Impressum

Gisela Heller

Neuer Märkischer Bilderbogen

Reporterin zwischen Havel und Oder

 

ISBN 978-3-95655-826-9 (E–Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1986 im Verlag der Nation, Berlin.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2019 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

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Die einzelnen Reportagen sind zwischen Januar 1983 und Juni 1985 entstanden.

Teupitz unter der dünnen Haut der Idylle

„Überschläge ich meine eigene Reiserei, so komme ich zu dem Resultat, dass ich von solchen Spritzfahrten in die Nähe viel, viel mehr Anregung, Vergnügen und Gesundheit gehabt habe als von den großen Reisen, die sehr anstrengend und sehr kostspielig sind … In Teupitz und Wusterhausen aber bin ich immer glücklich gewesen.“

Das schrieb der alte Fontane an seinen Sohn; und er muss wirklich nicht übertrieben haben, denn für Teupitz nahm er bereitwillig allerlei Mühseligkeiten in Kauf, die ihn woanders sicher verdrossen hätten.

Allein der Weg dorthin war ein Kapitel für sich. Man kam damals nur mit einer einzigen Postchaise nach Teupitz, und diese startete um Mitternacht in Zossen, zockelte stundenlang über Chausseen und Heidewege, um endlich bei Sonnenaufgang ins stille Teupitz hineinzurumpeln. Der Wagen hielt gewöhnlich vor dem „Goldenen Stern“, an dessen Laubenvordach der Wirt lehnte, um eventuelle Gäste willkommen zu heißen. Der Reisende bekam unverzüglich ein freundliches Lager, damit er sich von den Strapazen der Fahrt erholen konnte.

Doch nicht lange, und der Nagelschmied von der Ecke gegenüber begann sein Tagewerk und weckte mit seinem Picken und Klopfen den unausgeschlafenen Dichter. An jedem anderen Ort hätte ihm dies allein die Laune verdorben. Nicht so in Teupitz. Hier schien es ihm die angenehmste Art, geweckt zu werden. Erwartungsvoll setzte er sich an den Frühstückstisch und ließ sich von der Stern-Wirtin über Teupitz und den Teupitzer See erzählen. So ist das eben. In einem Ort ärgert uns die Fliege an der Wand, und in dem andern kann uns gar nichts aus der Ruhe bringen.

Teupitz scheint wirklich so ein beruhigender Ort gewesen zu sein. Und ist es heute noch. Aber nicht die landschaftliche Schönheit führte Fontane damals nach Teupitz, sondern die fast unglaubhaft klingenden Geschichten von unsäglicher Armut, die so gar nicht zu der Idylle passen wollten. So hörte er von Geistlichen, die nur deshalb unverheiratet blieben, weil die Pfarrstelle keinen Haushalt trug; und Brot sollte in dieser Gegend so kostbar sein, dass Bettelkinder von dem geschenkten Brot nur die Hälfte aßen und den Rest mit nach Hause nahmen.

Auch die Wirtshäuser der Umgebung trugen bezeichnende Namen: „Zum toten Mann“ oder „Zum hungrigen Wolf“. Der „Goldene Stern“ in Teupitz selbst bildete eine verheißungsvolle Ausnahme, und die Stern-Wirtin erschien Fontane geradezu unverwüstlich in ihrer Hoffnung auf bessere Zeiten. Woher sie ihre Hoffnung schöpfe, fragte er sie, nachdem er Kaffee und Konfitüren genossen hatte.

Die Antwort war ein einziges Loblied auf den See: „Was wäre Teupitz ohne den See … Freilich, wir dürfen nicht mehr drin fischen, die Fischereigerechtigkeit ist verpachtet, aber das Wasser ist uns mehr als alles, was drin schwimmt. Mit gutem Winde fahren wir in sechs Stunden nach Berlin, und alles, was wir kaufen und verkaufen, es kommt und geht auf dem See. Wir bringen keine Fische mehr zu Markte, denn wir haben keine mehr, aber Garten- und Feldfrüchte, Weintrauben und Obst und Holz und Torf.

Das gibt so was wie Handel und Wandel … Große Spreekähne kommen und gehen jetzt täglich, das machen die neuen Ziegeleien. Überall hier herum liegt fetter Ton unterm Sand, und wenn Sie nachts über Groß Köris hinaus bis an den Motzner See fahren, da glüht es und qualmt es rechts und links, als brennten die Dörfer. Öfen und Schornsteine, wohin Sie sehen. Meiner Mutter Bruder ist auch dabei … Ich weiß ganz bestimmt, dass er reich wird, und andere werden’s auch. Aber dass sie’s werden können, das macht der See …“

In so lebhaften Farben malte sie die Teupitzer Zukunft, dass Fontane nicht wagte, ihren Optimismus zu dämpfen. Überdies hieß es, das Boot läge bereit, um ihn zum Egsdorfer und Schweriner Werder zu rudern …

Diese Bootsfahrten auf dem buchten- und inselreichen See mit der märchenhaften Aussicht auf waldige Hügel, Schloss- und Kirchtürme bezauberten den in Berlin damals noch recht glück- und erfolglosen Balladendichter immer wieder aufs Neue. Er liebte den See zu allen Tageszeiten und bei jedem Wetter; das hellgrüne, durchsichtige Wasser bei Sonnenschein und das bleigraue Wasser im Regen. Ja, vor allem im Regen schien er ihm geheimnisvoll und seltsam beseelt, als wohne auf seinem Grunde noch immer die heidnische Göttin Nemissa, die wahre Liebe belohnte und Untreue rächte.

Im hohen Alter, als der Dichter schon ein gut Stück von der Welt gesehen hatte, gestand er: „Ich habe Sehnsucht nach dem Teupitzer See. Ist es seine Schönheit allein, oder zieht mich der Zauber, den das Schweigen hat? Jenes Schweigen, das etwas verschweigt …“ Der See hat dem guten alten Fontane einiges verschwiegen, und auch die Stern-Wirtin schien ihn nicht aufgeklärt zu haben über den Mann, dem der See – ach, was sag ich –, dem zweiunddreißig Seen und knapp tausend Morgen Land rundum gehörten. Er hieß Baron von Parpart–Parcobron und war von 1860 bis 1910 Herr auf Teupitz.

Sein Bildnis findet man in der hervorragenden Teupitzer Chronik von Hans Sussmann, doch der wilhelminisch aufgezwirbelte Geheimratsbart des Herrn Baron lässt nicht vermuten, was für ein Halsabschneider sich dahinter verbarg. Er brachte die verfallene Ritterburg Teupitz in den fünfzig Jahren seiner Herrschaft zwar wieder auf Hochglanz, das ist unbestritten, „aber fragt mich nur nicht, wie“.

Seine Tagelöhner, die den ganzen Tag für fünfundzwanzig Pfennig in den Weinbergen gearbeitet hatten, mussten bei sinkender Sonne mit den traubenschweren Karren nach Berlin, um die köstlichen Früchte so frisch wie möglich abzuliefern. Sie bekamen dafür fünfundsiebzig Pfennig Botenlohn. Auf dem Heimweg nahmen sie irgendwo im Straßengraben eine Mütze voll Schlaf, und am andern Morgen ging die Arbeit weiter.

Weintrauben, Garten- und Feldfrüchte sowie die verpachteten Seen brachten aber noch nicht genug ein. Um als Rittergut zu gelten und steuerlich begünstigt zu werden, musste der Baron jährlich tausend Taler erwirtschaften. Da aus den Tagelöhnern nicht mehr herauszupressen war, verfiel er auf einen grandiosen Piratenstreich: Er ließ an der Kanaleinfahrt zum Mochheidegraben eine Eisenkette spannen, und jedes Mal, wenn sich ein Wirtschaftskahn, ein Dampfer oder Segelboot auf offener Wasserstraße von Berlin her näherte, ließ Ketten-Schulze im Auftrage des Herrn Baron die Kette runter und kassierte an einer langen Stange, an deren Ende ein Beutel hing, den Durchfahrtzoll. Die Höhe hatte der Herr Baron persönlich festgesetzt, als Besitzer des Sees, so meinte er, stände ihm dies zu. Das ging, solang es ging, bis nämlich der Berliner Ruderverein zusammen mit ansässigen Gutsbesitzern den adligen Piraten verklagte. Der Prozess zog sich über Jahre hin. Und er verschlang mehr Geld, als Parparts Tagelöhner jemals im Leben verdienen konnten. Am Ende aber war alles für die Katz, denn als das Kammergericht 1910 endlich entschied, dass der Wasserweg zum Teupitzer See ein öffentlicher und die Erhebung von Durchfahrtgebühren daher unzulässig sei, da war Baron Parpart–Parcobron mit vierundneunzig Jahren gerade verstorben.

Die Sportler aber hatten von da an auf dem Teupitzer See freie Fahrt.

Wenn sich damals die Stern-Wirtin von den glühenden Öfen und den qualmenden Schornsteinen rund um Teupitz Arbeit für alle und sogar Reichtum versprach, so sollte sie sich bitter getäuscht haben. Manches Unternehmen fing zwar recht verheißungsvoll an, endete aber meist mit einer Bauchlandung. Da beobachtete zum Beispiel – noch zu Fontanes Lebzeiten – ein Berliner Geschäftsmann, dass die Leute aus Teupitz, Tornow, Neuendorf, Egsdorf und Töpchin nicht nur nach Karpfen und Zander, sondern auch nach Kohle fischten. Auf dem Grunde des kleinen, flachen Lebersees lagerten Braunkohlestücke in Massen. Sie trockneten schnell und heizten besser als der allgemein übliche Torf.

Unverzüglich ließ der Unternehmungslustige in der stillen Gegend nach Kohle bohren. Und als der erste Versuch vage Hoffnungen weckte, da gründete er – ohne die näheren Umstände erforscht zu haben – eine Aktiengesellschaft. In allen Berliner Tageszeitungen und vor allem im Börsenblatt rührte er die Werbetrommel und brachte eine erkleckliche Summe zusammen, zum überwiegenden Teil aus Kleinaktien.

Den Herren des Direktoriums wurde sehr schnell klar, dass der Teupitzer Schacht ein Fiasko war, doch sie trommelten umso lauter, trommelten sogar noch, als der Teupitzer See in den Schacht drückte und das Grundwasser bereits erschreckend hoch stand. Die Grubenleitung sah sich außerstande, die fälligen Wochenlöhne zu zahlen. Die Frauen der Betrogenen rückten mit Handwagen an, um die Braunkohle von den Halden zu fahren und so wenigstens als Entschädigung eine warme Stube zu haben. Als sich das Dilemma gerüchtweise bis Berlin herumgesprochen hatte, reisten viele verunsicherte Aktionäre an, um sich von der Lage der Dinge selbst zu überzeugen. In den Schacht fuhren sie natürlich nicht, sie begnügten sich damit, die stattliche Halde aus Braunkohle zu besichtigen, die am Rande des Schachtes lagerte, und fuhren beruhigt nach Hause. Sie ahnten nicht, dass die Kohle heimlich aus Senftenberg angefahren worden war, um den Geldgebern dicke Pfründe vorzugaukeln.

Im Jahre 1893 soff der Tagebau endgültig ab und mit ihm die kümmerliche technische Einrichtung. Was übrig blieb, waren nach vorsichtiger Schätzung Betriebsschulden in Höhe von einer Million siebenhundertfünfzigtausend Goldmark. Das Geld der kleinen Aktionäre. Sie konnten sich’s in den Schornstein schreiben.

Die Herren des Direktoriums aber lehnten sich behaglich in die Sessel ihrer neu erbauten Villen – einen Nutzen mussten die aufregenden Jahre doch schließlich gehabt haben – und stießen mit Champagner auf die Unbestechlichkeit der preußischen Justiz an.

Immer waren die kleinen Leute die Angemeierten. Und in Teupitz waren die kleinen Leute besonders klein. Deshalb verfuhren die Großen auch mit ihnen nach Belieben. Als Albrecht der Bär sich im zwölften Jahrhundert die Altmark, den Teltow und Barnim einverleibte und zum Markgrafen von Brandenburg aufrückte, lebten die Teupitzer bereits im Schutze ihrer wendischen Wasserburg, to dem Tupcz geheißen. Slawisten übersetzten das auf verschiedene Weise. Sie leiteten den Namen von tupiza, dem stumpfen Beil, von dubica, dem Eichenwäldchen, oder auch von tupuca ab, was so viel bedeutet wie Schwachkopf oder Hinterwäldler. Zweihundert Jahre lang gehörten die Teupitzer dem märkischen Vasallengeschlecht derer von Plozeke, dann verpfändete der Markgraf von Brandenburg, um aus Geldverlegenheiten zu kommen, einen Teil der Lausitz an den Herzog von Sachsen; auch die Herrschaft Teupitz fiel darunter. Und die Teupitzer Fischer, Bauern, Schäfer und Kossäten waren nun Untertanen der Schenken von Landsberg. Das waren hohe Herren am kaiserlichen Hofe, die unumstritten über vier Jahrhunderte herrschten.

Das heißt, bei dem Wort unumstritten zögere ich, denn mir fällt die Geschichte von Michael Kohlhaas, der eigentlich Hans Kohlhase hieß, ein. Das war ein unscheinbarer Kaufmann, der in den Dörfern Getreide, Speck und Honig aufkaufte, um es in der Stadt anzubieten. Nun riss aber zu der Zeit der verwilderte Landadel immer rigoroser das Aufkaufmonopol an sich, um zum Beispiel Getreide zu horten und damit zu wuchern. Manch kleiner Mann geriet dadurch an den Bettelstab. Auch Kohlhaas steckte in Schulden. Er setzte alle Hoffnung auf die Herbstmesse 1532 in Leipzig. Die Kramwaren hatte er vorausgeschickt, er selbst ritt mit zwei Wechselpferden hinterher. An der Mulde überfielen ihn die Spießgesellen des Junkers von Zaschwitz und nahmen ihm die Pferde ab, da diese angeblich gestohlen seien. Zu Fuß musste Kohlhaas weiter und kam in Leipzig an, als die Messe vorbei war. Seine Waren konnte er nur noch mit Verlust losschlagen. Doch die wohllöbliche Kaufmannschaft bescheinigte ihm, „dass er ein lauterer und frommer Mann von gutem Wandel sey, der seine Pferde ehrlich erworben“. Der Junker von Zaschwitz warf das Papier hohnlachend ins Feuer. Dann bot er ihm zynisch an, die Pferde zurückzukaufen, wenn ihm so viel daran läge, und nannte einen unverschämten Preis, den Kohlhaas weder annehmen konnte noch wollte.

In Berlin hatte sich sein Unglück schon herumgesprochen, die Gläubiger forderten ihr Geld. Kohlhaas war ruiniert. Er klagte beim Kurfürsten von Brandenburg, der wollte sich nicht mit dem sächsischen anlegen, denn beide steckten zusammen mit den Fuggern und dem Heiligen Stuhl in Rom in Ablassgeschäften. Da hackt eine Krähe der andern doch kein Auge aus …

Kohlhaasens Klage wurde von einer Instanz zur andern abgeschoben. Die Pferde waren inzwischen reif für den Abdecker. Nach achtzehn Monaten vergeblichen Bittens schlug es bei ihm dreizehn: „Da mir außer Leib und Leben nichts geblieben, poche ich auf meine Menschenwürde, die mit keinem Gold noch Silber zu bezahlen ist. Ich will sein Gottes und aller Freund, allein des Junkers von Zaschwitz und des ganzen sächsischen Adels Feind. Möge er sich beizeiten mit Wasser und festen Scheunen einrichten, auf dass ich ihn samt seinem Schlosse verbrenne!“

Er sprach in den Vorstädten, auf den Märkten, aber wenn man zugreifen wollte, war er verschwunden. Überall fand er Unterschlupf. Am Teupitzer See fühlte er sich besonders sicher. Allzu oft war die Gegend von sächsischen Raubrittern heimgesucht worden, nun kam endlich einer, der es ihnen heimzahlte! Sogar der Amtmann war auf seiner Seite. Die Müller vom Tornowsee und der Krüger von Kleinköris gaben Kohlhaasens Leuten Proviant und Quartier, Handwerksburschen, Knechte und Tagelöhner führten ihn zu den Häusern der reichen Leuteschinder und beteiligten sich an den Strafgerichten. Auch die verwitwete Schenkin von Landsberg-Biberstein drückte beide Augen zu. Es ging ja nur gegen die sächsische Konkurrenz!

Nach zwei Jahren – den Junker Zaschwitz hatte inzwischen der Schlag getroffen – kam es endlich zur Gerichtsverhandlung. Im Dezember 1534 saß pelzvermummt der sächsische Adel zu Jüterbog einem halben Hundert verwegener Männer gegenüber, die „so geringen Standes waren, dass sich der kurfürstliche Schreiber weigerte, sie namentlich im Protokoll festzuhalten“. Und doch trugen sie den Sieg davon. Die Adelspartei bot Kohlhaas sechshundert Gulden Abfindung, woraufhin dieser die Fehde einstellte. Aufatmend unterschrieben beide Parteien den Vertrag. Der Kurfürst jedoch, empört, dass Adel und Landvogt vor „so einem Gesindel“ klein beigegeben hatten, erklärte Tage später den Vertrag für null und nichtig.

Hilfe suchend wandte sich Kohlhaas nun an Luther. Der antwortete ihm, was er 1525 schon den aufrührerischen Bauern gesagt hatte: „dass die Oberkeyt böse und unrecht ist, entschuldigt keyne Rotterey noch Aufruhr …“

Kohlhaas bemühte sich immer wieder um gütliche Einigung. Den anmaßenden Junker von Birkholz warnte er: „Legt Euch nit mit Hasen an, diese sind Wildbret und schwer zu fangen, auch vorzüglich dazu geeignet, die herrschaftlichen Kohlfelder abzufressen, sodass den Edlen am Ende nur die Strünke bleiben!“ Der sächsische Adel schlug Warnung und Mahnung in den Wind. Hätte er sich an den Rechtsvertrag von Jüterbog gehalten, so wäre aus dem gefürchteten Empörer sicher wieder ein friedlicher Kaufmann geworden; aber so, in seiner Menschenwürde immer und immer wieder zutiefst verletzt, von allen Oberen, auch von Luther verlassen und von den gleich ihm getretenen und gedemütigten kleinen Leuten als Rächer auf den Schild gehoben, blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Weg zu Ende zu gehen.

Im März 1540 wurde Michael Kohlhaas in Berlin aufs Rad geflochten. Vierzig seiner treuesten Anhänger endeten auf dem Schafott, einhundertundfünfzehn wurden zu schwerer Kerkerhaft verurteilt. Und achtzig Ortschaften mussten es bitter büßen, dass sie gewagt hatten, ihm Hilfe zu leisten. Eine dieser gebeutelten Ortschaften war Teupitz.

Die verschuldeten Schenken von Landsberg waren froh, dass sie die Herrschaft Teupitz 1717 an den König von Preußen verkaufen konnten. Friedrich Wilhelm I., bekannt als gewaltiger Jäger, reizten die weiten, wildreichen Wälder weit mehr als die Burg, an der sowieso nicht mehr viel dran war.

Teupitz wurde nun königliches Amt und bekam einen Pfarrer, der das Wort Gottes in reinstem Kanzleideutsch in die verstockten Köpfe hineinhämmerte. Vielleicht waren sie auch gar nicht so verstockt, wie es ihm schien, denn sie verstanden ihn nicht oder nur zur Hälfte, da Teupitz ja noch immer wendisches Sprachgebiet war. Wendisch jedoch galt so viel wie aufmüpfig, und deshalb setzte der König ihnen auch gleich einen preußischen Oberamtmann namens Westphal vor die Nase.

Wer heutzutage nach Teupitz kommt und den von Eichen und Linden bestandenen kleinen Marktplatz verlässt, wird in dem romantischen Winkel zwischen Pfarrhaus und Backsteinkirche auf den Namen Westphal stoßen. Die Inschrift deutet allerdings nicht im entferntesten auf die zwiespältige Funktion des königlichen Beamten hin.

Das Seitenportal der ursprünglich gotischen, aber durch die Jahrhunderte immer wieder umgebauten Backsteinkirche steht offen. Man kann es sich leisten. Schnöde Diebeshände sind nicht zu befürchten, denn es gab und gibt nichts, was sich wegzutragen lohnt. Die Teupitzer waren arme Leute und wahrscheinlich auch nicht übermäßig fromm. Nur wenige legten Wert darauf, sich in Stein zu verewigen, und das waren keine Einheimischen, sondern zugereiste Obrigkeit.

Aus dem akkurat gepflegten Rasen des Kirchhofs ragt eine einsame Sandsteinsäule zum Gedenken an Carl Ludwig Bein, dem letzten königlichen Oberamtmann von Teupitz. Er starb im zweiundvierzigsten Lebensjahr am 19. Juni 1803. „Er ist nicht mehr, der biedere, rechtschaffene, treue Gatte und Vater seiner lieben, unversorgten Kinder“, steht auf dem bemoosten Stein. Fast möchten einem die Tränen der Rührung kommen, wenn man nicht vorher in der Chronik Hans Sussmanns gelesen hätte: „Die Witwe des Oberamtmanns Bein kaufte Burg Teupitz mit allen Vorwerken, Seen, Teichen und Forsten für neunundsechzigtausend Taler.“ Demnach scheint er zu Lebzeiten schon ganz gut „vorgesorgt“ zu haben. Auf wessen Kosten? Das verschweigt die Säule natürlich.

Mit der Burg ging es im raschen Wechsel auf und ab. Sie war Rittergut, Gaststätte, Werkstatt für kunstvolle Stickereien und 1945 Lazarett. Zu allen Zeiten hatte sie den Mächtigsten im Lande gehört: zuerst den Rittern, dann dem König, dann den Neureichen der Gründerzeit – und heute dem Volk. Das heißt – von der Burg sind eigentlich nur noch ein Stückchen Wall und ein gestutzter Turm vorhanden. Auf den alten Fundamenten erheben sich jetzt moderne Gästehäuser, in denen vor allem verdienstvolle Kampfgefährten der Bruderparteien Genesung und Erholung finden.

Und was sich heute „Schenk von Landsberg“ nennt, hat mit der traurigen Vergangenheit des Schenkenländchens überhaupt nichts zu tun, es ist ein sehr zu empfehlendes öffentliches Etablissement, in dem man zwar kein historisches Flair, aber dafür alles findet, was Gaumen und Magen begehren: Hirschkeule mit Champignons, Hirschsteak mit Preiselbeeren und Apfelringen, Schildkröten-, Haifischflossen- und Känguruschwanzsuppe, scharfe ukrainische Soljanka und gutbürgerliche Gulaschsuppe, Omeletts con variazione und die dazu passenden Weine: Cabernet, Rieslinge, Traminer, Muskateller … Für die Verehrer des schwarzen Türkentranks alle Arten von Kaffee mit Gedichten aus Sahnequark, Eiern, Kirschen und Zitrone …

Hätte Fontane, der ja auch kein Kostverächter war, damals schon dieses Lokal gekannt, so wäre sein schwärmerischer Teupitz-Vers sicher um eine Strophe länger geworden.

 

Habe Dich ins Herz geschlossen,

Städtchen Teupitz klein und sauber,

werde nimmermehr vergessen

Deiner Reize milden Zauber.

 

Dieser Stammbuchvers von Theodor Fontane ist heute noch den vielen Ausflüglern aus dem Herzen gesprochen, die in der schönen Jahreszeit mit zwei oder vier Rädern, mit der Bahn oder mit dem Boot nach Teupitz kommen.

In Teupitz wirkt alles klein und anheimelnd. Der Marktplatz ist nur ein Plätzchen, aber mit prächtigen uralten Eichen, Linden und Kastanien besäumt, die sich auch die ganze Baruther Straße entlangziehen. Zur Freude der Spaziergänger und wahrscheinlich zum Leidwesen der dort Wohnenden, denn die Wurzeln sind längst durchs Mauerwerk in die Keller gedrungen, und die dichten Kronen lassen keinen Sonnenstrahl in die niedrigen Stuben.

Da ist noch das Torhaus, an dem früher bei Einbruch der Dunkelheit ein Balken quer über die einzige Straße gelegt wurde, um unliebsame Besucher fernzuhalten; da ist das klitzekleine Haus im bescheidensten Barock, vor dem man sich Postkutsche und Postillon vorstellen kann. Aber wer die Chronik gelesen hat, der weiß, dass sich auf dem Hof dieses freundlich anmutenden Gemäuers früher das Armenhaus und das Polizeigefängnis befanden und dass noch zu Fontanes Zeiten ein einziger Lehrer einhundertundzweiunddreißig Kinder unterrichtete. Das Städtlein Teupitz konnte einen zweiten Lehrer nicht bezahlen, und der preußische Staat hielt den Zuschuss für eine zweite Schulstube für rausgeschmissenes Geld. Was ein zukünftiger Tagelöhner wissen musste, das erfuhr er von Vater und Großvater, mehr Bildung konnte nur schaden. „Ein Ochs vor dem Pflug und einer dahinter“ war die landläufige Losung der Gutsherren, und in den herkömmlichen Wendendörfern hielt sie sich länger als anderswo.

Die Teupitzer Chronik ist wirklich eine nützliche Lektüre: Einerseits öffnet sie uns die Augen für den Zauber der Landschaft, andererseits bewahrt sie uns davor, sie allzu verklärt zu sehen.

Unter der dünnen Haut der Idylle brodelte oft ein Vulkan. Manchen Familienvätern, die mit Frau und Kindern oder auch schon mit den Enkeln nach Teupitz kommen, gelingt es nicht, die Landschaft unbeschwert zu erleben. Sie waren schon einmal in dieser Gegend, unfreiwillig, im April 1945. Und sie werden die Erinnerung daran nicht los.

In seinem Buch „Familienfoto“ schildert Wolfgang Eckert so einen Fall: Die Ferienfamilie geht in die Pilze. Man freut sich an Heidelerchen und Tagpfauenaugen. An der Stelle, wo sich die Straßen nach Egsdorf und Tornow gabeln, wundert sich die Tochter über die zahlreichen Löcher in den alten Bäumen. Gibt es denn so viele Spechte hier? fragt sie unschuldig. Das war ein Vierlingsgeschütz, sagt der Vater. Ihm wird plötzlich bewusst, dass dies die Stelle war, an der sie die Panzersperre errichtet hatten. Auf Befehl des Generals Busse. Um die Russen aufzuhalten. Bis der General Wenck käme mit seiner Armee von Tigerpanzern. Der würde sie retten. Sie und den Führer und das Großdeutsche Reich. Hatte man ihnen gesagt. Aber die Tigerpanzer kamen nicht. Stattdessen wurden müde, alte Volkssturmmänner und Halbwüchsige zu einem Haufen zusammengefegt, um die Reste der 9. Armee des Generals Busse aufzufüllen. Er war dabei. Siebzehnjährig.

Sie kamen gerade an, als die Erste Belorussische und die Erste Ukrainische Front völlig unerwartet mit dem Angriff begannen: „Mehr als hundert Flakscheinwerfer und Tausende von Leuchtkugeln tauchten die Landschaft in gleißendes Licht. Während sie fasziniert in den Stellungen hockten, richteten sich die Mündungsrohre der schweren Artillerie auf sie. Die Abschüsse waren zu hören, der Boden erzitterte, der Wald schwankte, die Erde brach auf. Nebelgeschosse nahmen ihnen die Sicht, und hinter dieser Nebelwand rückte das Gebrumme der T34 näher … Die 9. Armee hörte auf, eine Armee zu sein. Tagelang irrten sie durch die brennenden Wälder, überall Tote und Verwundete, stecken gebliebene Flüchtlingstrecks, elternlose Kinder. Sie aßen das Fleisch toter Pferde. Sie liefen und stolperten und fielen und glaubten sich schon tot und wunderten sich, dass sich die Beine noch bewegten … Am 26. April stießen sie auf einen sowjetischen Erkundungstrupp. So müde waren sie, dass sie schon keine Angst mehr hatten. Es war ihnen egal, ob sie schießen würden. Einen weißen Fetzen über dem Kopf haltend, liefen sie draufzu. Sie sahen, die andern waren genauso müde und verdreckt wie sie, aber sie hielten Maschinenpistolen in den Händen, äußerst wachsam. Was bei ihnen wie Müdigkeit aussah, war Enttäuschung über so viel Verirrte. Und das gab ihnen einen Zug von Menschlichkeit, den sie bei Barbaren nie erwartet hätten.“

In endloser Kolonne zogen die Gefangenen aus dem Kessel von Halbe auf Teupitz zu. An der Gabelung hier hatten sie zuletzt gehalten. Man erkannte die Panzersperre kaum wieder. Sie war samt ihren gläubigen Hitlerjungen zermalmt worden, zermalmt von den Panzerketten des Generals Busse, der sich im letzten Augenblick hatte den Weg freischießen lassen in Richtung Nordwesten, in seine persönliche Freiheit.

Er war wie ein Wunder davongekommen, als die Panzer dieses Generals über sie hinweggerollt waren.

Nachdem die Waffen endgültig schwiegen, brannte die Sonne auf das verwüstete Land, und der Pesthauch des Todes breitete sich aus. Wer noch am Leben war, musste mit hinaus, die Toten zu begraben. Klaftertiefe Trichter füllten sich mit Mensch und Tier, mit Munition und anderem Kriegsgerät. Monatelang wühlten sie wie die Maulwürfe, immer in Gefahr, auf eine Mine zu treten, auf Granaten zu stoßen.

Wer das alles erlebt hat mit siebzehn, wie soll der jemals wieder die Wälder um Teupitz mit unbefangenen Augen sehen?

Wenn zwei Menschen zur selben Zeit am selben Ort leben, noch dazu in so einem kleinen wie Teupitz, können sie doch durch Welten getrennt sein. Da war zum Beispiel Margaret Boveri, aus gutbürgerlichem Hause, Mitarbeiterin des „Berliner Tageblattes“ bis 1937, eine elegante Erscheinung, ständiger Gast im Hause des amerikanischen Botschafters, später Auslandskorrespondentin, teils schriftstellernd, teils in undurchsichtigen diplomatischen Diensten auf der Iberischen Halbinsel, einem Tummelplatz deutscher, spanischer und portugiesischer Faschisten. Zwischendurch – um sich von dem turbulenten Treiben in der Welt da draußen auszuruhen – immer mal wieder in ihrem Sommerhaus in Teupitz. Und da war Hans Sussmann. Ebenfalls aus gutbürgerlichem Hause. Er erlebte nach dem Berliner Gymnasium seine eigentliche Erziehung vor Verdun, als Freiwilliger mit Meldehund. Lernte dabei Arnold Zweig kennen. Und wer dessen Roman „Erziehung vor Verdun“ gelesen hat und sich an die Gestalt des Unteroffiziers Süßmann erinnert, der weiß, welcherart diese Erziehung gewesen ist. Vom ganzen Bataillon blieben sieben Mann am Leben. Grund genug für Hans Sussmann, sich November 1918 im Arbeiter- und Soldatenrat zu engagieren. Über die Roten Revuen kam er später mit Toller, Weinert und Heartfield zusammen und – folgerichtig – zur KPD.

Eigentlich führte er in Berlin zwei Leben: Tagsüber verkaufte er in seinem Seifenladen duftende Wässerchen an vornehme Damen und solche, die es gern sein wollten; abends hielt er in der MASCH spezielle Vorträge für kommunistische Abgeordnete über Mechanismen, Praktiken und Hintertüren des kapitalistischen Systems. Nachts klapperte im Hinterstübchen der gutbürgerlichen Drogerie der Abziehapparat; und in den frühen Morgenstunden verließ ein Bote mit dem Geschäftsrad ganz unauffällig das Haus. Zwischen den Persilkartons aber lagen – auf hauchdünnem Seidenpapier gedruckt – die Flugblätter.

Obwohl allerlei Großkopfeten in brauner Uniform tagsüber zu den Duftwasserkunden zählten, blieb Hans Sussmann wie durch ein Wunder all die Jahre ungeschoren. Niemand wusste, dass er über Albert Voigts durch ein vorsichtig und fein gesponnenes Netz mit der Schulze-Boysen-Harnack-Gruppe verbunden war. Das heißt, die alte Portiersfrau in Kreuzberg muss es geahnt haben, jedenfalls warnte sie ihn und seine Frau in letzter Minute, und so konnten sie mit dem Köfferchen voll Habseligkeiten untertauchen. Zuerst in Bad Elster, dann in Teupitz, wo sie den Schlüssel zu Doktor Gollwitzers Laube besaßen. Da es zu dieser Zeit in Teupitz von ausgebombten Berlinern wimmelte, fielen sie weiter nicht auf, und so konnte Hans Sussmann – fast als einziger der Gruppe – überleben.

Im Mai fünfundvierzig begegneten sich Frau Boveri und Hans Sussmann in Teupitz. Sie kam, um sich „nach dem Umsturz“ – wie sie es nannte – ihr Sommerhäuschen als zweiten Wohnsitz zu sichern. Er war „nach der Befreiung“ – wie er es nannte – von der sowjetischen Kommandantur als Bezirksbürgermeister für Teupitz, Mittenwalde und sechzehn Dörfer des ehemaligen Schenkenländchens eingesetzt und gerade dabei, eine Familie mit eigenen und aufgelesenen Kindern in Madame Boveris Sommerhaus unterzubringen.

„Wer gibt Ihnen das Recht, über mein Haus zu verfügen?“, fragte sie sehr von oben herab.

„Dreitausend Flüchtlinge, die allein in Teupitz ein Dach überm Kopf haben müssen“, antwortete Sussmann, „im Übrigen steht Ihnen frei, sich beim Kommandanten des Kreises Teltow zu beschweren.“

Die Lady machte auf dem Absatz kehrt. Dreiundzwanzig Jahre später erschien in München ein Buch von ihr mit dem Titel „Tage des Überlebens 1945“. Sie hatte kaum etwas gesehen, geschweige denn gelesen, hat Zahlen verwechselt oder verfälscht und das Ganze als Tatsachenbericht ausgegeben.

Hans Sussmann weiß, was es heißt, Historie aufzuarbeiten. Er selbst hat jahrzehntelang an den einhundertundfünfzig Seiten der Teupitzer Chronik geschrieben, in Archiven geforscht, Quellen verglichen, endlose Korrespondenzen geführt.

„Es ist kaum zu glauben“, sagt er, „wie wenig dazu gehört, in München so ein Buch zusammenzuklittern, wenn es nur gegen uns geht.“

Hans Sussmann ist ein Stück Geschichte von Teupitz und für manchen Jungen schon eine Art Legende. Als erster Bürgermeister in Teupitz hat er mitgeholfen, die Toten der Kesselschlacht von Halbe zu begraben, hat in den verwüsteten Wäldern Brennholz geschlagen für die Alten und mit eigenen Händen Kühe gemolken, um wenigstens an die Kleinstkinder Milch verteilen zu können, hat zerschossene Militärfahrzeuge umbauen lassen und massenweise Kriegsschrott gesammelt für Max, war lange Jahre verantwortlich für das schwierige Terrain der Bezirksnervenklinik, hat die schöne neue Willi-Bredel-Schule eingeweiht, Kindergärten und -krippen, das Volkshaus … hat unzählige Male vor jungen Soldaten und Offizieren gesprochen; manche nennen ihn Freund und Vater. Er hat für sich nie mehr in Anspruch genommen als ein winziges Haus mit einem Raum zum Wohnen und Arbeiten und einem zum Schlafen.

Nun ist er siebenundachtzig. Körperlich ein alter kranker Mann, aber es ist unglaublich, welche Kraft noch immer von ihm ausströmt. Die Energie und Leidenschaft, mit der er seine Aufgaben erfüllt, können manchen Jüngeren und Gesünderen beschämen.

Ich weiß nicht, ob Hans Sussmann Teupitz je als idyllisches Fleckchen Erde empfunden hat. Ich glaub eher, er hat immer nur die nächstanstehenden Aufgaben gesehen.

Jenseits des Teupitzer Sees habe ich einen Mann kennengelernt, der beides auf seinen breiten Schultern trägt: klare, nüchtern gestellte Aufgaben und Sinn für Schabernack. Zu finden ist Walter Stroff nicht so leicht. Irgendwo im Wald steht eine Mülltonne mit seiner Hausnummer. Ich stolziere drauflos, hundert Meter, zweihundert … Hähähä, lacht ein Eichelhäher. Lacht er mich aus? Endlich stoß ich auf einen Bootsschuppen, einen Stapel knorziger Äste, einen Korb mit Pilzen, und in den Ästen sitzen lauter verrückte Vögel in Frack und Zylinder, manche in Abendroben und mit Kalabreser. Der Vogelwalter ist überhaupt nicht überrascht, dass ihn jemand beim frugalen Mittagsmahle stört. „Is noch was im Topf, wolln Se mitessen? Sonst schmeckt’s nicht.“ Dann zeigt er mir seine tiefsinnig-heitere Vogelschar.

Wann fällt einem so was ein? Er lacht. „Wenn man genügend lange als Messearchitekt mit genormten Bauteilen gearbeitet hat, dann juckt es einen, mal ganz was anderes zu machen. Mein erster Professor an der Dresdener Kunsthochschule, Brockhage, das war ein Zauberer, der nahm een Stück Holz in die Hand – und ’s wurde Kunst draus …“

So ein Zauberer ist Walter Stroff inzwischen auch geworden. In seinem Berliner oder Leipziger Atelier wäre ihm sicher nichts dergleichen eingefallen, aber hier, mitten im Wald, wo man immer auf etwas wartet, dass der Karpfen beißt, dass die Meisen nisten, dass der Sprosser singt, dass jemand auf einen Snack vorbeikommt – da sprudeln die Ideen nur so. Spielplätze möchte er bevölkern mit seinen Vogelbäumen oder einen kleinen Platz in der Großstadt, wo die Alten gern sitzen. Am Morgen nach einer Sturmnacht, wenn er die abgebrochenen Äste aufsammelt, fliegen ihm die Ideen nur so zu. Meistens werden Liebespaare daraus, manche hingerissen und melodramatisch, manche reputierlich, da eine reine Vernunftehe, dort eine züchtige Hausfrau, die ihren Allotri von Ehegespons auf dem Kopfe trägt. Erträgt! Und dann ein geplagter Familienvater, dem die ganze Großfamilie auf dem Kopfe herumtanzt. Armer Theobald! Für fast jeden Vogel fallen einem entsprechende Namen ein. Mathilde Piepenbrock, geborene Meier, hat sich für den Gang zum Standesamt in ein taubenblaues Kostüm gezwängt mit weißem Kragen und Perlenkette. Sie strahlt vor Selbstgefälligkeit: Seht her, ich hab’s erreicht! Stundenlang könnte man Vogelwalters hintergründige Fabelwesen anschauen, doch im Hintergrund mahnt das Reißbrett: Erst die Pflicht und dann ’s Vergnügen! Da geh ich lieber.

Noch ganz eingesponnen in Poesie, gehe ich den Waldweg zum Auto zurück. Patsch! macht es, und etwas weißlich graues klatscht mitten auf die Motorhaube. Auf dem Buchenast sitzt – Mathilde Piepenbrock, geborene Meier, in taubenblauem Kostüm mit weißem Kragen, sie wippt mit ihrem breiten Stert und lacht. „Mathilde“, rufe ich, „das ist aber nicht die vornehme englische Art!“ – „Papperlapapp!“, gurrt sie und fliegt davon.

Wenn Sie zum Teupitzer See fahren, lieber Leser, grüßen Sie Mathilde von mir!

Dichtung und Wahrheit um den Scharmützelsee

Mühelos kommt man heutzutage nach Bad Saarow. Bei Fürstenwalde biegen wir von der Autobahn Berlin–Frankfurt (Oder) ab und sind im Handumdrehen am Scharmützelsee. „Dieser See, von sanften Hügeln umwaldet, hat von jeher die Künstler angezogen“, so steht es im Werbeprospekt der Stadt. Was heißt „von jeher“? Der erste Dichter, der nachweislich in diese Gegend reiste, war Theodor Fontane, und das war im Jahre 1881. Er kam auch nicht wegen der Schönheit des Sees – die hatte sich damals noch gar nicht bis Berlin herumgesprochen –, verwechselte sogar seinen Namen und sprach stets vom Schermützelsee. Fontane wollte sich auf seiner Osterfahrt ins Land Beeskow–Storkow lediglich davon überzeugen, ob noch Spuren der Löschebrands zu finden waren.

Den Löschebrands, einem alten märkischen Junkergeschlecht, gehörte über sieben Generationen alles Land ringsum, zuletzt auch der See. Um es vorwegzunehmen: dieses „Geschlecht von Schwertmagen und Kriegsgurgeln“ enttäuschte ihn. Dafür lernte er jedoch auf dieser Fahrt einen Mann kennen, der ihn für alles entschädigte. Es war dies der Kutscher Moll, „der in Potsdam bei den Ulanen gedient und dessen gesunder Menschenverstand weder dadurch noch durch die Lektüre von Büchern und Zeitungen gelitten hatte“. Durch ihn offenbarte sich dem Dichter die Denkweise der einfachen Leute, die hier auf dem blanken märkischen Sande mühsam ihr Leben fristeten. Moll hatte es immerhin zu zwei Pferden gebracht. Mit ihnen kutschierte er den neugierigen Herrn aus Berlin von Fürstenwalde an den Scharmützelsee. Als sie, von den Rauenschen Bergen kommend, das Nordufer erreichten, läuteten gerade die Mittagsglocken des Pieskower Kirchturms. Die Pferde schnaubten und dampften vor Anstrengung. Um sie zu schonen, entschloss sich Fontane, das Gefährt allein nach Pieskow fahren zu lassen, während er auf Schusters Rappen Dorf Saarow erreichen wollte. Mit dem Fährboot konnte er dann nach Pieskow übersetzen. „Es war ein wundervoller Weg; über dem blauen Wasser wölbte sich der blauere Himmel, Borkenstücke tanzten auf dem flimmernden See, der im Übrigen, all diesem Flimmern und Schimmern zum Trotz, einen tiefen Ernst und nur Einsamkeit und Stille zeigte. Nirgends ein Fischerboot, ja, kaum ein Vogel, der über die Fläche hinflog. Oft hielt ich an, um zu horchen, aber die Stille blieb, und ich hörte nichts als den Windzug in den Binsen und das leise Klatschen der Wellen.“

Am Rande des Dorfes Saarow traf Fontane eine alte Frau, die Strauch- und Reisigbündel aus der Heide geholt hatte. „Na, Mütterchen“, sagte er, „is wohl ’n bisschen schwer? Und die Sonne sticht heute so. Sie müssen die Kinder in den Wald schicken. Oder haben Sie keine?“

„Woll, woll, Kinder hebb ick, un Enkelkinner ook. Awers se wulln joa nich. Un se künn’ ook nich. Se möten joa all in de School.“

„Haben Sie denn auch eine Kirche in Saarow?“

„Nei. Wi möten nach Reichenwald.“

„Das ist da, wo sie den alten Rittmeister begraben haben. Haben Sie den noch gekannt?“

„O wat wihr ick nich?“

„Und – wie war er denn?“

„Na, he wihr so wit janz goot. Bloot man en beeten schnaaksch un wunnerlich, un ook woll en beeten to sihr för de Fruenslüd. Awers nu is he ja dod.“

„Und hat wohl ein Denkmal? Ich meine, so was aus Stein oder Eisen. Eine Figur oder einen Engel mit ’nem Spruch oder Gesangbuchvers?“

„Ne, för so wat wihr he nich.“

„Und ist sonst noch was in Saarow zu sehen?“

„Ick glöw nich. Veel is hier nich in Saarow. En nijen Kohstall …“

Das war’s wohl nicht gerade, weswegen sich Fontane die Schlupfstiefel mit Sand gefüllt hatte … Also in Saarow war nichts, und in Pieskow war auch nichts. Die Löschebrands hatten sich als unergiebig erwiesen. Und dennoch sollte gerade dieses Kapitel seiner späten „Wanderungen“ zu den wertvollsten gehören, weil er darin den einfachen Leuten „aufs Maul geschaut“ hatte: dem Kutscher, dem Fährjungen, dem Holzweiblein, der Frau in der ärmlichen Krugstube, und weil er sie ernst nahm mit ihren Ansichten vom Leben, ihrem klaglosen, ausdauernden Kampf ums Dasein, ihren bescheidenen Freuden und ihrer großen Sehnsucht nach dem Glück. Hier klingt bereits an, was er Jahre später in einem Brief an den englischen Arzt James Morris unmissverständlich aussprach: „Alles Interesse ruht beim vierten Stand. Der Bourgeois ist furchtbar, Adel und Klerus altbacken, immer dasselbe. Die neue, bessere Welt fängt erst beim vierten Stande an.“

Am Nordufer des Scharmützelsees stieß Fontane nur auf ein einsames Försterhaus, das wiederum aus einer sehr viel älteren Pechhütte hervorgegangen war, die natürlich auch den Löschebrands gehörte. Das heißt zu Fontanes Zeiten schon nicht mehr, da war ihr Glücksstern bereits erloschen. Land und See wechselten mehrfach den Besitzer, bis die Landbank AG im Jahre 1905 die Güter Saarow und Pieskow erwarb, um auf den Ländereien eine Villenkolonie zu errichten für Berliner, die es sich leisten konnten, in den Sommermonaten der staubigen Großstadt fernzubleiben. Für die neuen Gäste musste Saarow rasch „an die Zivilisation angeschlossen werden“.

Die Kutschen wurden von Pferdeomnibussen abgelöst, denen die Eisenbahn folgte; und als der Wasserturm stand, ließen Elektrizitätswerk und Postamt nicht lange auf sich warten.

Bei den ersten größeren Bauarbeiten war man 1912 auf den Wierichwiesen auf Raseneisenmoor gestoßen, das clevere Unternehmer sofort ausnutzten. Unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs öffnete das Moorbad seine Pforten, und alle kapitalkräftigen Zeitungen Berlins warben und sparten nicht mit Superlativen. Tatsächlich muss das Moor im Verein mit der guten, sauerstoffreichen Luft und der windgeschützten Lage verblüffende Heilerfolge erzielt haben.

Im Juli 1921 schrieb Lenin an Maxim Gorki in einem Brief unter anderem: „… Sie husten Blut und fahren nicht? Das ist doch aber wirklich gewissenlos und unvernünftig … In Europa werden Sie sich in einem guten Sanatorium kurieren lassen und dreimal so viel schaffen. Ganz bestimmt.“

Gorki zögerte. Wie konnte er wegfahren zu einem Zeitpunkt, da das Schicksal der jungen Sowjetmacht auf des Messers Schneide stand. Das würde ja wie Fahnenflucht aussehen.

Länger als ein Jahr bestand Lenin hartnäckig darauf, dass er fahren müsse, weil er die Pflicht habe, gesund zu werden. „Fahren Sie, lassen Sie sich auskurieren. Seien Sie nicht so dickköpfig. Ich bitte Sie. Ihr Lenin.“

Gorki war gerührt, dass der mit Arbeit überhäufte Mann daran dachte, dass er, ein durchaus nicht immer bequemer Dichter, krank war und Erholung brauchte. Und er fuhr. An Berlin banden ihn die angenehmsten Erinnerungen. Hier war im Januar 1903 am Kleinen Theater, drei Wochen nach der Uraufführung im Moskauer Künstlertheater, sein „Nachtasyl“ inszeniert und innerhalb von drei Jahren über fünfhundertmal gespielt worden. Und als Gorki wegen seiner Teilnahme an der Revolution 1905 in die Peter-Paul-Festung geworfen wurde, war es das „Berliner Tageblatt“, das den Aufruf zu seiner Rettung veröffentlichte. Die Theaterleute an der Spitze: Max Reinhardt, Eduard von Winterstein und Richard Vallentin, der in „Nachtasyl“ Regie geführt und den Satin gespielt hatte; ihnen zur Seite Gerhart Hauptmann, Anatole France, Hermann Hesse, Christian Morgenstern, Richard Dehmel, Peter Rosegger, Max Liebermann, Max Klinger und andere. Gorki wusste also, dass er in Berlin Freunde hatte. Möglicherweise kam er durch sie am 27. September 1922 nach Saarow.

Wenige Wochen später besuchte ihn dort Egon Erwin Kisch im Auftrag der „Roten Fahne“. Er schrieb: „Draußen in Saarow-Pieskow war Winter. Die Villen schliefen hinter herabgelassenen Fensterläden, und den Scharmützelsee durchfuhr kein Segelboot und keine Jacht. Im Sanatorium hatte … Maxim Gorki seine Wohnung. Zwei Zimmerchen, in denen er so fremd wirkte und die so vorläufig wirkten, als wäre der Bewohner auf dem Sprung weiterzuziehen wie vor dreißig Jahren, da er über die Ebene wanderte und in Heuschobern schlief und da er Menschen kannte, die einander wegen zehn Kopeken ermordeten …“ Aus jeder Zeile spürt man Kischs tiefe Freude, mit Maxim Gorki sprechen zu dürfen, zum einen, weil er ihn von Jugend an, eigentlich seit dem „Sturmvogel“, liebte und verehrte, und zum andern, weil er nun in der Lage war, allen Gehässigkeiten entgegnen zu können, die reaktionäre Zeitungen über Gorki verbreitet hatten. Er sei gar nicht krank, geiferten sie, er habe sich von den Bolschewiki losgesagt und Sowjetrußland ein für alle Mal den Rücken gekehrt.

Die Abteilung I A im Berliner Polizeipräsidium wusste es besser und forderte vom Amtsvorsteher Kopp aus Saarow regelmäßigen Bericht über einen gewissen Alexej Peschkoff, genannt Maxim Gorki, und seinen Anhang. Kopp belauerte den Fremden wochenlang, befragte die Kaufmannsfrau, den Wirt, bei dem Gorki zuweilen den Abendschoppen trank, sogar die Kinder, denen er Bonbons geschenkt.

Alle schilderten ihn als freundlich und bescheiden, sodass Kopp nur berichten konnte: „… Es hat sich hier in dem Verkehr des Herrn Gorki, der nur wenig Deutsch versteht, nichts zugetragen … er arbeitet ununterbrochen an seinem Schreibtisch und verlässt kaum das Haus. Die geschäftlichen Angelegenheiten besorgen die Sekretärin und der Sohn … Neuerdings ist ein russisches Paar hinzugekommen, sie wohnen im Bahnhofshotel, stehen aber mit den Gorkis in steter Verbindung. Es macht keinesfalls den Eindruck, dass die Russen aus Gesundheitsrücksichten hier wohnen. Es ist eine ausgesprochen politische Zentrale, ob bolschewistischer Art lässt sich nicht feststellen. Gorkis Sohn soll entschiedener Bolschewist sein … Es herrscht, besonders sonntags, ein reger geschäftlicher Verkehr von außerhalb mittels Autos, Wagen und Radfahrern …“ Kisch gehörte demnach auch zum „geschäftlichen Verkehr von außerhalb“.

Armer Kopp. Sein Beamtenhirn registrierte lediglich, dass sich „hierselbst nichts von Bedeutung zugetragen“ habe … Nichts von Bedeutung! Dabei beendete Gorki hier „Meine Universitäten“ und nahm „Das Werk der Artamonows“ in Angriff, Literatur, von denen Dichter kommender Generationen wie Jurij Brezan sagen würden: „Wenn ich nicht in einer entscheidenden Phase meines Lebens Maxim Gorkis Bücher kennengelernt hätte, wäre ich vermutlich nie Schriftsteller geworden.“

Was beweist der kleine Kopp? Dass es noch gar nichts bedeutet, Augenzeuge eines Ereignisses zu sein; auf welche Weise man daran beteiligt ist, darauf kommt es an.

In einem Punkte aber muss man den preußischen Beamtenseelen dankbar sein: Ihre ausführlichen Berichte bereichern heute die Gedenkstätte für Maxim Gorki in Bad Saarow und vermitteln uns aufschlussreiche Einzelheiten über Gorkis Aufenthalt. Wenn man die Fotos jener Zeit betrachtet oder die einfühlsame Stele Arnd Wittigs, die heute vor dem Hause steht, erkennt man deutlich, wie ausgezehrt und von der Krankheit geschwächt Gorkis Körper war, und wie unerbittlich hat er dagegen angeschrieben … Der Bahnhofsvorsteher von Saarow behauptete, Gorki habe im Gewimmel auf dem Bahnsteig alle anderen überragt. Er fiel auf, aber nicht allein wegen seiner leiblichen Größe oder seines Schlapphutes und des weiten, pelerinenartigen Mantels, sondern vor allem wegen seiner Haltung. Selbst wer noch nie von ihm gehört oder gelesen hatte, blieb stehen und fragte: Wer ist das?

Es gibt Saarower, die sich gut an ihn erinnern, obwohl sie damals noch Kinder waren. Heute ist Gorki in Bad Saarow ein Haus gewidmet, das er zwar nie bewohnte, das ihm aber angemessen ist. Den Blockhäusern der Potsdamer Russischen Kolonie nachempfunden, gehört es zu den anheimelndsten des Ortes. Ich habe eine Weile davor auf einer Bank gesessen, in die Herbstsonne geblinzelt und die Menschen beobachtet, die dort ein und aus gingen. Die meisten kamen nicht in Gruppen, eine Pflichtübung zu absolvieren, sondern einzeln, aus eigenem Antrieb. Die Sowjetbürger erkannte man daran, dass sie das Haus auf besondere Art betraten, fast andächtig, wie eine Pilgerstätte, und dass sie alle, ausnahmslos, mit einem leisen, nachdenklichen Lächeln herauskamen. Ich hätte viel dafür gegeben, ihre Gedanken lesen zu können.