Impressum

Roland Kluge

Dr. B. - Arzt im Dienst

Erzählungen

 

Das Buch erschien erstmals 1989 im Mitteldeutschen Verlag Halle Leipzig

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

ISBN 978-3-96521-171-1 (E–Book)

 

© 2019 EDITION digital
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Dr. B. - Arzt im Dienst

Wer nur das eigne fördert,

lebt ein schwaches Leben.

B. Brecht

 

In der Einsatzzentrale wartet Jürgens, der Fahrer, auf mich. Er blättert in den Hausbesuchsanmeldungen wie in mittelmäßigen Skatkarten: „Heute nur die üblichen Schnupfen, Doktor.“

Ich sehe mir die Zettel rasch durch: Etwas besonders Dringliches scheint wirklich nicht vorzuliegen, ganz unrecht hat er also nicht. Und in solchen Fällen, weiß ich, ist es dann seine Art zu glauben, er habe recht. Sein Empfinden dafür ist stark entwickelt, auch da, wo es ihn streng genommen nichts angeht. Aber darüber habe ich längst hinwegzusehen gelernt, weil ich weiß, dass er bei aller Wichtigtuerei doch ein patenter Kerl ist, auf den man sich verlassen kann.

Ich ziehe mich an der Wagentür zu meinem Sitz neben ihm hoch. Jürgens legt die Scheine vor sich aufs Armaturenbrett und beschwert sie mit seinem Maskottchen, einer Puppe, in deren Hintern sinnigerweise ein Magnet eingelassen ist.

Ich verstaue den Medikamentenkoffer hinter mir, eine Art medizinisches Sturmgepäck, an das ich den Kopf anlehnen kann, um noch etwas zu dösen. Ich habe jetzt wenig Lust, mich zu unterhalten, dafür fühle ich mich zu abgespannt. Meine Sprechstunde steckt mir noch in den Knochen.

Müdigkeit kann aber auch zur Ausrede werden; ich weiß, dass ich da aufpassen muss: Sich einrichten in der Routine, das ist ein schleichender Vorgang. Wie die Gewöhnung an eine Droge, die immer höhere Dosierungen erfordert. Das hat seinen Preis. Johannas Frage hat mich wieder einmal daran erinnert.

„Ich möchte kranken Menschen helfen“, hast du also geschrieben in deiner Bewerbung fürs Medizinstudium. Dein Klassenlehrer hat dir das zurückgegeben: Das wäre als Begründung zu wenig.

Meint er mit „zu wenig“ etwa, du hättest dabei nur das Mitleid im Auge gehabt? Das er für etwas Schwaches, Wehleidiges hält?

Das wäre es ja auch, wenn aus ihm nicht jene Kraft erwachsen würde, jene Solidarität des einen Lebewesens mit dem anderen, die uns angesichts der leidenden Kreatur nicht untätig zusehen lässt.

Aber ich könnte mir denken, worauf dein Lehrer noch hinaus wollte: auf die gesellschaftliche Dimension. In unserem Beruf kommst du dem Menschen sehr nah, wenn du ihn ernst nimmst. Dann ist er bereit, sich dir zu eröffnen und auf dich zu hören: als Institution. Darauf hättest du ruhig eingehen können, ohne Koketterie mit der eigenen Größe. Ich erinnere mich des Lächelns meines Klassenlehrers über dieses: „… möchte damit meinen Beitrag leisten für …“. Aber gesagt hat er nichts. Schließlich stand bei den anderen auch so was drin.

Warum kann eigentlich niemand, ohne sich seine Studienchancen zu vermasseln, in seine Bewerbung schreiben: „Ich möchte einen meinen Fähigkeiten entsprechenden Beruf ergreifen und meine Leistungen, mit denen ich der Gesellschaft nütze, auch materiell angemessen vergolten sehen.“ Warum honoriert keine Studienbewerbungskommission so viel Aufrichtigkeit? Jürgens reagiert da nicht so verklemmt. Er schämt sich nicht, seiner Hände Arbeit angemessen entlohnt zu sehen, wenn er nach Feierabend die Autos unpraktischer Leute repariert.

Ich sehe zu ihm hinüber, wie er sich eine Zigarette anzündet. Für diesen Moment bleibt das Lenkrad sich selbst überlassen, bis er es wieder mit zwei, drei Fingern seiner Linken ergreift, ein Virtuose des Kraftfahrzeugs, während er mit der Rechten das Räucherstäbchen zum Munde führt. Seine Fingerspitzen sind verschmaucht, das ist aber auch das Einzige, was an seinem Äußeren nicht „picobello“ ist, wie er das nennt. Kein Zweifel, seine Eitelkeit sitzt tiefer als die einer Frau vor dem Spiegel. Bei ihm kulminiert sie in einem Oberlippenbärtchen, das ihn geradezu zum Flirt verdammt, wie er wohl glaubt. Er ist auch ständig umschwärmt, kein Wunder. Eher schon, dass er dabei bisher ohne Fehltritt geblieben ist, soweit ich weiß: Nach Feierabend repariert er Autos, oder er läuft. Ein wenig Angst um die Herzkranzgefäße schimmert durch und um die potenzielle Kondition: Er nennt eine hübsche Frau sein eigen, die er am Tag des Gesundheitswesens und bei ähnlichen geselligen Anlässen gern präsentiert. Hat dann aber nur Augen für sie; die ihn offenbar „fest im Griff“ hält. So jedenfalls würde er bei anderen witzeln. Bei sich selbst merkt er das gar nicht. Wahrscheinlich lässt sie ihn bei seinem Glauben, dass er sie steuere.

Bei mir spielt Jürgens gern die Rolle des Mannes aus der Praxis, der weiß, wo es im Leben langgeht, auch ohne die Universität besucht zu haben. Wozu auch: Schließlich sitzt er täglich neben einem Doktor. Was die können, hat er sich fast alles abgeguckt, und fast, das ist doch eigentlich alles. Sein Jungenglaube, dass sich das Leben steuern ließe wie ein Auto, ist ungebrochen. Ich habe früher auch gern mit Autos gespielt, und davon bleibt wohl in jedem Mann etwas zurück: die Faszination der Bewegung.

Als Fahrer bei „Waren täglicher Bedarf“ war es Jürgens wohl zu ruhig, da ist er zum Krankentransport gegangen: Es gibt nicht nur die Faszination der Bewegung, sondern auch die des weißen Kittels, sicher war die auch dabei, vor allem aber ein Interesse an den Menschen. Schließlich ist das wichtiger, als früh Brötchen zur Kaufhalle zu fahren. Da muss man bei ihm schon mal über eine vorlaute Bemerkung hinwegsehen können. Meine diesbezügliche Toleranz hat mir bei ihm offenbar Vertrauen verschafft; fast bin ich so etwas wie sein Beichtvater geworden, besonders, was heikle Männersachen angeht, die ihm gelegentlich zustoßen. Kein Wunder bei meiner Verschwiegenheit in dergleichen Dingen, dass er annimmt, ich wüsste da mehr als er. Aber besteht das Erfolgsgeheimnis von Beichtvätern nicht darin, dass sie das andere glauben machen können?

Sicher möchte er sich auch was Fachliches von mir abgucken, er hört mir da so aufmerksam zu wie ein Student des ersten Semesters. Bis ich auf die Zigaretten zu sprechen komme; da beginnt er zu gestikulieren und mir meine Kollegen aufzuzählen, bei denen die Streichhölzer in der Tasche klappern, wenn sie sich den Kittel überziehen. Und er würde schließlich keine Butter essen und jeden Abend bis zum Wald laufen; ob das etwa nichts wäre?

So eine Art medizinischer Ablasshandel scheint ihm da vorzuschweben, eine Aufrechnung seiner guten Werke, bis rechnerisch ein Überschuss resultiert, das klingt einleuchtend, vom geschäftlichen Standpunkt aus. Vielleicht besteht das Leben für ihn aus Geschäften? „Geschenkt wird keinem was“, sagt er oft, „clever muss man sein.“

Das ist natürlich eine anstrengende Lebensphilosophie: „Kein Wunder, wenn ich wieder ein Ulkus kriege“, stöhnt er oft. Dass er beim Jogging vielleicht auch ein bisschen vor sich selbst davonläuft, auf diese Idee kommt er natürlich nicht. Das müsste ich ihm sagen, als sein Arzt. Dass seine Sensibilität, vor der er offenbar Angst hat, eigentlich sein bester Teil ist.

Aber ich sage es ihm nicht, und das ist schlecht: Ich wollte doch kranken Menschen helfen. Genügt es da, ihnen die Butter auf dem Brot zu verbieten? Das ist natürlich einfacher, ls ihnen die Wahrheit über sich selbst zu sagen.

Aber dazu müsste ich Jürgens erklären, dass es zur Gesundheit auch einer inneren Heiterkeit bedarf, die erst wieder aus einer gewissen Distanz zu den Dingen entsteht. Darüber würde er lachen, weil das seiner Erfahrung widerspricht, dass man an den Dingen dranbleiben muss, wenn man sie besitzen will. Ich wäre für ihn wahrscheinlich ein Spinner, und da bin ich empfindlich: Schon in der Schule galt ich als versponnen; es hat mich Mühe gekostet, diesen Eindruck zu überwinden. Auch bei mir selbst. Eine unangenehme Erinnerung. Also sage ich nichts.

Jürgens wundert sich wahrscheinlich über meine Schweigsamkeit. Aber er respektiert meine abgespannte Miene.

Schlechte Laune also. Vielleicht, weil ich so hastig und unkultiviert mein Notabendbrot heruntergewürgt habe, aus dem Kühlschrank. „Nur kurz aufwärmen. Bin im Konzert. Tschüs bis morgen.“ Elisabeths schwungvolle Schriftzüge auf EDV-Spezialpapier.

Ich wäre jetzt viel lieber mit Elisabeth im Konzert. Bei diesem Wechselgesang zwischen Oboe, Terzgeige und Bass im sphärischen Adagio des Ersten Brandenburgischen.

Jürgens lässt den Wagen langsamer rollen, er hat Mühe, in der Dunkelheit die Hausnummern zu erkennen. Ein Grund, endlich mal was zu sagen. Über Architekten, die Nationalpreise bekommen, aber an so was grundlegend Wichtiges offenbar nicht gedacht haben.

Ich greife nach dem obersten Zettel im Stoß der Anmeldungen: „Reimershagen, Uwe“, lese ich, „Halsschmerzen, Temperaturen.“

Eine Mandelentzündung also. Einfacher Fall: Bettruhe, Gurgeln und alle sechs Stunden eine Tablette Penizillin. Ich spüre meine gute Laune wiederkommen. Zumal dieser erste Schnupfen nicht gleich im fünften Stock wohnt. Ich gerate beim Treppensteigen zunehmend aus der Puste. Trainingsmangel, würde Jürgens schadenfroh sagen, im Gegensatz zu ihm habe ich schon ziemlich Bauch angesetzt und wäre im Falle eines Flirts für ihn kein ernst zu nehmender Konkurrent mehr. Obwohl auch mein Bart mehr ist als nur der Ausdruck von Faulheit, mich zu rasieren.

Beides, meinen Bauch und meinen Bart, fasst Herr Reimershagen, der öffnet, ins Auge: eine blitzschnelle Prüfung. Ich ertrage sie gelassen, mit der Miene, die ich mir dafür angewöhnt habe. „Ein Gesicht wie ein Kittel“, pflegt Elisabeth sie ärgerlich zu nennen. Manchmal muss sie mich zu Hause ausdrücklich dazu auffordern, sie nun endlich abzulegen.

Herrn Reimershagen scheint diese Physiognomie von meinem amtlichen Auftrag überzeugt zu haben, er tritt zurück, als entferne er die geistige Sicherheitskette.

Ich habe inzwischen einen Blick für Wohnungen. Das lässt sich im Laufe der Jahre nicht ganz vermeiden. Eine Art Blickdiagnose. Vor der meine klinischen Lehrer immer gewarnt haben: Auch wenn man oft recht hat, es bleibt eine gewagte Sache, vom Zustand des Korridors auf die übrigen Zimmer schließen zu wollen; hei Wohnungen wie bei Menschen.

Familie Reimershagen scheint naturliebend zu sein: Die Farbfoto-Tapete eines Herbstwaldes überzieht die Korridorwände, sogar die Türen. Die angestrebte Illusion wäre durch den himmelblauen Anstrich der Decke beinahe komplett, wenn nicht ins Laub der Eichen und Buchen eingedübelte Keramikmasken, die afrikanisch sein sollen, auf mich herabgrinsten. Totem und Tabu? Aber meine Lehrer haben stets vor einer zu extensiven Auslegung Freuds gewarnt. Und der aus der Küche dringende Mehlschwitzengeruch lässt keinen Zweifel daran, wo wir uns befinden. Nicht im Urwald.

Uwes Oberlippe kommt mir ein bisschen dick vor: „Gegen eine Tür ist er gelaufen, der Blödmann“, sagt der Vater. Die Röte auf seinem Gesicht wird durch das höherprozentige Tafelwasser hinreichend erklärt.

„Nun mach mal den Mund weit auf, Junge; hast doch sonst immer die große Klappe!“ Mit diesen Worten glaubt Reimershagen offenbar, mir behilflich zu sein. Er stürzt auch in die Küche, um einen Teelöffel zu holen, weil ich nicht gleich die Holzspatel in meinem Koffer finde.

Herr Reimershagen findet in der eigenen Küche die Teelöffel nicht, er muss seine Frau zu Hilfe holen, die sich da besser auskennt als er, „de Düwel ook.“

Mit Hilfe des Teelöffels drücke ich Uwes Zunge herunter und bemühe mich, in der Tiefe etwas zu erkennen. Meine Taschenlampe leuchtet nur spärlich, ich lasse mir die Tischlampe reichen, nachdem Herr Reimershagen, stolz, seine Findigkeit endlich beweisen zu können, den Schirm abgeschraubt hat.

Ich habe nun mehr Licht, aber deshalb ist mir noch lange nicht alles klar. Natürlich, da sind sie, die gelblichen Stippchen auf den geschwollenen kugeligen Gebilden links und rechts: Angina tonsillaris, Mandelentzündung, reichlich Gurgeln mit Kamille und alle sechs Stunden eine Tablette Penizillin, einfacher Fall. Oder doch nicht? Von der Mandelentzündung ist die Lippe nicht dick. Soll ich das ansprechen? Kindesmisshandlung ist ärztlicherseits meldepflichtig; aber das ist längst kein Kind mehr, und das ist noch längst keine Misshandlung. Das halten die Beteiligten vielleicht für so normal wie das Fernsehbier.

Also sage ich nichts, die Leute haben ein Recht auf ihre Privatsphäre; gewisse Kabinette bleiben für den Besucher tabu. Schlimm genug, was man im Vorbeigehen riecht.

„Na, der übliche Schnupfen eben“, sage ich zu Jürgens, als er fragt, was es denn gewesen wäre.

Er blickt mich zweifelnd an. Und dann blättert er in den Zetteln, als suche er in diesem miesen Blatt nach einem Trumpf.

„Ich glaube, ich hab da was Besseres für Sie“, meint er dann gemütlich und zieht eine Karte: „Herzschmerzen. Gerade eben durchgesagt.“

„Und das erfahre ich erst jetzt?“

Jürgens grinst: „Lesen Sie doch erst mal, Doktor.“

Ich halte den Schein ins Licht: „Kröger, Renate. Dreißig Jahre. Starke Herzschmerzen.“

Jürgens blickt mich treuherzig an: „Soll ich mit Signal fahren?“

Nein, ich glaube, das kann er bleibenlassen. Er weiß natürlich, dass bei einer so jungen Frau Herzschmerzen etwas äußerst Unwahrscheinliches sind. Das, was dafür gehalten wird, entpuppt sich in den meisten Fällen als verspannte Schulter-Arm-Muskulatur. Aus ärztlicher Sicht banal, für die Betroffene aber beängstigend: Der Körper schlägt Alarm. Warum, muss oft erst noch ergründet werden. Denn der Körper spricht nur eine Sprache, von der begreiflichen Überanstrengung einer Raumpflegerin bis zu den sublimen Tragödien des Kreuzschmerzes.

„Bezahlen müssten die das!“, wettert Jürgens. „Dann würden die sich das beim nächsten Mal besser überlegen!“

Da bin ich dagegen, vom Gefühl her. Obwohl der Verstand mir sagt, dass da was dran ist, rein ökonomisch gesehen. Aber ich bin entschlossen, diese Dinge ärztlich zu betrachten. Ich weiß viel besser als der Fahrer, dass Großzügigkeit immer Gefahr läuft, ausgenutzt zu werden. Bei der Ruppigkeit, die heute modern ist, fällt es nicht immer leicht, die Sensiblen zu erkennen. Sie von den bloß Wehleidigen zu unterscheiden. Und sie nicht mit den Fordernden und Berechnenden über einen Kamm zu scheren. Sonst wären meine Begründungen fürs Medizinstudium endgültig zur Phrase geworden.

Aber das kann Jürgens nicht ermessen. Weil man sich das nicht abguckt, indem man neben einem Doktor sitzt. Dazu muss man Arzt sein, nicht nur Doktor. Aber das wäre schon wieder viel zu kompliziert, um es Jürgens zu erklären.

Also gönne ich ihm schweigend seinen kleinen Triumph. Er ist sowieso nur von kurzer Dauer, dazu gibt’s für Menschen wie ihn viel zu viel Dummheit auf dieser Welt. Soeben tippt er sich schon wieder an die Schläfen, dorthin, wo das Rindvieh die Hörner trägt: Kein Wunder, wenn man ein Ulkus kriegt, so, wie der Trabi vor ihm fährt.

Jürgens ergreift das Lenkrad mit beiden Händen, ein Zeichen, dass was bevorsteht. Und dann überholt er, mit einem Rechteckimpuls, der meinen Kopf gegen das Sturmgepäck drückt. Dabei lächelt er durch die Scheibe: „Hallo, Freunde, steigt nicht aus, ihr fahrt noch!“ Als könne der andere ihn hören. Aber der blickt, in seiner Trabantenehre gekränkt, stur nach vorn.

Jürgens lehnt sich befriedigt nach hinten, als habe er eine Rallye gewonnen. Genießerisch lässt er den Zigarettenrauch durch die Nasenlöcher strömen. Wobei er das Gesicht leicht von mir abwendet; er weiß, dass ich, seitdem ich mir das Rauchen abgewöhnt habe, allergisch gegen solche Emissionen bin, und das Abwenden des Gesichts ist seine Art von Rücksichtnahme.

Ich weiß sie zu schätzen und honoriere das, indem ich nichts dagegen sage, höchstens mal die Fensterscheibe auf meiner Seite herunterdrehe, wenn mir die Luft zu dick wird. Es zieht dann recht ungemütlich. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Jürgens mit seinem rasch aufsteigenden Ärger kämpft. „Doktor, soll ich mir hier noch die Motten holen?“, platzt er dann los.

Ich entgegne kühl, dass an frischer Luft noch keiner gestorben ist. Worauf er nichts mehr erwidert, er beißt sich nur wütend auf die Lippen: Schließlich bekommt er seine Atteste für die Magenschonkost von mir. Und ich weiß doch, dass er im Grunde ein gutmütiger Kerl ist: Wenn mein Auto mal nicht anspringt, kann ich mich auf ihn verlassen.

Johanna hätte sicher schon längst die Hände gehoben über solche faulen Kompromisse. Aber ich habe mir den Jürgens nicht aussuchen können und er sich nicht den Doktor. Der Zufall der Dienstplangestaltung war es, der uns zusammengeführt hat. Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen, ob wir uns nun gefallen oder nicht. Was sollen denn erst die Patienten sagen, denen dieser Zufall einen wildfremden Menschen neben das Bett stellt, der nun ergründen soll, was bei ihnen wirklich weh tut?

 

Der Krögersche Korridor bietet keinen Anhalt für eine rasche Diagnose: Die Tapete ist abgerissen. Herr Kröger empfängt mich mit farbverklecksten Händen. Sein Geschmack wird mir erst im Schlafzimmer klar: Eine Rosenmustertapete aus Velour, teuer, aber für das Zimmer zu großformatig, umrankt die Ehebetten, in denen die zarte Frau buchstäblich versinkt.

Der Mann ist hinter mich getreten, ich rieche Höherprozentiges. „Herr Doktor“, sagt er mühsam beherrscht, „mit meiner Frau geht das einfach nicht so weiter. Wir rennen von Arzt zu Arzt, und alle sagen: ‚Ihr EKG ist in Ordnung, Sie haben nichts.‘ Aber sie hat doch was!“

Ich nicke. Natürlich hat sie was. Aber nicht am Herzen. Eher wohl darauf. Aber um das zu erkennen, nutzt das EKG nichts. Dazu muss man diesen Liebeskraal, in den ein Dornröschen geraten ist, gesehen haben.

„Ich hab ihr nun schon den Fernseher ans Bett gestellt“, fährt Kröger ärgerlich fort. „Kann ich eigentlich noch mehr tun?“

Nein, das wohl nicht. Eher weniger; das wäre hier sicher mehr. Aber steht sie mir zu, diese Blickdiagnose? Schließlich ist das die Privatsphäre. Herr Kröger hat mich nicht ins Haus bestellt, sie zu beurteilen, sondern einen medizinischen Sachverhalt: „Herzschmerzen“.

Ich behorche das Herz der Frau. Der Mann sieht finster zu, wie ich das Stethoskop auf ihre entblößte Brust drücke: Das ist sein Revier; einen anderen würde er niederschlagen, wenn der seiner Frau so nah käme. Ich kann seine schwarzbehaarten Fäuste sehen, mit denen er tapeziert. Zu dieser späten Stunde, ohne Rücksicht auf die Nachbarn. Auf diese Idee käme er gar nicht. Er macht immer das, wozu er gerade Lust hat. Egal, zu welcher Stunde. Egal, ob andere auch Lust haben.

Langsam wickle ich mein Stethoskop zusammen. Jedes Wort will jetzt überlegt sein. Der Fernseher stört mich dabei, diese teure Investition, die sich für Frau Kröger seelisch nicht amortisiert hat. Herr Kröger hat den Ton abgestellt, damit ich was hören kann, aber das leuchtende Kolorit der Bilder wirkt immer noch fesselnd genug: Gutaussehender Assistenzarzt legt im Rücken des Chefs junger Krankenschwester den Arm auf die Schulter. „Taunusklinik“ heißt das wohl, die Zuschauer finden da ihre Meinung bestätigt, wie es in Kliniken so zugeht, haben das Gefühl, hinter die Kulissen zu sehen.

Solche Serien fühlen sich weit mehr der Unterhaltung als der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Bin ich als Arzt eigentlich gehalten, immer die Wahrheit zu sagen? Ich soll kranken Menschen helfen. Da ist beides nicht immer miteinander zu vereinbaren: Was wäre das hier für eine Hilfe, wenn ich, ein weißbekittelter Vollzugsbeamter der Wahrheit, sagen würde: „Sie haben nichts am Herzen?“

„Ich kenne da einen guten Spezialisten“, sage ich. Dass ich an einen internistischen Kollegen denke, der gleichzeitig über spezielle Kenntnisse in der Psychotherapie verfügt, muss ich in diesem Moment, der dafür noch zu früh wäre, nicht erklären.

Krögers Augen schimmern feucht. Das ist nicht nur Höherprozentiges. Ich habe ihm unrecht getan. Mit meiner richtigen Diagnose.

Ich fülle das Rezept aus: Valocordin. Es enthält Baldrian. Das Liebeselixier der Katzen. Das auf uns Menschen merkwürdigerweise beruhigend wirkt.

Kröger begleitet mich durch den Korridor zur Tür, vorbei an den Tapetenrollen, deren Muster ich mir nun vorstellen kann. Lässt sich über Geschmack wirklich nicht streiten? Aber sie sind nun mal gekauft. Und der Kleister, sehe ich, ist schon angerührt. Der übliche Familienkleister.

„Herr Doktor, das ist keine Ehe mehr, das ist die Hölle“, sagt Kröger heiser. Als hätte ich das noch nicht gespürt.

„Es muss sich endlich was ändern“, fügt er hinzu.

„In der Tat“, sage ich nicht ohne Hintersinn und drücke die schwarzbehaarten Fäuste mit den Farbklecksen.

 

Jürgens dreht an den Spitzen seines Schnurrbarts: „Wohl wie üblich, Doktor? Ehemann impotent?“

O nein, diesen Eindruck hatte ich ganz und gar nicht. Aber das behalte ich natürlich für mich.

„Warum nimmt sie sich nicht einfach einen anderen?“, überlegt Jürgens weiter.

Ja, warum eigentlich nicht? Ist der Fall wirklich so einfach wie eine Mandelentzündung: reichlich gurgeln, täglich eine Pille und dann mal einen andern? Was lässt Leute wie die Krögers in ihrem Liebeskraal ausharren? ‚Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt‘, fällt mir da ein. Aber weil ich vermute, dass Jürgens den Prinzen Hamlet nicht kennt, behalte ich das für mich.

Jürgens ist fast ein wenig beleidigt über mein Schweigen: Gegen einige pikante Einzelheiten hätte er wahrscheinlich nichts einzuwenden gehabt.

„Der nächste Schnupfen bitte“, drängle ich. „Aber möglichst nicht im fünften Stock.“

 

Er wohnt im zehnten. Lange muss ich auf dem riesigen Klingelbrett suchen, bis ich den Namen „Minna Siggelkow“ gefunden habe.

Erst nach mehrmaligem Läuten lässt sich eine freundliche Frauenstimme vernehmen: Ob ich vielleicht der werte Herr Doktor sei, den sie wegen ihres schweren Asthmaanfalls gerufen habe? Jürgens verdreht die Augen. Wahrscheinlich hat er wieder mal recht: Nach Asthma klingt das nicht gerade. Ein überflüssiger Hausbesuch also. Die Aussicht, deswegen bis in den zehnten Stock hinauf zu müssen, stimmt mich nicht gerade heiter.

Das automatische Schließen der Fahrstuhltüren hat etwas beängstigend Sprachloses. Was, wenn die Automatik mal versagt? Die Hinweise, was dann zu tun sei, sind weggekratzt worden: Dumpfe Wut, sonst zu feige, hervorzutreten, hier hat sie sich Luft gemacht. Meint sie auch mich, mit der Eisernen Ration guten Willens im Köfferchen?

Ich bin froh, dass Minna Siggelkow mich am Fahrstuhl erwartet. Eine blitzschnelle Musterung auch das, hinter behäbiger Freude über mein Kommen versteckt wie über einen lieben Nachmittagskaffeegast, dann schlurft sie mir voran, mit krummer Wirbelsäule.

Im Zimmer läuft der Fernseher, auch hier „Taunusklinik“, in schwarz-weiß diesmal, aber immer noch so fesselnd, dass Minna Siggelkow mein Klingeln beinahe überhört hätte: „Da bekommt man Hochachtung vor Ihrem anstrengenden Beruf, Herr Doktor, wenn man das so sieht.“

Wirklich? Habe ich was mit diesem grau melierten Professor zu tun, den ich schon in einer Zahnpastareklame gesehen habe und der jetzt im Operationssaal steht? Weihevolle Stille. Die Schwester reicht ihm das Messer. Gleich wird der Hohepriester walten, das Schicksalsproblem lösen, so, wie man nach Meinung seines Millionenpublikums Probleme löst: mit glattem Schnitt. Und die da wie ich mit ihrem medizinischen Sturmgepäck zu Fuß die Treppen hochsteigen, haben eben bloß keine „goldenen Hände“.

Minnas Augen glänzen andächtig, nur schwer kann sie sich losreißen von dieser Welt, in der ein Patient höchstens mal an der Dummheit des jüngsten Assistenzarztes stirbt. Aber nun ist ja Gott sei Dank der Professor noch rechtzeitig gekommen, durch die treue Oberschwester alarmiert, da stirbt keiner mehr, nicht mal ein Baum, so heil ist dieser Wald.

Minna gibt sich nun doch einen Ruck und stellt den Apparat aus. Für einen Moment hat sie richtige Umstellungsschwierigkeiten, ich bin eben doch ein paar Nummern kleiner als der Professor. Aber dann weiß sie wieder, was sie von mir wollte: „Ich hab schon alles vorbereitet, Herr Doktor. In so langen Leidensjahren kennt man sich allmählich aus“, sagt sie und schiebt mir einige Ampullen über den Tisch; nebst einem Notizbüchlein, in dem ich die Namen vieler meiner Kollegen finde, mit dem Datum der Injektion. Und einer Zensur.

„Mein Fritz war Lehrer“, erklärt Minna. „Na ja, das sind alte Geschichten.“ Und ihre Wirbelsäule macht eine Bewegung nach unten, soweit das noch möglich ist.

„Darf ich auch um Ihren werten Namen bitten, Herr Doktor? Sie wohnen sicher noch nicht lange hier. Man merkt das an Ihrer Sprache.“

Kein Zweifel, da funkelt für einen Moment der Spott dessen, der sich in diesem Landstrich bodenständig weiß.

„Wie guhd, dass mir Saggsen geen Dialegd hahm“, gebe ich zurück.

Minna lacht, lange und herzlich. Nein, von Asthma kann wirklich keine Rede sein. Aber wenn ich geglaubt habe, um die Spritzenprozedur herumgekommen zu sein, so habe ich mich in Minna Siggelkow gründlich getäuscht. Sie ballt die magere Faust: „Nehmen Sie die Venen am Handrücken, Herr Doktor, die in der Ellenbeuge sind alle schon zu.“

Ich überlege, ob ich die Injektion ablehnen und dadurch bei der alten Frau womöglich einen richtigen Asthmaanfall provozieren oder ob ich nachgeben soll.

Ich entscheide mich fürs Nachgeben. Schließlich ist das „Nil nocere – nicht schaden“ der oberste Grundsatz ärztlichen Handelns. Er rangiert noch vor dem Nützen.