Impressum

Gisela Heller

Potsdamer Geschichten

 

ISBN 978-3-95655-828-3 (E–Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1993 im arani-Verlag GmbH, Berlin.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2019 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

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Für meinen Vater

Vorab

„Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“, schrieb Schiller über Wallenstein. Das trifft mit Fug und Recht auch auf Potsdam zu. Dem einen ist es romantisch verklärte Residenz, dem andern finstere Brutstätte des preußisch-deutschen Militarismus. Und die Wahrheit liegt nicht in der Mitte.

Wo findet man sie überhaupt?

Ich versuchte, alle Zensuren, die andere ausgeteilt, zu vergessen und ging hin, an den Quellen zu graben: Tagebücher, Petitionen, Prozessakten, Adressbücher, Liebes- und Bankrotterklärungen, Schmähschriften und Weihegesänge, Inserate und Gesellschaftsklatsch aus verblichenen Zeitungen …

Das alles schwirrte mir im Kopf umher; wie benommen spazierte ich danach durch die Straßen, die ich zu kennen glaubte und fand sie auf einmal voller Geheimnisse. Doch waren die Sinne geschärft für das, was sich hinter neu verputzten oder bröckelnden Fassaden einst zutrug. Ich fragte mich: Wer mag hier gelebt, geliebt, gedarbt oder Triumphe gefeiert haben? Wer vollbrachte große Taten oder wurde daran gehindert? Von wem und warum?

Die Antworten ergaben unversehens Lebensgeschichten, Geschichten von gekrönten Häuptern und abgefeimten Spitzbuben, von Helden und Philosophen, Idealisten und Karrieristen, von Sturköpfen und Wendehälsen, von Menschen, die unter den Fittichen des Adlers Schutz fanden und solchen, die seine Krallen spürten.

Ich gab es auf, nach der sogenannten historischen Wahrheit zu suchen, denn jede der widersprüchlichen Geschichten hat ihre eigene Wahrheit.

Lustgarten

Wie nähert man sich einer tausendjährigen, umstrittenen Schönen? Am besten aus respektvoller Distanz. Siebzehn Stockwerke werden genügen. Beginnen wir also im Café „Bellevue“ des Hotels Potsdam, das sich wie ein architektonisches Ausrufezeichen just an jener Stelle erhebt, wo poztupimi – sehr allmählich – aus dem Sumpfe aufgestiegen ist. Hier oben, wolkennah, gewinnt man den nötigen historischen Abstand zu den Dingen, fühlt man sich abgehoben wie in einem Raumschiff. Beugt man sich vor zur südlichen Seite, taucht ein Meer von roten und altersbraunen Ziegeldächern auf, Türme und Kuppeln scheinen darin zu schwimmen; und vor dem grünen Horizont ragen da und dort helle Hochhäuser in den Himmel. An der Nordseite des Hotels fließt die Havel, auf der Schwäne wie weiße Blumen blühen.

Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts saß hier – nur eben siebzehn Etagen tiefer – am Brunnenrand einer vergoldeten Fontäne der Dichter Bellamintes und besang „das blaue Band der Havel, das mit liebenden Armen das itzt blühende Potztamp umschlingt“. Er pries die wildreichen Wälder mit ihren starken Eichen, die schimmernden Reben und Aprikosen und vor allem natürlich den Mann, dem dies alles gehörte: Friedrich I. von Hohenzollern, erster König in Preußen. Weniger emphatische Zeitgenossen dagegen klagten, das „Städtegen“ sei ein Fieberloch, ein Schlangennest, das nach sieben Jahrhunderten gerade erst mit der Nase aus dem Sumpfe rage …

In der Tat war die Fischersiedlung Poztupimi nur allmählich aus der Namenlosigkeit aufgestiegen. 993 erschien sie zum ersten Mal auf einer Urkunde, in der Kaiser Otto III. sie seiner Tante schenkte, der Äbtissin von Quedlinburg. Es war eine reine Farce, denn Poztupimi war, wie alles Land zwischen Havel und Elbe, längst wieder von slawischen Fürsten zurückerobert. Hundertfünfzig Jahre hielten sie es fest in ihrem Besitz, bis sie von Albrecht dem Bären endgültig besiegt wurden.

Zu der Zeit muss es an diesem Ufer neben den Fischerhütten schon eine palisadenbewehrte Erdburg gegeben haben.

Das erste Stadtsiegel trägt die Jahreszahl 1317. Doch krähte zu dieser Zeit noch kein Hahn nach diesem Nest, das von den jeweiligen Herren verkauft, verpfändet, im Spiel verloren oder als Prellbock in den Händeln untereinander benutzt wurde. Hauptstadt der Mark war unumstritten die Churstadt Brandenburg. Als der Ruf des dortigen Schöppenstuhls bereits bis Polen und Böhmen gedrungen war, tauchte in den uns überlieferten Zeugnissen der erste namentlich genannte Potsdamer Bürger auf. Doch war kein Staat mit ihm zu machen, es war ein Pferdedieb, der 1409 in Berlin gehenkt wurde.

Bald darauf, 1415, kamen die Hohenzollern in die Mark und errichteten ihre Hausmacht mit Methoden, die denen der Raubritter nicht unähnlich waren, doch betrieben sie ihr Handwerk „von Gottes Gnaden“ und galten deshalb als unantastbar. Die Rechte der selbstbewussten Städte beschnitten sie rigoros. Das stolze Brandenburg traf es am härtesten. Es zehrte noch eine Weile vom bleichenden Ruhm, dann brach der Dreißigjährige Krieg herein, und noch hundert Jahre danach lag es wund und ausgeblutet.

Potsdam erging es nicht besser. Zwölf Jahre nach dem Friedensschluss von 1648 kräuselte nur noch aus einer von drei Feuerstellen spärlicher Rauch. Die Mark war ausgebeutet und menschenarm. Um Wirtschaft und Handel zu beleben, entschloss sich der Große Kurfürst, das Land energisch zu bevölkern. Ludwig XIV. kam ihm bei diesem Vorhaben ungewollt entgegen. In blindem Fanatismus hatte er das Toleranzedikt von Nantes, das allen Anhängern der reformierten Kirche Glaubensfreiheit zubilligte, für null und nichtig erklärt. Auf flammten wieder die Scheiterhaufen der Inquisition. Die nicht abschwören sollten, wurden aufs Rad geflochten, verbrannt oder auf die Galeere geschickt, Frauen und Kinder hinter Klostermauern gesperrt.

Ein ungeheurer Exodus setzte ein. Hunderttausende ehrbare Handwerker und strebsame Kaufleute suchten Zuflucht in England, den Niederlanden und in Nordamerika. Der Kurfürst von Brandenburg musste sich beeilen, den Menschenstrom in seine märkische Streusandbüchse zu leiten, darum erließ er im Oktober 1685 das Edikt von Potsdam, das nicht nur Glaubensfreiheit, sondern großzügige Starthilfe in der neuen Heimat versprach. Und es kamen zwanzigtausend charakterfeste Leute, von Angst und Strapazen gezeichnet, bescheiden und unendlich dankbar. Hugenotten oder Refugies nannten sich die Flüchtlinge. Neben feineren Sitten und höflicheren Umgangsformen als den hierzulande üblichen brachten sie viele segensreiche Kenntnisse und Fertigkeiten mit, nicht nur die Kunst der Damast- und Seidenweberei, auch die Erfahrung im Anbau von Tabak und Kartoffeln, von Spargel, Rosen- und Blumenkohl. In wenigen Jahren zahlten sie die allergnädigste kurfürstliche Starthilfe hundertfach zurück.

Der Kurfürst dachte realistisch. Ihm war es gleich, zu welchem Gott, in welcher Kirche seine Untertanen an jedem siebenten Tage beteten, wenn sie nur in den übrigen sechs Tagen fleißig arbeiteten und ihm keine Scherereien bereiteten. Er ließ die Residenzen von Berlin und Cölln ausbauen, die alte düstere Burg zu Potztamp wurde abgerissen. An ihrer Stelle errichtete der niederländische Schleusenbaumeister Nering zusammen mit dem österreichischen Festungsbaumeister Memhardt und dem Franzosen de Chièze in zwanzigjähriger Bauzeit ein fürstliches Schloss; es folgten Lustgarten, Pomeranzenhaus und großzügige Alleen.

Des Großen Kurfürsten Sohn Friedrich lernte beizeiten aus dem Vollen zu schöpfen. Was die Natur ihm versagte, wollte er auf andere Weise wieder wettmachen. Mit riesiger, den Buckel verbergender Allongeperücke eilte er von einer Festlichkeit zur anderen. Bald genügte ihm der Kurfürstenhut nicht mehr. 1701 setzte er sich in Königsberg selbst die Krone auf; danach durfte er sich „König in Preußen“ nennen. Die Zustimmung ließ sich der Kaiser natürlich honorieren. Friedrich zahlte mit achttausend Landeskindern in Uniform, die der Kaiser für seinen Spanischen Erbfolgekrieg dringend brauchte. So begann das „Gottesgnadentum“ der preußischen Könige – mit Menschenhandel.

Als Königsstadt wurde es in Potsdam noch lustiger. De Bodt setzte vor das Schloss ein prächtiges Portal, über dem Fortuna schwebte, die einzige Göttin, an die Friedrich glaubte. Und sie schien ihm treu zu sein. 1709 kamen in goldenen Karossen der König von Dänemark und August der Starke, König von Polen und Kurfürst von Sachsen, zu Besuch, um mit ihm zu beraten, ob sie sich aus dem Duell, das Zar Peter mit dem Schweden austrug, heraushalten sollten oder nicht. In erster Linie aber wurden Feste gefeiert und bei jedem Trinkspruch sechs Kanonen abgefeuert. Es muss eine furchtbare Ballerei gewesen sein, denn sie waren trinkfeste Herren. Auf dem Prachtschiff Friedrichs I. segelte man nach Glienicke oder Caputh zu neuen Vergnügungen.

Es waren zu der Zeit eintausendfünfhundert Menschen ansässig in der Stadt, die neben Berlin zur zweiten Residenz erhoben worden war, fünfzehnhundert Menschen in zweihundertzwanzig bescheidenen Behausungen. Fischer zumeist und Handwerker. Sie fanden ihr Leben in Potsdam sicher weniger lustig. Übrigens hatte die verschwenderische Hofhaltung auch positive Seiten: Die von den eingewanderten Hugenotten mitgebrachten Künste und Fertigkeiten wurden in den Residenzstädten überraschend schnell populär und fanden unter den einheimischen Handwerkern viele Nachahmer; und dem königlichen Geltungsdrang – mehr wohl aber noch dem Einfluss seiner klugen Gemahlin Sophie Charlotte, die eine Freundin von Leibniz war – ist es zu danken, dass in Berlin die Societät der Wissenschaften gegründet wurde, mit Leibniz als Präsidenten.

Dann trat Friedrich Wilhelm I. auf den Plan und räumte gründlich auf, jagte die seidenen und halbseidenen Höflinge zum Teufel und brachte in einer Donnerwetterrede den ganzen märkischen Adel gegen sich auf. „Sie sollen nach meiner Pfeiffe tanzen oder der Deuffel soll sie hohlen; ich lasse sie hangen und braten wie der Zahr und tractire sie wie Rebellen!“

Wer von den Herren „disponibel“ war, suchte sein Heil an anderen Fürstenhöfen. Die alteingesessenen Junker aber zogen nur die Köpfe ein und warteten ab. Irgendwann würde man doch wieder auf sie zurückkommen müssen.

Außer der Königskrone hatte Friedrich Wilhelm nichts weiter geerbt als eine zerrüttete Wirtschaft und einen Berg von Schulden. Dem rückte er rigoros zu Leibe. Wie alle Lustschlösser, so wurde auch das zu Potsdam ausgeräumt, Gold- und Silbergerätschaften wurden verkauft oder eingeschmolzen, die prächtigen Fontänen abgebrochen und die Bleirohre verhökert. Der Lustgarten verwandelte sich in einen staubigen Exerzierplatz, und nur die Gäste durften noch auf seidenen Kissen sitzen. Er selber schnitzte sich einen Schemel, auf dem er am liebsten rittlings saß. Später, als sein Körpergewicht zweieinhalb Zentner überschritt, brauchte er deren zwei. „Soldaten und Geld regieren die Welt“, war sein Wahlspruch. In siebenundzwanzig Regierungsjahren ließ er die Potsdamer Stadtmauer dreimal erweitern und fast eintausend Bürgerhäuser neu bauen. Die Einwohnerzahl erhöhte sich von eintausendfünfhundert auf zwölftausend. Jeder dritte trug des Königs Rock.

Die übrigen preußischen Städte murrten, wenn sie nur den Namen Potsdam hörten, sie mussten ja unentwegt die hohen Extrasteuern zahlen. Cito! Cito! hieß es, und wer nicht spurte, bekam den königlichen Korporalstock zu spüren. „Nischt wie weg – der Keenich kommt!“, war bald ein geflügeltes Wort.

Allen wollte er in Pflichterfüllung und Sparsamkeit ein leuchtendes Beispiel geben. Wenn ihm das grobe blaue Tuch seines Anzugs fast vom Leibe fiel, ließ er die Kupferknöpfe abtrennen, um sie für das nächste Wams wieder zu verwenden. Die königlichen Bratenplatten boten nur spärliche Auswahl, die Terrinen waren nur zur Hälfte gefüllt. Der König pflegte das Essen hinunterzuschlingen, war er satt, wurde die Tafel aufgehoben. Damit aber keiner in Versuchung geriete, sich heimlich einen Nachschlag zu holen, spuckte er noch kräftig in die Suppenschüsseln. Prinzen und Prinzessinnen schlichen so manches Mal hungrig vom Tische; maulten sie, flog ihnen ein Teller an den Kopf.

Die einzige kostspielige Marotte, die sich Friedrich Wilhelm I. leistete, war das „Lange Potsdammische Grenadierregiment“, in das er die längsten und kräftigsten Kerls steckte, deren er in deutschen und anderen Landen habhaft werden konnte. Er scheute dafür weder Geld noch List und Gewalt. Der König bildete sich ein, und der Alte Dessauer als Drillmeister bestärkte ihn nach Kräften, dass diese Riesen kriegstechnisch natürliche Vorteile hätten: Zum einen jagten sie – jeder Soldat mit Grenadiermütze zehn Fuß hoch! – dem Feind gehörigen Schrecken ein und schlugen ihn vielleicht schon beim bloßen Anblick in die Flucht; zum anderen waren diese Riesen jedem im Zweikampf überlegen, denn sie konnten das Bajonett dem Feind in den Wanst rammen, ohne selber getroffen zu werden.

Zum Einsatz kamen diese kostbaren gedrillten Maschinen übrigens nie. Die Flügelmänner waren meist Iren oder Skandinavier, die Hoboisten Äthiopier. Zu den russischen Riesen kam er, wie er meinte, auf recht preiswerte Art und Weise. Am Ufer der Havel lag noch immer die vergoldete Luxusjacht des verblichenen schiefen Friedrich. Kein finanzkräftiger Käufer hatte sich bisher gefunden. Nun aber traf Peter, Zar und Zimmermann, zu Besuch ein und machte begehrliche Augen. Friedrich Wilhelm überlegte nicht lange und schenkte sie ihm. Peter der Große schickte ihm postwendend zweihundertdreißig schöne lange Kerls dafür und versprach im Jahr darauf hundert neue. Der Preußenkönig rieb sich die Hände. Man nannte ihn nicht umsonst den Plusmacher. Das war ja ein viel einträglicheres Geschäft als das mit August dem Starken, bei dem er für ein Dutzend lange Kerls seine kostbaren chinesischen Vasen eingetauscht hatte.

Wer einmal ins Königsregiment gelockt oder gezwungen worden war, konnte alle Hoffnung auf Urlaub oder glückliche Heimkehr fahren lassen. Zwar bekam er ein Riesenbett mit sechzig (!) Pfund Gänsefedern und eine farbenprächtige Uniform, aber der Mensch braucht doch ein bisschen mehr im Leben als Gänsefedern und ein buntes Tuch … Der spätere Geschichtsschreiber des Regiments, ein Freiherr von Maltzahn, wies immer wieder auf die persönliche Fürsorge hin, die Friedrich Wilhelm seinen „lieben blauen Kindern“ angedeihen ließ: „Im Lustgarten oder im Langen Stall exerzierte der König oft selbst seine langen Grenadiere. Königstreue und eiserne Disziplin waren die starken Eckpfeiler, auf die er sein Heer stellte.“ Interessanterweise taucht hier zum ersten Mal die Forderung nach „unbedingtem und blindem Gehorsam“ auf, eine Regel, „auf die der König mit unnachsichtiger Strenge hielt.“

Dominikanerpater Bruns konnte ein trauriges Lied davon singen, wie das in praxi aussah. Er begriff wohl die verzweifelte Lage der Grenadiere: Fliehen konnten sie nicht. Die festen Stadtmauern und -tore standen weiß Gott nicht zur Zierde da, und auf andere Weise frei werden konnten sie auch nicht. „Viele stürzten sich ins Wasser und ertränkten sich. Andere verstümmelten sich oder mordeten einen Kameraden, damit sie selber hingerichtet würden. Diese ließ der König Spießruten laufen oder von unten nach oben rädern. Alle diese Unglücklichen waren Ausländer. Ich kann bezeugen, dass ich nie einen Deutschen zum Schafott begleitet habe.“

Der Soldatenkönig begriff nicht, warum diese Kerls, denen er täglich seine allergnädigste Fürsorge angedeihen ließ, so undankbar waren. Mit dem Korporalstock fuhr er dazwischen: „Ihr sollt mich lieben, Schockschwerenot!“

Er traktierte nicht nur seine Familie, den Adel und die Herren Offiziere, sondern in der Person des Gelehrten Gundling vor allem „diese unnützen Brotfresser der Geistenwissenschaften“. Im allabendlichen Tabakkollegium saß der abgehalfterte Präsident der wegrationalisierten Societät der Wissenschaften, Nachfolger des berühmten Leibniz, zwischen derbdreisten Haudegen und musste als eine Art Hofnarr unzählige Demütigungen einstecken. Natürlich versuchte er, geistesverwandte Verstärkung in den Dunstkreis des Königs zu ziehen. Beiläufig erwähnte er einmal den Namen des Hallenser Professors Siegmund Baumgarten, der in der Welt der Gelehrsamkeit als großer Mann gelte. Friedrich Wilhelm hatte nur halb zugehört, etwas von „großem Mann“ verstanden und sofort beschlossen, ihn zum Flügelmann seiner Leibkompanie zu machen.

Der Professor kam nichts ahnend und erhielt Order, auf dem Exerzierplatz zu warten. Der bescheidene Gelehrte, klein von Statur, schritt auf und ab, nachsinnend, zu welchem Thema ihn der Monarch wohl zu konsultieren wünsche, als plötzlich ein Schatten auf ihn fiel.

„Er ist Baumgarten?“

„Sehr wohl, Majestät.“

Musterung von oben bis unten. Bellendes Gelächter: „Ich habe geglaubt, dass Er ein großer Mann sei. Er ist aber nur ein Scheißkerl! Ich kann Ihn nicht brauchen. Er kann wieder gehen!“

Was sich Baumgarten nicht zweimal sagen ließ.

In seinen letzten Lebensjahren, als der König, von Podagra und Wassersucht gequält, nicht schlafen konnte, rechnete er einmal nach, was ihn die langen Kerle, von denen er zwischen drei- und viertausend unterhielt, gekostet hatten. Er kam – allein an Quartier- und Baukosten – auf zwölf Millionen Taler, was ihn sehr erschreckt haben muss, denn der sonst so pedantisch auf klare Rechnungsführung Bedachte ließ alle Unterlagen verbrennen.

Kein anderer König vor und nach ihm hat sich für Potsdam so tüchtig ins Geschirr gelegt, hat so viele Wohnhäuser bauen lassen, um in ihren Giebelstuben seine Soldaten unterzubringen, und dennoch schlugen alle drei Kreuze, als er endlich unter der Erde war.

Die gebildeteren Leute setzten nun ihre ganze Hoffnung auf den jungen Friedrich, der Flöte spielte, französische Romane las und erstaunliche Dinge geschrieben hatte, etwa wie ein Staat zu regieren sei. Zunächst schien er die Hoffnungen zu rechtfertigen, aber der Lustgarten blieb weiter ein staubiger Exerzierplatz, auf dem der Korporalstock den Takt angab. Grausame Hinrichtungsmethoden wie das Säcken und Rädern waren wohl abgeschafft, doch das „Reglement der Preußischen Infanterie über das Spießrutenlaufen“ wurde 1743 lediglich „differenziert“:

„Wer besoffen zur Parade kommt, muss zehnmal durch zweihundert Mann. Wer als Beurlaubter (auf den Feldern des Herrn Hauptmann) nicht in Soldatenkleidern arbeitet, muss beim ersten Verstoß zehnmal, beim zweiten Verstoß zwanzigmal, beim dritten Verstoß dreißigmal durch zweihundert Mann. Wer gegen Offiziere und Unteroffiziere räsoniert, muss zwanzigmal durch zweihundert Mann.“ …

So dick war kein Soldatenfell, um das auszuhalten. Das Gassenlaufen geschah sinnigerweise zwischen Lustgarten und Garnisonkirche. Da mag wohl mehr geflucht als gebetet worden sein.

Als Friedrich nach sechsundvierzig Regierungsjahren starb, – drei Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution –, hatte sich Preußen mächtig verändert, es war kein Staat mehr, der eine Armee, sondern eine Armee, die einen Staat besaß. In der Garnisonkirche standen Gardestern und preußischer Adler immer über dem Kreuz, wurde nie zu einem „lieben Gott“ gebetet, sondern nur zum „Gott der Rache, zum Lenker der Schlachten“.

In unmittelbarer Nachbarschaft der Garnisonkirche, gleich hinterm Stadtkanal, lag das Große Militärwaisenhaus, die „Pflanzschule preußischer Unteroffiziere“, und schräg gegenüber das stattliche Haus des Mannes, der von Königs Gnaden die Gewehrfabrik besaß, die gleich danebenstand und später die Kaserne des 1. Garderegiments zu Fuß wurde. Dann schlossen sich die Häuser der Militärgeistlichen und der obersten Polizeigewalt an. So stand in einem Karree von einem halben Quadratkilometer alles beisammen, was Preußen symbolisierte, bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein.

Die Garnisonkirche beherbergte neben den Särgen des Soldatenkönigs und Friedrichs II. eine erdrückende Mischung von vergoldeten Engeln und Reiterpistolen; sie machte auf unvoreingenommene Gemüter den Eindruck eines bombastischen Schnürbodens, auf dem Requisiten von frommen Erbauungs- und derben Mantel-und-Degen-Stücken durcheinandergeraten waren. Eine verhängnisvolle Mischung.

Bekannt und berühmt war das holländische Glockenspiel der Garnisonkirche; doch selbst die volkstümliche Melodie, die Mozart aus Papagenos Munde so liebenswürdig klingen lässt, erhielt in dieser Umgebung etwas Martialisch-Schepperndes. Man dachte nicht an ein Mädchen oder Weibchen, das Papageno sich wünscht, sondern vielmehr an die moralisierende Variante:

Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab,

und weiche keinen Fingerbreit von Gottes Wegen ab.

Das Potsdamer Glockenspiel bimmelte Tag und Nacht, ungeachtet aller politischen Ereignisse. Nachdem 1806 das preußische Heer bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen worden war, walzten Napoleons Truppen mit siegreichem Schnedderetäng über den Lustgarten. In der Garnisonkirche verneigte sich der unbezwinglich scheinende Korse vor dem toten Friedrich. „Wenn dieser da noch lebte, stünde ich nicht hier“, soll er gesagt haben.

Er zog weiter und ließ ein Kavalleriedepot mit sechstausend Mann und zwölftausend Pferden zurück, die fraßen den Potsdamern zwei Jahre lang die Haare vom Kopf. Nur ein paar Kaufleute, Heereslieferanten und Weinhändler stießen sich gesund. „Üb immer Treu und Redlichkeit …“

Im März 1813 wimmelte es wieder von „Napoleonern“ in der Stadt. Nur hatten sie es diesmal eiliger. Die Kosaken saßen ihnen im Nacken. Zum ersten Mal erlebte der Lustgarten, dass die Potsdamer freiwillig zu den Waffen griffen. Jeder dritte männliche Bürger der Stadt meldete sich zur Landwehr, andere opferten Geld und Schmuck, um die Freiwilligen zu kleiden und zu bewaffnen. Sechsunddreißig Schneider stichelten Tag und Nacht an Uniformröcken; Schuhmacher Huguenel fertigte hundert Paar Stiefel, die Arbeiter der Gewehrfabrik reparierten in wenigen Wochen dreitausend Gewehre.

Der preußische König – nunmehr Friedrich Wilhelm III. –, befürchtete, das Ende der Franzosenzeit könnte auch das Ende der Krone bedeuten. Aber nein, in Preußen trieb man’s nicht so toll; und aus dem Potsdamer Glockenspiel wurde keine Carmagnole …

Das heißt – 1848 klang es beinahe danach. In Berlin kämpfte das Volk auf den Barrikaden, und sogar im Potsdamer Stadtschloss gingen durch Pflastersteine etliche Fensterscheiben zu Bruch.

Der König selbst – inzwischen nun schon der vierte Friedrich Wilhelm – befand sich nur zufällig in Berlin. Von den Ereignissen völlig überrascht, hockte er hilflos und konsterniert hinterm schützenden Paravent am Kamin. Als die leidenschaftlich erregte Menschenmenge vor dem Schlosse forderte, er solle vor den toten Revolutionären den Hut ziehen, gehorchte er willenlos. Ebenso mechanisch gab er dem Garderegiment Befehl, sich nach Potsdam zurückzuziehen. Es hatte sich unter dem Kommando des Prinzen Wilhelm besonders unrühmlich hervorgetan, auf beteiligte und unbeteiligte Bürger blindlings eingehauen und geschossen, wenn es auch nur Sympathie für die Revolution bei ihnen vermutete.

Mit klingendem Spiel zog das Garderegiment noch mehrmals aus dem Schlosshof durchs Fortunaportal: 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich, 1870/71 gegen Frankreich. Und Fortuna lächelte ihnen zu. Sie glaubten fest daran, die Gunst jener Dame auf immer gepachtet zu haben.

So schien es auch noch im August 1914. Jedoch vier Jahre später lächelte sie zu anderen herunter. Das Blatt der Geschichte hatte sich gewendet. Rote Fahnen auf dem Schloss, auf dem Rathaus und auf der Langen Brücke, zwischen all den steinernen Grenadieren und Kürassieren! Kundgebung des Arbeiter- und Soldatenrates. Der Vorsitzende spricht. Es ist der Schuhmacher Wilhelm Staab von der USPD. Er verkündet Frieden und Sicherheit und soziale Gerechtigkeit. Alles werde nun anders werden und vor allem besser. Nach ihm sprechen Rittmeister von Alvensleben und Graf von Plessen – auch Mitglieder des Soldatenrates – und erklären offen, sie hätten sich nur der „Bewegung“ angeschlossen, um sie aus dem chaotischen Zustand in ein geordnetes Staatsleben zu führen.

In dem leicht umflorten Buch „Adieu, Potsdam“ schreibt die dem kaiserlichen Hofe nahestehende Malerin Erika von Hornstein: „dass einer arm war nach dem verlorenen Kriege, gehörte in Potsdam zum guten Stil; wer jetzt noch Geld hatte, wurde mit Misstrauen bedacht, der Geruch des Parvenüs haftete ihm an. Für die Offiziersfamilien aber begannen bittere Zeiten.“

Bittere Zeiten begannen jedoch auch für die Arbeiter in der Lokomotivenfabrik Orenstein & Koppel, für die kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden, für die von Jahr zu Jahr wachsende Zahl der Arbeitslosen. Als die Fürstenabfindung beschlossen wird, gibt es vor allem in Potsdam Protest. Martha Ludwig, genannt „Das Mädchen Krümel“ – so auch der Titel ihres autobiografischen Romans – schildert jenen 1. August 1926: „Antikriegstag. Die Diskussion über die Fürstenabfindung in vollem Gange. Es ist unerhört: wir, die wir uns abrackern, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen, sollen denen, die nie in ihrem Leben wirklich gearbeitet haben, den Hohenzollern und einundzwanzig anderen Fürstenfamilien, Millionen hinterherschmeißen. Der Staat zahlt und zahlt, und die 'Potsdamer Tante' lamentiert immer noch über den armen Kaiser, der in Doorn sitzt und seinen Söhnen nicht mal ein ordentliches Taschengeld geben kann. Wir wollten mal unmissverständlich unsere Meinung dazu sagen. Wir kamen aus Nowawes und trafen mit dem RFB und der Roten Jungfront vom Wedding zusammen. Mit Schalmeien marschierten wir über die Lange Brücke. Im Demonstrationszug wurde ein leerer Sarg mitgetragen, darauf war ein Eisernes Kreuz gemalt. 'Jedem Krieger sein Heim!' Und auf dem Transparent stand: 'Fürstenabfindung? Ja, anderthalb Meter unter der Erde!' Selbst die Gemäßigten von den Nowaweser 'Naturfreunden' machten mit, sie riefen in den Hinterhöfen der Stadt in Sprechchören: 'Wer die Hohenzollern ehrt, der ist keinen Pfennig wert!'

Die Polizei forderte, wir sollten auseinandergehen und den Sarg herausgeben. Aber wir waren zu viele, und sie kamen nicht ran. Dann provozierten sie – wie immer –, und dann gab es halt doch Krawall. Wir landeten alle in einer Großzelle bei Herrn von Zitzewitz, lauter Kommunisten, aber auch andere Linke. Wir ließen uns nicht bange machen, sangen die ganze Nacht unsere Lieder, klopften den Rhythmus dazu. Am Morgen waren sie froh, dass sie uns laufen lassen konnten. Aber fünf wurden verurteilt, Gefängnis bis zu siebenundvierzig Monaten.“

Später kam man nicht mehr so bald heraus, vor allem nicht mehr mit heilen Knochen.

Übrigens muss der junge Bertolt Brecht, der damals gerade mit Kurt Weill an der „Dreigroschenoper“ arbeitete, Zeuge dieser Demonstration gewesen sein, denn seine wütenden Schmähverse gegen die alles zusammenhauende Polizei in „Potsdam unter den Eichen“ schilderte die Situation haargenau bis auf das letzte Staubwölkchen des Paradeplatzes.

Am 21. März 1933 ging in und vor der Garnisonkirche eine Inszenierung über die Bühne, die sich als Heldenstück gab, in Wirklichkeit eine Tragikomödie großen Stils war, und die auch dafür sorgte, dass die Weltöffentlichkeit Potsdam fortan mit dem Nationalsozialismus identifizierte.

In Altpotsdamer konservativen Kreisen, die noch immer den Ton in der „besseren“ Gesellschaft angaben, hielt man den hochgekommenen Braunauer für indiskutabel. „Ja, wenn der Hitler wenigstens Leutnant der Reserve wäre, aber Gefreiter …“ Auch auf preußische Sympathien stieß der österreichische Gefreite hier nicht. Die meisten seiner Anhänger kamen aus Bayern, Österreich und aus dem Auslandsdeutschtum. Unter den fünfhundert führenden Leuten waren nur siebzehn Preußen.

Nicht ohne Absicht wählten sie für ihren ersten Staatsakt die Garnisonkirche, in der der Soldatenkönig und Friedrich Rex begraben lagen. Hier sollte große Geschichte demonstriert werden, hier drängten sie sich in preußische Traditionen hinein, um sich als ihre Fortsetzer ausgeben zu können.

Für einen Tag umgaben sie sich mit staatsmännischem Flair, borgten sie sich Requisiten und als Symbolfigur den fünfundachtzigjährigen Reichspräsidenten. Im Grunde genommen hielten sie von ihm überhaupt nichts. Goebbels hatte sich schon 1931 über den „würdevollen Ernst“ lustig gemacht, „mit dem Hindenburg seine Unfähigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, bemäntelte“. Er mokierte sich über dessen „groteske Unbedeutendheit“ und fragte, „wie es möglich war, dass dieser Trottel kaiserlicher Heerführer und Präsident der Republik werden konnte“.

An jenem Märztag jedoch, dem sogenannten Tag von Potsdam, ließ man diesen „Trottel“ die Rolle des mächtigen Schutzherrn spielen. Als Generalvertreter des alten Preußentums – mit Schwarzem Adlerorden, Pickelhaube und wilhelminischem Schnurrbart – legte er an der Gruft Friedrichs des Großen die Insignien der alten Macht in die Hände eines ehrerbietig und bescheiden wirkenden Mannes im schwarzen Gehrock.

Monsieur Francois-Poncet, dem französischen Botschafter, fiel zuerst auf, dass irgendetwas nicht stimmte, nur begriff er damals ebenso wenig wie die anderen diplomatischen Vertreter, die das Kirchenschiff füllten, dass „dieser bleiche Mann mit den gewöhnlichen Gesichtszügen“ nicht in die Reichskanzlei, sondern „in die Klinik eines Psychiaters“ gehörte.

Im holländischen Doorn verfolgte Exkaiser Wilhelm interessiert am Radio die Übertragung des Staatsaktspektakels, er kalkulierte unter der neuen Konstellation gewisse Chancen für das Haus Hohenzollern ein. Zwar saß er weit vom Schuss, doch seine Söhne suchten sich im Hoffnungslauf um neue Posten und Positionen entsprechend zu platzieren. Der Exkronprinz Wilhelm, der im April 1932 in einem Telegramm seine Wähler aufgefordert hatte, beim notwendigen zweiten Wahlgang Adolf Hitler zum Reichspräsidenten zu wählen, und der diesem Manne dadurch unzählige Stimmen zuschanzte, erschien, elegant wie immer, mit der turbanartigen Papacha seines Totenkopfhusarenregiments. Prinz Eitel Friedrich hatte sich in die unkleidsame Uniform des Frontkämpferbundes Stahlhelm gezwängt. Prinz August Wilhelm, genannt Auwi, trug die Uniform eines SA-Gruppenführers zur Schau. Nur Prinz Oskar sah recht unglücklich aus, als wollte er sagen: „Warum muss ich das hier bloß alles mitmachen?“

Zehn Jahre später übten die Potsdamer auf ihrem traditionellen Paradeplatz, wie man Brandbomben löscht, die aus anglo-amerikanischen Flugzeugen fielen. „Aber man wird doch das historische Potsdam verschonen.“ So hofften noch viele, als Berlin bereits an allen Ecken brannte. Warum ausgerechnet Potsdam verschont bleiben sollte, wo doch so viele alte Städte in anderen Ländern durch die Deutschen zerstört worden waren, hätte niemand beantworten können.

Es kam jener Abend des 14. April 1945, an dem das Pendel des Krieges zurückfiel in Gestalt von vierhundertneunzig Bombern der Royal Air Force. Der Potsdamer Kirchenmusikdirektor Otto Becker wollte sich zur Ruhe begeben, da heulten die Sirenen, und bald darauf regnete es Brand- und Phosphorbomben, orgelten die Luftminen. Er war unfähig, im Keller Schutz zu suchen. Das Jüngste Gericht schien gekommen. Wie angeschmiedet stand er am Fenster und sah zu, wie unter Krachen und Dröhnen die Altstadt in Trümmer sank: Wohnungen, Krankenhäuser, Schulen, das Schauspielhaus, der Palast Barberini, das Alte Rathaus. Die Kuppel der Nikolaikirche fiel in sich zusammen wie ein Riesenballon, aus dem die Luft entweicht. Und dann die Garnisonkirche …

Seit 1910 hatte Otto Becker das Glockenspiel betreut, mehr als zweitausend Orgelkonzerte gegeben. Dort war seine Welt. Noch ragte der wuchtige Turm wie ein Fels in der Brandung des Flammenmeeres. Alles um ihn herum brannte, das Militärwaisenhaus, das Ochsenkopfhaus, das Stadtschloss und der Lange Exerzierstall. Sein Fachwerk, altes Eichenholz noch vom Soldatenkönig her, entwickelte eine ungeheure Hitze, eine Feuerlohe schwang sich hinauf zum Glockenstuhl, die Glocken schmolzen und barsten mit grässlichem Gestöhn.

Das war das Ende.

Wenige Wochen später stand ein sowjetischer Frontberichterstatter vor dem geborstenen Portal der Garnisonkirche. Wie von ungefähr begann er im Schutt zu stochern. Was der Russe bloß sucht? wunderten sich die Leute, die in den Trümmern umherkrochen, um nach Verwertbarem zu stöbern. In seiner Hand wog er den geschmolzenen Klöppel des holländischen Glockenspiels. Üb immer Treu und Redlichkeit … Das war von alledem geblieben. Das Leben, dieser unermüdliche Komödien- und Tragödienproduzent, hatte hier einen dramatischen Schlusspunkt gesetzt.

Aber das Leben ging weiter. Die Fotos von der Maifeier 1946 im ehemaligen Lustgarten vor der Ruine des Stadtschlosses sprechen Bände. Erwachsene schauen entschlossen in die Kamera, Kinder mit freudig erregten Gesichtern. Sie tragen selbst gefädelte Ketten um den Hals und Kränzchen im Haar, zipflige Röcke umschlottern dünne Beinchen, ihre Füße stecken in unförmigen Sandalen aus alten Autoreifen, aber ihre Augen strahlen Hoffnung und eine große Erwartung.

Wenige Jahre später, im August 1951, trafen sich junge Menschen aus aller Welt in dem zerstörten Berlin, um miteinander zu reden, zu singen und zu tanzen. Wären sie sich ein paar Jahre früher begegnet, hätten sie aufeinander schießen müssen. Das tief empfundene Glück, am Leben geblieben zu sein, um gemeinsam eine neue Welt zu bauen, die Kriege nicht mehr zulassen würde, machte sie euphorisch.

Euphorie verleiht der Fantasie Flügel. So kamen Potsdamer ABF-Studenten auf die Idee, den unseligen Geist des Krieges in einem symbolischen Akt in der Havel zu versenken. Sie bestellten einen Sarg, natürlich den billigsten, füllten ihn mit Trümmern des Stadtschlosses und schrieben darauf: „Hier ruhen die letzten Hoffnungen der Kriegsbrandstifter auf den alten Geist von Potsdam“ (denn dieser war ihnen Synonym für alle Ismen, die Deutschland in Verruf gebracht hatten). Dieser Sarg nun sollte vor den Augen eines zahlreichen Publikums ein für alle Mal in der Havel nahe der Langen Brücke untergehen.

Es kam aber anders: Nur das Unterteil, durch die Schuttmassen ungewöhnlich schwer, versank, die leichten Zierschrauben lösten sich, und der Deckel schwamm munter weiter. Die Zuschauer am andern Ufer feixten. Die Akteure wurden nervös. Um die Situation zu retten, rief schließlich einer mit tönendem Pathos dem Sargdeckel hinterher: „Er schwimmt dahin, wo er hingehört – nach Westberlin!“ (Der begeisterte Jüngling war in Geografie schwach und wusste nicht, dass die Havel ja aus Richtung Westberlin kam; aber die einheimischen Zuschauer auf der Gegenseite wussten es, und ihr Feixen ging in unverhohlenes Gelächter über.)

Die Agitatoren standen teils wütend, teils verlegen da und versuchten, die Pleite so schnell wie möglich zu vergessen. Offiziell durfte sie sowieso nicht erwähnt werden, offiziell blieb „der alte Geist von Potsdam“ (was auch immer damit gemeint sein mochte!) in der Havel versenkt, obwohl doch so viele Zeugen das Gegenteil miterlebt hatten.

Der Alte Markt

Der Alte Markt von Potsdam gehörte einst zu den schönsten Plätzen Europas, er glich einer großartigen Theaterkulisse, und Theater war auch manches, was sich hier abgespielt.

Man stelle sich vor: das prächtige barocke Stadtschloss mit schwelgenden Knobelsdorff-Kolonnaden, de Bodts wuchtiges Portal mit der überraschend leichtfüßigen Fortuna, auf dem Dach des Marstalls die wilde Jagd der Glumeschen Rossebändiger. An der Havelseite prunkte der Palast Barberini neben anderen Palazzofassaden. Ihm gegenüber die Schinkelsche Nikolaikirche; die vierte Seite schließlich wurde vom vergoldeten Atlas beherrscht, der, die Weltkugel auf mächtigen Schultern tragend, auf Boumanns Meisterbauwerk, dem alten Potsdamer Rathaus, thronte.

Dichter und Maler haben diesen Platz geschildert, im Morgenlicht, im Sternenschein, selten in der alles enthüllenden Mittagssonne. Mancher Potsdamer seufzte resigniert, als die erste Straßenbahn kreischend und quietschend durch die Idylle ratterte, welch stilloses Ungetüm! Und sie trauerten den Zeiten nach, als man noch mit Pferdebahn und Pferdeschlitten durch Potsdam fahren konnte, als bei Anwesenheit der kaiserlichen Familie noch die gelbseidene Fahne auf dem Stadtschloss wehte. Fast alle Potsdambücher der Zwanzigerjahre enden mit einem Mollakkord.

Von der Schönheit des Anblicks wollen wir nichts abstreichen, doch der Ort war so idyllisch nie. Das galt für das Leben im Stadtschloss genauso wie für den Platz davor. Im Schloss wachte der Soldatenkönig und malträtierte Familie und Dienerschaft. Der Einzige, der sich seiner unendlichen Nachsicht erfreute, war – ein Zottelbär. Man hatte ihm die Krallen gestutzt und die Zähne ausgebrochen, und er durfte sich mit königlicher Permission völlig frei in der Stadt bewegen und jede Art von Possen treiben – zum Schrecken der Einwohner. Den Marktleuten räumte er die Stände ab, der Schlosswache warf er die Gewehre durcheinander, manchmal drang er sogar in die Häuser und legte sich in die Betten der Leute. Wenn sie ihn hinausjagen wollten, geriet er in Wut und wurde dann ernsthaft gefährlich. Niemand wagte, gegen ihn etwas zu unternehmen.

Im Mai 1740 schimpfte der schwer an Gicht und Wassersucht erkrankte König noch einmal kräftig mit den Reitknechten des Marstalls, dann legte er sich hin und starb.

Der Schöngeist und Flötenspieler Friedrich bestieg den Thron. Wenn dieser nun aus den Fenstern des ungemütlichen und ungeliebten Stadtschlosses blickte, wollte er eine heitere Aussicht vor sich haben, und so entstand die stimmungsvolle Theaterkulisse rund um den Alten Markt: das Rathaus, das Predigerhaus, der Palast Barberini, alles gab sich italienisch, im Stil des Palladio. Selbst die damals noch architektonisch bescheidene Nikolaikirche bekam ein Prunkportal wie das der Kirche Santa Maria Maggiore in Rom, von den Potsdamern schlicht „das Vorhemdchen“ genannt. Die Geistlichkeit beschwerte sich, es würde dadurch zu viel Licht weggenommen. Friedrich parierte ironisch mit einem Bibelspruch: „Selig sind, die da nicht sehen und doch glauben!“

Voltaire, 1750 vom König gerufen, schrieb im ersten Überschwang enthusiasmierte Briefe nach Paris: „Nur ein Mann war nötig, um das trübsinnige Sparta in ein glanzvolles Athen zu verwandeln …“

Unbefangene Reisende sahen die Stadt kritischer. 1775 bemerkte der Oberkonsistorialrat Anton Friedrich Büsching stirnrunzelnd: „Potsdam wird mehr und mehr zu einer Kulissenstadt. In den Hauptstraßen drängt sich ein Scheinpalast an den anderen, aber hinter den prunkvollen Fassaden liegen die schlichten Wohnungen der Bürger, die in einem unglücklichen Größenverhältnis zu den Fassaden stehen. In manchen dieser Palladio-Paläste müssen sich die Bewohner auf den Bauch legen, wenn sie aus dem Fenster hinausschauen wollen, in anderen wiederum müssen sie auf den Stuhl steigen. Die Bequemlichkeit der Bürger gilt nichts, die Fassade ist alles.“

Noch ironischer äußerte sich zwanzig Jahre später der Rechtsgelehrte und Professor an der Universität Frankfurt/Oder, Ernst Ferdinand Klein: „Wenn es schon auffallend ist, eine Stadt mit lauter Palästen zu sehen, so ist es doch noch auffallender, alle diese Prachtgebäude von niemand anderem als von Handwerkern und Soldaten bewohnt zu finden. Es thut eine sonderliche Wirkung, an den Schnörkeln einer ionischen Säule ein Paar Hosen oder Kamaschen auf öffentlicher Straße zum Trocknen aufgehängt zu sehen.“ Der schlichten Soldatenfrau mag es wohl ziemlich gleichgültig gewesen sein, ob ihre Wäsche nun an ionischen oder korinthischen Säulen hing.

Der Palast Barberini. Über zwei Jahrhunderte, ja noch über seine Zerstörung durch Fliegerbomben hinaus, hielt sich die Mär, Friedrich II. hätte ihn für die Tänzerin Barbara Campanini, die berühmte Barberina, errichten lassen. Aber er schätzte das Theatervolk viel zu gering, um dafür so tief in die Schatulle zu greifen, meist sprach er nur von der „Kesselflickerbagage“.

Die Barberina bildete allerdings eine Ausnahme. Warum? Als Friedrich zu Beginn seiner Regierungszeit von Knobelsdorff die Oper unter den Linden bauen ließ, wollte er seinen europäischen Vettern beweisen, dass die Kulturbarbarei seines Vaters in Preußen überwunden und er willens und in der Lage sei, was das Theater betraf, mit den glänzendsten Höfen Europas Schritt zu halten. Das Opernhaus zu Berlin gelang vortrefflich und Friedrich wünschte auch an Künstlern nur das Beste vom Besten, und das war auf dem Gebiet des Tanzes die Barberina. Über Mittelsmänner versuchte er, sie für Berlin zu gewinnen. Die gefeierte, von der höfischen Welt angebetete Primaballerina wollte aber nicht. Als alle Komplimente und Versprechungen nichts fruchteten, drohte er mit Entführung und Polizeigewalt. Er musste sie haben, es war mittlerweile eine Prestigefrage für ihn geworden.

Kaum flatterte jedoch das Täubchen im Netz, handelte er den ihr zugesicherten Jahresvertrag von dreitausend auf zweitausend Taler runter. Wenige Monate nach dem Engagement der Barberina bemerkte Bruder Prinz Heinrich, der Rheinsberger Bonvivant: „Wie man hört, soll die Barberina ja sehr willig sein …“ Keiner der Höflinge bezog das nur aufs Tanzen.

Prinzessin Ulrike schrieb an eine ihrer Hofdamen: „Friedrich hatte für sechs Monate un peu d’amour mit der schönen und überdies geistvollen Barberina, doch nun hat Mars Amors Pfeil vergessen gemacht.“

Man schrieb das Jahr 1744; Friedrich war in den zweiten Schlesischen Krieg gezogen.

Außer einem hoch bezahlten Kurpfuscher wusste niemand, dass Friedrich vor seiner Zwangsheirat mit der glanzlosen Prinzessin von Braunschweig-Bevern vermutlich eine Kavalierskrankheit vom sächsischen Hofe mitgebracht hatte, die mit gehörigen Mengen Quecksilber ausgetrieben wurde, wonach ihm bei künftigen galanten Abeuteuern – einem hartnäckigen on-dit zufolge – nur noch un peu zu genießen übrig blieb.

Im Potsdamer Stadtschloss tanzte die Barberina nur ein einziges Mal. Sie logierte im Hotel „Roter Adler“ am Alten Markt. Dreiundzwanzig Jahre später wurde dieses Hotel samt angrenzenden Gebäuden abgerissen und etwa an selber Stelle nach königlichem Geschmack der römische Palazzo Barberini nachgebaut. Alles andere hat der wispernde Volksmund zusammengesponnen.

Ein anderer legendenumwobener Ort war die Bittschriftenlinde vor dem Stadtschloss. Es hieß, wer sein Recht vor dem Gesetz nicht finden kann, der möge nur nach Potsdam unter die Linde gehen. Wenn der König von seinem Schreibtisch aus seine Bittsteller stehen sähe, würde er unverzüglich seinen Kammerdiener ausschicken und das Gesuch an Ort und Stelle und fast immer zugunsten des Hilfesuchenden entscheiden.

Ein hübsche Bilderbuchgeschichte, möglicherweise vom König selbst in die Zeitungen lanciert, weil er nicht zugeben wollte, dass er mit seiner Justizreform im Wesentlichen steckengeblieben war.

Der Wassermüller Arnold aus der Neumark hatte Glück, denn er kam just zu dem Zeitpunkt, als Friedrich nach einem Aufhänger suchte, um seinen beargwöhnten Justizbeamten gegenüber ein Exempel zu statuieren. Arnold hatte vom Grafen Schmettau eine Wassermühle in Erbpacht. Weil er den Pachtzins wiederholt nicht bezahlen konnte, ließ der Graf die Mühle versteigern.

Das Kammergericht entschied: „Zu Recht!“ Der König bezeichnete das Urteil als „Fickfackerei“ und die Kammergerichtsräte als „Spitzbuben“, ließ sie in den Bürgergewahrsam sperren und jagte den Minister mit Schimpf davon. Der Wassermüller bekam auf Befehl des Königs seine Mühle wieder, der Karpfenteich des Herrn Landrates wurde zerstört, er selbst des Amtes enthoben und sein Regierungspräsident gleich mit.

Friedrich hatte mit dem Echo nicht gerechnet. In schwarz drapierten Kutschen fuhren hohe Beamte vor das Haus des gestürzten Justizministers, um ihr Mitgefühl zu bekunden, die kleinen Leute aber jubelten laut und strömten in Scharen vor das Schloss, in der Hoffnung, der König werde auch ihnen zum Recht verhelfen. Das alles hatte er gewiss nicht gewollt.

Ähnlich verhielt es sich mit seinem Verhältnis zur Leibeigenschaft. Als Kronprinz hatte er sie barbarisch und menschenunwürdig genannt und als König befohlen, sie „ohne Räsonieren“ aufzuheben. Wie liefen da die Adligen Sturm! Friedrich musste einlenken und beschränkte sich schließlich darauf, die Leibeigenschaft wenigstens auf den königlichen und den Staatsdomänen aufzuheben. 1777 muss er eingestehen: „Sicherlich ist kein Mensch dazu geboren, der Sklave von seinesgleichen zu sein. Mit Recht verabscheut man diesen Missbrauch und meint, man brauche nur zu wollen, um die barbarische Unsitte abzuschaffen. Dem ist aber nicht so; der Ackerbau ist auf der Bauern Frondienst zugeschnitten. Wollte man diese widerwärtige Einrichtung mit einem Male abschaffen, so würde man die ganze Landwirtschaft über den Haufen werfen. Der Adel müsste dann für einen Teil der Verluste, die er an seinen Einkünften leidet, Entschädigung erhalten.“

Es war im Grunde genommen so, wie es der Bildhauer Christian Daniel Rauch auf seinem berühmten Reiterstandbild später dargestellt hat: Friedrich auf hohem Ross, die Nase kühn in den Wind (was den technischen Fortschritt betraf, so hatte er in der Tat eine feine Witterung), aber er kam bei Strafe seines Untergangs nicht von dem Sockel herunter, der von den Adelsfamilien gebildet wurde. Auf sie war er angewiesen, gegen ihre elementaren Interessen durfte er nicht verstoßen, da lagen die Grenzen seiner Macht. Rauch hat die einzelnen Vertreter dieses Adels ihrem gesellschaftlichen Stellenwert entsprechend sehr differenziert ausgearbeitet: an allen vier Ecken die Reitergenerale – die Kavallerie war ja Eckpfeiler der friderizianischen Armee –, an den Seiten die übrige Generalität (sofern sie nicht in Ungnade gefallen war) und ganz hinten, unterm Pferdeschwanz gewissermaßen, auch einige Philosophen und Literaten seiner Zeit.

Die Hofgesellschaft prägte noch lange das Antlitz der Residenzstadt Potsdam, obwohl zwanzig Jahre nach Friedrichs Tod das fossile Staatsgebilde samt seiner Armee unter den Schlägen napoleonischer Truppen bei Jena und Auerstedt zusammengebrochen und durch den Einfluss der Französischen Revolution der Weg in Preußen frei geworden war für die Reformpläne eines Freiherrn vom und zum Stein.