engels nicht anders, als in herzliches Lachen auszubrechen.

Friedrich liebte Mamas Lachen über alles. In jeder anderen Situation wäre er zufrieden über solchen Erfolg gewesen. Diesmal aber fand er es unpassend, fast beleidigend.

„Du glaubst mir nicht, dann sieh es dir selbst an! Wenn ich Vater Rostand bitte, ganz bestimmt zeigt er dir auch die Mühle. Er ist freundlich und gut. Er kann dir alles genau erklären!“

„Aber ich glaube dir ja!“, versicherte die Mutter und streichelte ihm über den Kopf, sodass er wieder ausgesöhnt war. „Dein neuer Freund scheint es dir ja sehr angetan zu haben. Für diesmal will ich euch verzeihen, dass ihr diesen Ausflug eigenmächtig unternommen habt. Geh jetzt zu Ulrike und lass dir das Frühstück geben. Du hast bestimmt einen Bärenhunger.“

„Nein, gar keinen Hunger“, rief Friedrich und rannte überglücklich in den Garten.

Unter den Obstbäumen traf er Ulrike. Sie nahm eine übergroße Birne aus dem Korb. „Da, mein Prinz, die schönste für dich. Ganz oben von der Baumspitze. Mit einem freundlichen Gruß von der Sonne.“ Friedrich betrachtete die Frucht, in beide Hände musste er sie nehmen, um herzhaft hineinbeißen zu können. Er nötigte Ulrike, ebenfalls zu probieren, und lachte, als dem Mädchen der süße Saft ins Mieder tropfte. Schnell rannte er weiter in den Garten, in die große Wiese hinein, bis in die Nähe der Haselnussbäume. Dort, wo die Halme am höchsten standen, war sein Lieblingsplatz. Er warf sich ins Gras, spürte den Pulsschlag seines Herzens.

Wie schön ist die Welt! Mama, ach, ihr Lächeln, ihre warme Hand. Auch Ulrike ist lieb, die kleine Marie und Hermann, die Kinder auf dem Baumwollberg, Vater, der Gärtner, Opa und Oma in Hamm, selbst Fräulein Henriette. Ich liebe sie alle! Ich will, dass sie fröhlich sind wie ich.

Weit hinauf in den Himmel wanderten seine Augen. Zwei einsame weiße Federwölkchen hoch oben in der Unendlichkeit des Ätherblaus trugen ihn fort. ER da oben, auch ER ist gut zu mir. Heute Abend vor dem Einschlafen will ich ihm danken. Unter keinen Umständen darf ich es wieder vergessen!