Impressum

Elke Nagel

Altweibersommer

Legenden aus dem wilden Osten

Roman

 

Das Buch erschien erstmals 2013 im BS Verlag, Rostock.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

ISBN 978-3-96521-151-3 (E–Book)

 

© 2019 EDITION digital
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"Die Einfalt und Leichtgläubigkeit der Menschen wird nur durch ihre Grausamkeit und Intoleranz gegenüber Andersgläubigen übertroffen."

Voltaire (1694-1778), Brief vom 19. Mai 1759

 

Handlung und Personen sind frei erfunden; Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Geschehnissen oder Personen wären zufällig.

Kapitel I, worin Katja beschließt, dieses Buch zu schreiben.

1.

Über dem See kreiste ein Hubschrauber.

Das sollte mein erster Satz sein. Und dabei bleibt es. Trotzdem muss ich einiges vorher erzählen.

Den Entschluss, dieses Buch zu schreiben, fasste ich gestern am späten Nachmittag, als ich im Schulbus nach Hause zurückfuhr; um mich her lärmten die Kinder und bewarfen sich mit ihren Mützen, es störte mich nicht, ich war zu deprimiert, als dass mich irgend etwas hätte stören können. Ich kam von diesem Amt zurück, das sich seit einiger Zeit Agentur nennt; „Agentur für Arbeit“, nicht mehr „Arbeitsamt“, und mein Selbstwertgefühl lag bei null.

Sie haben studiert, Frau Brinkmann? hatte mich die junge Frau hinter dem Schreibtisch gefragt. Ich bejahte das, freilich hatte ich studiert, Landwirtschaft, Tierzucht, Biologie im Fernstudium.

Sie sind überqualifiziert, stellte die Frau fest. Und fragte weiter: Sie waren in der ehemaligen DDR in leitender Stellung tätig?

Ja, auch das, antwortete ich brav, jedenfalls zuletzt, da war ich Chefin. In einer Rinderaufzuchtanlage. Ein guter Betrieb. Wir haben Plus erarbeitet, Jahr für Jahr. Wurden trotzdem „abgewickelt“. Komisches Wort, ja?

Sie schüttelte den Kopf und blickte mich aus großen Augen erstaunt an. Natürlich, sie weiß nicht, was da komisch sein könnte. Und es ist schon lange her, sie war damals ein Kind.

Es sehe nicht gut aus für mich, sagte sie, ich sei nicht nur überqualifiziert, ich sei auch zu alt für eine Umschulung. In den letzten Jahren haben Sie also bei Herrn von Bobrach gearbeitet, kommentierte sie meinen Lebenslauf, der vor ihr lag, warum wurden Sie dort entlassen?

Ich antwortete etwas zögerlich, denn keinesfalls wollte ich ihr von meinem Grundsatzstreit mit Bobrach erzählen. Betriebsbedingt, sagte ich. Er musste mehrere seiner Leute entlassen. Er hat mir aber eine gute Beurteilung geschrieben.

Der Frau huschte ein kaum merkbares Lächeln übers Gesicht. Wie man’s nimmt, sagte sie. Das weniger Gute steht zwischen den Zeilen. Hatte er Sie vor drei Jahren nicht schon einmal entlassen? Und nach einem Jahr wieder eingestellt? Ja, gute Frau (sie sagte tatsächlich „gute Frau“ zu mir, in diesem gönnerhaften und gewollt liebenswürdigen Ton, den ich so hasse), Sie sind nun schon zu viele Jahre ohne Festeinstellung. Offensichtlich sind Sie nicht vermittelbar. Der Regelsatz steht Ihnen aber zu. Hartz IV.

Sie blätterte in meinen Unterlagen, nickte zufrieden, Wohngeld können Sie auch beantragen. Bis zu 130 Euro dürfen Sie hinzuverdienen, wenn’s mehr wird, wird der Regelsatz gekürzt. Vielleicht finden Sie ab und zu wieder zusätzliche Arbeit beim Wolfsbüro? Wie ich sehe, haben Sie vor zwei Jahren eine derartige Qualifizierung durchlaufen? Und bis zur Rente haben Sie noch … Sie studierte wieder meine Unterlagen, aber das Rechnen gelang ihr nicht, ich ergänzte wütend: drei Jahre, wenn’s bleibt wie bisher, oder fünf, wenn’s auf 67 heraufgesetzt wird.

Ich raffte meinen Zettelkram zusammen, stopfte ihn in die Umhängetasche und stand auf. Leben Sie wohl, verabschiedete mich die Frau.

Das blieb mir in den Ohren kleben, das hörte ich noch im Bus, es übertönte den Lärm der Kinder. Wie „wohl“ lebt man mit diesem Regelsatz? Es wird jetzt darum gefeilscht, ob er um fünf Euro monatlich erhöht werden soll oder nicht. Na fein, was mache ich dann mit den fünf Euro, falls man sie mir bewilligt? Bin für nichts mehr zu gebrauchen, Ersparnisse sind kaum da, wo sollten sie auch herkommen, es schadet mir also gar nichts, wenn ich jetzt von staatlichen Almosen leben muss. Ja, man kann davon leben, hat kürzlich ein kluger Bücherschreiber vorgerechnet, der selbst sein Geld sicher verwahrt hat, man kann. Und um Heizung zu sparen, sollte man sich eben einen Pullover mehr anziehen. Und ein anderer kluger Bücherschreiber hat ausführlich, mehr als ausführlich, davon erzählt, wie man in der DDR gehungert, gefroren und gezittert hat, Pullover übereinander, das kam da wirklich vor, an der Stelle hab’ ich das Buch in die Ecke gepfeffert. Später hab ich’s aber doch noch zu Ende gelesen, sprachlich war es sehr gut, das verleitete zum Weiterlesen, hat sicher auch manch einen verleitet, alles zu glauben, was da beschrieben wurde. Eine bedeutende Zeitung behauptete, wer wissen wolle, wie es in der DDR wirklich war, solle dieses Buch lesen. Wieder ist der Lügenberg um ein paar Zentimeter gewachsen, unter dem unser verdammtes kleines Land begraben liegt.

Als ich, vom Bus geschaukelt und heimwärts getragen, mit meinen Gedanken hier angekommen war, traten mir doch tatsächlich ein paar Tränen in die Augen. Ich wischte sie ärgerlich fort. Nein, dachte ich, die kalte Freundlichkeit dieser jungen Frau, die keinen angenehmen Job hat und mit der ich keinesfalls tauschen möchte, die wird dich doch nachträglich nicht aus dem Gleichgewicht bringen, Katja.

Und in den nächsten Minuten — die Neubauten am See, am Ortseingang von Rodungen, waren schon in Sicht, gleich würde der Bus halten — sagte ich zu mir: Katja Brinkmann, du wirst gar keine Gelegenheitsjobs suchen, um diesen Regelsatz aufzubessern, du wirst sparsam leben und dein eigenes Ding durchziehen. Wolltest du nicht schon immer ein Buch schreiben?

Das ist wahr, eigentlich wollte ich seit meiner Kindheit schreiben. Tat das früher auch gelegentlich, viele kleine Geschichten, die sind alle in den Papierkorb gewandert. Und später war nie Zeit für solche Sachen.

Nein, stopp. Als ich zum ersten Mal arbeitslos geworden war, also bald nach dieser sogenannten „Wende“, da schrieb ich kleine Erzählungen, Kurzgeschichten. Einen Computer hatte ich noch nicht, nur eine alte Schreibmaschine. Und ich zeigte das Geschriebene niemandem. Später „erbte“ ich einen gebrauchten Rechner, von einem ehemaligen Arbeitskollegen, der – im Gegensatz zu mir – „die Kurve“ gekriegt und als Versicherungsagent viel Geld gemacht hatte. Ich tippte meine Geschichten ab, speicherte sie auf Diskette; irgendwann zeigte ich sie Monas jüngster Tochter, der Fanny, denn ich hatte bemerkt, dass sie selbst schrieb, Gedichte und kurze Geschichten. Sie war ganz begeistert. Warum schreibst du nicht weiter, fragte sie, warum gehst du nicht zu einem Verlag? Aber sie war damals erst dreizehn, ich traute ihrem Urteil nicht. Und vor allem traute ich meinen Geschichten nicht, also — mir selbst. Doch die Texte sind nicht verloren, sie stecken noch immer auf einer Diskette. Das ist gut. Denn nun werde ich ein Buch schreiben. Vielleicht kann ich etwas von den alten Sachen dafür gebrauchen? Ein paar Geschichten über Annas Leben sind darunter. Sie gehören hierher. Ich muss sie nur bearbeiten. Bei einem Spaziergang durch die Heide hat sie mir zum ersten Mal von sich erzählt, von ihrer Kindheit, von der Flucht aus Schlesien, von Viktor. Ja, damals erfuhr ich endlich, wer mein Vater gewesen ist. Daraus hatte ich eine Kurzgeschichte gemacht, „Das Russenkind“.

Und die „Legende von der unschuldigen Stadt“. Die schrieb ich, nachdem ich mit Mutter nach Sternberg gefahren war. Hab’ lange daran gearbeitet, Bücher gelesen, später auch im Internet recherchiert. Trotzdem müsste ich noch mal nach Sternberg fahren, wenn ich sie hier einfügen will. Manches hab’ ich inzwischen vergessen, manches auch noch nicht gefunden …

Ich wollte von der Bushaltestelle sofort in meine kleine Wohnung stürzen, am liebsten hätte ich gleich mit dem Schreiben angefangen, aber mir fiel noch rechtzeitig die Thekla Johanna ein. Also zuerst in den Garten. Ich muss doch den Schuppen verschließen, dachte ich, es wird bald dunkel, der Fuchs könnte — o mein Gott. Und eine Minute später war ich schon auf dem Weg zur Kleingartenanlage, zu meinem Garten, in dem Thekla Johanna wohnt. Das ist ein braunes Huhn. Ein bemerkenswertes Huhn, denn es hört auf seinen Namen, es kommt, wenn man es ruft. (Falsch. Es hört auf meine Stimme. Und es kommt, wenn ich es rufe.) Wir lieben uns, keine Frage. Immer, wenn ich die Gartenpforte öffne und leise „Thekla!“ rufe, antwortet von irgendwoher, aus einem der Beete oder vom Kompost, ein aufgeregtes, krächzendes Gegacker, und dann kullert sie mir vor die Füße, mit ausgebreiteten Flügeln, hüpft ein wenig auf der Stelle, läuft in den Schuppen, ich muss hinterher, denn sie will mir das Ei zeigen.

Thekla, Thekla Johanna! rief ich jetzt schon an der Gartenpforte, aus dem Kräuterbeet kam die Antwort, und schon fiel ein braunes Bündel aus dem Grün: Thekla Johanna lief mir, ihrer Herrin, der Menschenfrau, (was auch immer, vielleicht bin ich für sie der Oberste aller Hähne?) flügelflatternd entgegen. Am Zaun lehnte Gartennachbar und Feuerwehrchef Benno Sroka, hielt sich den Bauch vor Lachen, obwohl er dieses Schauspiel nicht zum ersten Mal genoss. Verrückt, diese Hexe, brummelte er, hat sich ein Huhn dressiert. Und hat täglich ihr frisches Ei. Verrücktes Weib. Na ja, bei der Mutter … Er dachte, ich hör’ ihn nicht. Doch ich hab’ zwar schlechte Augen, aber gute Ohren.

Thekla Johanna war gefüttert, der Schuppen hinter ihr verschlossen, wenig später saß ich auf dem Balkon, schaute in den Abendhimmel, dachte über mein Buch nach. Merkwürdige Empfindungen breiteten sich in mir aus: Vorfreude, Spannung, Glück. Nichts war mehr da von den deprimierenden Gefühlen im Bus. Nein, ich hatte mein Selbstbewusstsein nicht verloren. Endlich würde ich alles aufschreiben. Niemand sollte mich stören oder gar davon abhalten wollen, sollte anderes von mir verlangen als — schreiben, schreiben. Unwichtig alles Übrige: Vorläufig keine neuen Klamotten kaufen — na und? Sparsam essen, weniger heizen, keinen Backofen benutzen, nur Energiesparbirnen verwenden — das praktiziere ich schon längst. Nirgendwo hinfahren, ins Ausland schon gar nicht — das wäre auch dann nicht möglich, wenn ich beim Bobrach hin und wieder ein wenig verdienen könnte. Nein, nie mehr zum Bobrach.

Der Herr Hellmuth von Bobrach. Alter Adel. Hat sich das „Land seiner Väter“ zurückgekauft. Für’n Appel und ´n Ei, sagen die Leute. Aber ein ganz freundlicher Mensch ist das, sagen die Leute. Hat so manchem zu Arbeit verholfen, sagen die Leute, durch seinen Hausbau, die Waldarbeiten, die Tiergehege. Redet mit jedem wie mit seinesgleichen, sagen die Leute, ist mit allen Angestellten auf Du und Du. Und ein schöner Mann ist das, sagen die Frauen. Nicht mehr jung, aber ein Mannsbild eben. Groß, schlank, sonnenverbrannt, grau meliert — wie einem Heimatfilm entstiegen: „Der Wildhüter am See“. (Den Film gibt es nicht? Wer weiß. Zumindest gibt es ähnliche Schnulzen.)

Manch eine machte ihm schöne Augen, dem schönen Mann. Meine Nichte Mona, damals frisch geschieden und noch nicht wieder liiert, war die Erste. Sie bekam eine Anstellung als Tierpflegerin. Aber weiter tat sich, zu ihrem großen Kummer, nichts. Als unsere Rinderaufzuchtanlage „abgewickelt“ war und ich jahrelang keine Arbeit finden konnte, bewarb ich mich schließlich beim Bobrach, als Buchhalterin. Das hatte ich zwar nicht direkt gelernt, aber ich konnte es. In unserem kleinen, inzwischen ebenfalls „abgewickelten“ Ländchen musste man als Betriebsleiterin auch Buchhalterin sein können.

Und nun erlebte ich den Bobrach beinahe hautnah, täglich. Nicht sofort, aber recht bald gerieten wir uns in die Haare. Auch das täglich. Denn ich konnte meinen Mund nicht halten.

Den Wald einzäunen, Hellmuth? Wie soll das gehen? Du zerstörst die Wildwechsel. Die Wölfe fernhalten? Durch Waldeinzäunung? Geht doch gar nicht. Weißt du, was die Leute sagen? Hat er den Wald gekauft, sagen sie, muss er die Wölfe in Kauf nehmen. Die Wölfe abknallen? Aha. Also stellst du dich außerhalb aller Gesetze. Ein Rotwildgehege anlegen? Mit Beobachtungsturm für Schulklassen und Touristen? Und dann die Tiere zum Abschuss freigeben, an gut zahlende, von weither angereiste Hobbyjäger? O du mein Gott, wo leben wir jetzt. Ich werde schreien, Hellmuth, Zeter und Mordio werd’ ich schreien, und nicht nur ich, verlass dich drauf. Meine Mutter, die Koschlick Anna, wird noch lauter schreien. Wird dir die Naturschützer auf den Hals hetzen …

Irgendwann entließ er mich, es war vorherzusehen. Nein, nicht noch einmal zum Bobrach. Zum dritten Mal wird er mich auch nicht wieder einstellen, nicht einmal als Waldarbeiterin. Käme auch nicht infrage, bin über Sechzig. Nein, jetzt ist anderes angesagt: Schreiben. Nur noch schreiben.

Die Frage, worüber ich denn schreiben wollte, stellte sich nicht. Das war keine Frage, sondern von vornherein klar: Über uns merkwürdige Weiber am See war zu schreiben. Anna und Katja. Mona und Fanny. Zwei Mütter, zwei Töchter. Vier Weiber am See. Könnte das der Titel sein? Den Rodunger See taufte ich sofort um, bei mir hieß er nun Vierweibersee. Aber der Titel war das noch nicht, das fühlte ich, das stellte sich auch schnell heraus. Er änderte sich während des Schreibens von Monat zu Monat.

Es dämmerte, wir schrieben den 21. März, Tag- und Nachtgleiche, Frühlingsanfang. Ich stellte mir einen Termin: Bei der nächsten Tag- und Nachtgleiche, am 21. September also, soll eine Rohfassung meines Buches fertig sein. Ja, Termine, selbst geschaffenen Druck, das werde ich brauchen, um nicht im Loch der faulen Untätigkeit zu versinken. Im „Harz-IV-Sumpf“. Wo König Alkohol regiert.

Es wurde kühl auf dem Balkon. Irgendetwas essen muss der Mensch, sagte ich mir, ging in die Küche und machte ein Butterbrot zurecht. Die Gedanken kreisten weiter, rund um den Vierweibersee, durchsuchten das Waldgebiet am Speicherbecken nach den Wölfen. Plötzlich hörte ich wieder den Lärm des Hubschraubers über dem See, stolperte neben Mona durch den Wald, bei unserer Suche nach Mutter, nach der Koschlick Anna. Die Vorfreude auf mein künftiges Tun wuchs zu einer Art Euphorie, ich warf den Computer an, öffnete eine neue Datei, nannte sie „Vier Weiber am See“, schrieb darunter: Ablaufplan. Hielt inne. In mir sang etwas: „Ja, mach nur einen Plan und sei ein großes Licht …“

Achtung, Katja, sagte ich zu mir, du bist kein großes Licht. Das kann auch daneben gehen. Und was dann?

Nichts dann. Dann war es ein Versuch. Aber der muss gewagt werden.

Es wurde eine lange Nacht. Der „Ablaufplan“ füllte zwei Seiten. Morgen fange ich an, dachte ich vor dem Einschlafen, mit diesem ersten Satz: Über dem See kreiste ein Hubschrauber.

2.

Aber der Vormittag verging mit Nachdenken, mit Änderungen am Ablaufplan, mit Notizen zu den Biografien der Personen, mit denen ich die Geschichte zu bevölkern gedachte; ich stürzte in ein Chaos aus durcheinandergewürfelten Gedanken und Gefühlen, entnervt schloss ich die Datei, fuhr den Computer herunter, lief aus der Wohnung, hinunter zum See, in die Kleingartenanlage, in meinen Garten, zu meinem braunen Huhn.

Weißt du, Thekla, sagte ich, es ist schwerer, als ich dachte.

Thekla Johanna gackerte aufmunternd und lief zum Gartenhäuschen. In der strohgepolsterten Kiste lag ein weißes, mit kleinen braunen Punkten gesprenkeltes Ei.

Ja du, lobte ich sie, du hast dein Tagwerk schon vollbracht. Das ist aber auch leichter zu schaffen als mein irrwitziges Vorhaben. Allerdings — so ein schönes, ebenmäßiges, gesprenkeltes Ei brächte ich nie und nimmer zustande. Da kannst du mehr als ich. Und ich stehe in deiner Schuld, weil du mein Mittagessen gesichert hast. Aber ich werde dir beweisen, dass ich auch etwas kann. Dass mich nichts davon abhalten wird, dieses Buch zu schreiben. Und wenn es nur für dich wäre, Thekla Johanna, ganz allein für dich. Dann kannst du dir was drauf einbilden, mein Hühnchen.

Seltsam, das kindische Gespräch mit dem Huhn hatte mich wieder ins Gleichgewicht befördert. Zufrieden und gelassen ging ich zurück, machte mir Bratkartoffeln mit Rührei, aß, spülte das Geschirr ab und — öffnete meine Datei, schrieb diesen Satz — aber nun klingelte es an der Wohnungstür.

Ich setzte noch den Punkt und ging seufzend öffnen: Fanny stand da, Tochter meiner Nichte Mona. Eine magere, blonde Achtzehnjährige mit sehr großen, tiefblauen Augen, Erbstücke von ihrer Mutter. Wie immer ungestylt, ungeschminkt, ohne Piercings und Tattoos — schon damit ist sie heutzutage eine Außenseiterin unter den Gleichaltrigen. Mit ihren Ansichten und Interessen ist sie’s auch. Biologie und Literatur sind ihr wichtiger als Filme und Fernsehen, klassische Musik, auch moderne, hat sie lieber als Rock und Pop; sie sitzt eher in einer stillen Ecke und liest, als in Discos oder Rockkonzerte zu rennen. Dass sie trotzdem von Mitschülern und Lehrern akzeptiert wird, ist erstaunlich, hat mit ihren guten Leistungen aber ebenso viel zu tun wie mit ihrer aufrichtigen und freundlichen Art, ihre Meinung zu äußern. Zur Klassensprecherin haben ihre Mitschüler sie gewählt, trotz ihrer Außenseiterrolle.

Ich mag Außenseiter. Und Fanny mag ich besonders. Gegen dieses große Kind bin ich machtlos. Ich kann ihr nichts abschlagen. Und ich habe das Gefühl, dass sie mich braucht.

Stör ich? fragte sie. Nein, log ich, komm nur.

Ungeniert schaute sie auf den Bildschirm, las meinen ersten Satz, fragte neugierig, beinahe aufgeregt: He, schreibst du wieder? Wirkliches oder Ausgedachtes?

Sicher beides, sagte ich. Weißt du nicht mehr, wie der Hubschrauber kreiste? Als wir nach deiner Uroma suchten? Manches werde ich mir auch ausdenken müssen. Aber es gibt sehr vieles, das man sich gar nicht ausdenken kann. Ich jedenfalls nicht.

Was denn, zum Beispiel?

Zum Beispiel die Geschichte von der unschuldigen Stadt, die ich dir mal zum Lesen gab. Vor vier, fünf Jahren. Erinnerst du dich daran noch? Wie kann man sich das ausdenken? Meine Mutter hat sie mir erzählt, sie hat sie sich aber auch nicht ausgedacht. Ich habe später viele Zeitschriftenartikel und Bücher darüber gelesen und die genauen Fakten eingearbeitet. Die Geschichte ist also belegt, aktenkundig, es gibt Quellen, die sich aber widersprechen. Ich habe manches ergänzt, was nicht belegt, aber wahrscheinlich so gewesen ist. Dass die Frau des Kaufmanns Rebecca hieß und ihre Tochter Tabea, die Mutter des Bräutigams hieß Lea — das hat sich schon meine Mutter ausgedacht, vielleicht auch ihr Vater, mein Sänger-Großvater. Denn die Namen der Frauen sind nicht überliefert. Nur die der Männer. Rebecca wird stets nur „Eleasars Weib“ genannt. Und bei dem, was ich jetzt schreiben will — da gibt es entsetzlich viel, was ich mir nie im Leben ausdenken könnte, es würde mir in den übermütigsten Träumen nicht einfallen. Wie könnte ich mir beispielsweise so etwas wie Hartz IV ausgedacht haben? Du weißt ja, was das ist. Deine Mutter betrifft das? Freilich. Mich doch auch. Und? Kannst es nicht definieren? Ich auch nicht. Werden wir es googeln, so nennt man das doch heutzutage, wieder ein neues Wort. Hab ich mir auch nicht ausgedacht. Also schauen wir nach. Aha.

„Das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Hartz IV-Gesetz stellt die vorerst letzte Stufe der Umsetzung des sogenannten Hartz-Konzepts dar. Das Gesetzespaket, bestehend aus den Gesetzen Hartz I bis IV, ist benannt nach dem Leiter der Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt", Dr. Peter Hartz, und trat in vier Stufen zwischen Januar 2003 und Januar 2005 in Kraft. Sinn und Zweck der Gesetzesänderung ist die Reform des Arbeitsmarktes, die nach Meinung der Kommission mit Hilfe der 13 sogenannten Innovationsmodule vonstattengehen sollte.“

Ha! rief Fanny, aber Mama hat dadurch weniger Geld als vorher und noch immer keine richtige Arbeit, nur ab und zu beim Bobrach. Das steht da natürlich nicht, oder was?

Nein? Tatsächlich, das steht da nicht. Und da steht auch nicht, dass diese Innovationsmodule — was immer das auch ist, wir können es ja gleich mal googeln — immer noch nicht wirken. Und da du den Herrn von Bobrach gerade erwähnt hast — wie könnte ich mir so einen ausgedacht haben? Wahrscheinlich gibt’s den als Serienfertigung. Wie manch anderen auch. Und die Koschlick Anna, deine Uroma? Die war einzigartig, wie könnte ich mir die ausgedacht haben? Die hat sich doch eher mich ausgedacht. Jedenfalls hat sie mich in die Welt gesetzt.

Dabei wurde mir bewusst — und ich vergaß Fanny für einen Moment —, dass eigentlich weiterhin „ich“ zu sagen wäre, wenn demnächst von mir, von Katja, von Annas Tochter also, die Rede sein wird. Nein. Das muss ich lassen. Zu diesem Weib brauche ich Abstand. Viel Abstand. Das muss ich gelegentlich vor mich hinstellen können und anschauen und sagen: Das ist die Koschlick Katja, jetzt Brinkmann Katja, früher Sänger Katja. Die mit dem Schafsgesicht. Mit dem Kurzhaarschnitt. Studierte Landwirtin, Freundin der Wölfe, Hartz-IV-Empfängerin, Gelegenheitsjobberin. Und — nach Meinung mancher Menschen hier — verrückte Tochter einer verrückten Mutter. Unter Hexenverdacht. Beide.

Ich wollte zu meinem zweiten Satz kommen und fühlte Unmut in mir aufsteigen, Ärger auf meine liebe Fanny, die mich daran hinderte. Die nun redete ohne Pause: Zu Hause seien sie zwar, die Mutter und der Sepp, aber weil der Bobrach sie mal wieder entlassen habe, säßen sie herum mit Bierflaschen in den Händen, Schwester Theresa sei arbeiten, aber nach Hause komme die kaum noch, sie ginge zu ihrem Freund, zum Tom Möller, diesem Assistenzarzt, sie seien jetzt auf der gleichen Station, sie …

Ungefähr hier unterbrach ich ihren Redefluss. Ja, Tom Möller, sagte ich ein wenig unwillig, ich erinnere mich an ihn. Er saß damals im Hubschrauber, als wir nach der Anna suchten. War er nicht dabei, als ich die Legende von den vier Weibern am See erzählte? Die Resi sollte wissen, dass sie deinetwegen heimfahren müsste, so oft wie möglich. Hör zu, Fanny, du kannst jederzeit zu mir kommen, ist das klar? Sozusagen Tag und Nacht, verstanden? Ganz herziehen? Nein, das machen wir nicht. Dann verliert deine Mutter womöglich jeden Halt. Begreifst du das? Außerdem hab ich nur diese beiden kleinen Zimmer. Und eure Wohnung ist doch nur ein paar Hauseingänge entfernt. Setz dich, wohin du willst, mach deine Hausaufgaben, das Abi schenkt dir niemand, und lass mich nun weiter schreiben, bitte.

Sie schien zu begreifen. Ja, gleich, sagte sie und schaute mir direkt ins Gesicht.

Aber? Was noch, Fanny? fragte ich entwaffnet.

Ich möchte so gern ein bisschen bei dir mitschreiben, Tante Kati, sagte sie leise, beinahe schüchtern.

Und wie soll das gehen?

Sie stammelte herum. Mitlesen wolle sie, auch mal was vorschlagen, vielleicht sogar selbst ein paar Seiten schreiben, die ich dann bearbeiten und einfügen könne …

Das funktioniert nicht, sagte ich entschieden.

Fanny war enttäuscht. Warum nicht? Na gut, musst du erst drüber nachdenken. Sie zog sich auf meine Couch zurück und packte ihre Bücher aus.

Warum eigentlich nicht, dachte ich, soll sie mir doch helfen. Ein Lacher steckte mir in der Kehle, aber ich verschluckte ihn, Fanny könnte ihn hören. Thekla, das Huhn, und Fanny, das Küken, hatte ich gedacht, beide ernenne ich hiermit zu meinen Co-Autoren. Und ich ging wieder zu meinem spärlichen Anfang. Zu diesem einen, einsamen Satz. Zu diesem Hubschrauber. Viel zu lange kreiste er schon über dem See.

Kapitel II, worin nach der Koschlick Anna gesucht wird und Katja über ihre Kindheit nachdenkt

1.

Grüner Polizeihubschrauber. Sein knatterndes Dröhnen erfüllte die Luft, man hörte es in den Dörfern ringsum, in den Neubauten am nördlichen Seeufer und in den Wäldern, die sich südöstlich bis hin zu den qualmenden Schornsteinen des Kraftwerks ausstrecken. In der offenen Grube hörte man es nicht, denn das Gequietsche der Förderbänder löschte es aus. Nur das Wolfsrudel, das unweit vom Grubenrand im Gestrüpp lagerte, nahm es zur Kenntnis, für Sekunden richteten die Tiere ihre Ohren auf. Zwei Alttiere, vier Welpen, vier Jährlinge. Dann schliefen sie weiter. Es war früher Morgen. In der Nacht hatten sie ein Reh geschlagen, sie waren satt und zufrieden. Zwar ist ihre Heimat laut, aber daran haben sie sich gewöhnt.

Was für ein Lärm, dachte Anna. Was will denn der Hubschrauber. Fliegt tief über die Uferränder. Mich sieht er nicht. In diesem dichten Gebüsch sieht mich niemand. Aber ich sehe den See. Schade, das Dorf auf seinem Grund sehe ich nicht. Sie haben es abgerissen, bevor geflutet wurde? Nein, nein. Es ist versunken. Ein Vineta. Herbert ist auch versunken. Aber ist das auch dieser See? War hier unser Dorf?

Anna wird demnächst achtzig. Sie ist nicht mehr ganz richtig im Kopf. Sagen die Leute. Sie denkt das nicht. Sie glaubt sich ganz und gar bei sich selbst. Und also ist sie es auch. Sie vergisst das Nächstliegende, aber sie weiß alles Fernerliegende, auch wenn sie es gelegentlich durcheinander bringt. Sie ist schon gestern Abend losgewandert, in der Meinung, es sei die Morgendämmerung, die auf ihren Balkon gekrochen kam. Hat sich warm angezogen, Trainingsanzug und Anorak, den kleinen Rucksack gepackt: Regenumhang, zwei Doppelschnitten mit Wurst und Käse, Trinkflasche, zwei Äpfel, Fernglas. Sogar den Kompass hat sie eingesteckt. Das Handy nicht. Sie mag es nicht. Sie hat es nicht haben wollen. Aber die Tochter hatte drauf bestanden: Du immer mit deinen weiten Wanderungen. Und wenn dir da mal was passiert?

Kopfschüttelnd schaute Anna das schwarze Ding an. Was soll mir schon passieren. Ich brauch so was nicht. Wanderschuhe, ja, das ist wichtig. Und das Taschenmesser, das Schweizer, an der Kette und am Anorak befestigt. So ist sie losgezogen, und es ist ihr nicht aufgefallen, dass die Sonne tief im Westen stand, nicht im Osten.

Anna ist klein und ein wenig rundlich, aber noch immer sportlich. Mühelos und voller Freude wandert sie mehrmals im Monat zehn oder auch zwanzig Kilometer, sogar die Erschöpfung nach langem Weg genießt sie, lehnt sich an einen Baum oder streckt sich auf einer Wiese aus, isst und trinkt, schläft vielleicht auch ein paar Minuten. Und stapft weiter. Oder zurück. Bisher hat sie das noch niemals verwechselt. Doch diesmal ist alles ein wenig anders, weil sie die Abenddämmerung mit dem Morgengrauen verwechselt hat.

 

Als sie begriffen hatte, dass es langsam, aber unaufhaltsam immer dunkler wurde und nicht heller, begriff sie auch den Irrtum. Aber da war sie schon auf der anderen Seeseite angekommen. Verwirrt setzte sie sich ins Gras und schaute auf das Wasser. Hab ich also den Tag durcheinander gewirbelt, dachte sie. Und lachte plötzlich.

Sie lachte über sich und über die Welt und über den Vers, der ihr gerade eingefallen war, und weil es sich also gefügt hatte, dass sie in ihrem Alter noch mal in der freien Natur übernachten wird. Das gefiel ihr. Denn es roch nach Jugend. Es roch — o mein Gott, dachte sie, es riecht nach Viktor … Aber ich hab’ den Abend mit dem Morgen verwechselt, das ist ein böses Omen. Als Schwiegervater, der Koschlick Johann, an jenem Augustmorgen durch den Hof stolperte, erregt und schimpfend, weil das Tor noch nicht geschlossen war und die Garage offen stand — ist schon achte durch, rief er, wird gleich dunkel, keiner sorgt hier für Ordnung, wenn es mir mal nicht so gut geht — , da wussten wir plötzlich alle, dass seine Zeit nun gekommen war. Herbert führte ihn behutsam ins Haus, brachte ihn ins Bett, klärte ihn nicht auf über die Verwechslung. Holte den Schumann, den Doktor. Aber der hat den Opa nicht untersucht. Hat ihn nur angeschaut. Na, denn mach’s mal gut, Johann, sagte er. Und ging, stieg auf sein Moped.

Woll’n Sie denn gar nichts tun?, rief Herbert ihm im Hof nach.

Nee, Herbert, rief der Schumann zurück, da steht schon ein anderer am Bett, da hab’ ich nichts mehr zu melden, drei, vier Stunden hat er noch, sagt mir dann Bescheid, wegen Totenschein und so.

Aber was hat er denn?, schrie Herbert, warum sagen Sie, dass er sterben wird?

Seine Zeit ist gekommen, sagte Schumann. Er hat sein Lebtag keinen Arzt gebraucht. Er braucht auch jetzt keinen.

Er warf das Moped an und knatterte los. Ja, so war er, der Schumann. Ist nun auch schon ein Weilchen tot. Und er hat recht gehabt, sogar mit der Zeitangabe: Mittags lebte Schwiegervater nicht mehr. Da saß Schwiegermutter, die Koschlick Martha, an seinem Bett und hielt seine gefalteten Hände umklammert. Hatte ihm ein schmales weißes Tuch unters Kinn gelegt und über dem Kopf verknotet. Weinte nicht. Sprach leise mit ihm. Sorbisch. Kein deutsches Wort verirrte sich in ihre Rede.

Johann, sagte sie, sei nur froh, du hast es geschafft. Du musst es nicht erleben, wenn sie denn kommen und uns hier rausschaffen und in eins dieser Häuser in Rodungen stecken, die sie Blöcke nennen. Wenn sie den Hof und das Haus und ganz Bukow zuschanden schlagen. Was tu ich ohne dich, wenn das auf uns zukommt?

2.

Sie lachte schon lange nicht mehr, die Koschlick Anna. Nun bin ich also dran, dachte sie. Das ist in Ordnung. „Wer den Morgen für den Abend hält / und den Abend für den neuen Morgen, / hat nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt, / muss um Tag und Nacht sich nicht mehr sorgen.“ Woher ist das? Vergessen. Ich vergesse zu viel.

Die Müdigkeit kam mit der völligen Dunkelheit, da verkroch sich die Anna in ein Gesträuch, raffte trockenes Gras um sich her, legte den Rucksack unter den Kopf, kringelte sich zusammen wie ein kleines Kind. So fühlte sie sich auch: geborgen. Die Nacht war warm, fast schwül. Aber kein Sommer-End-Gewitter entlud sich, nichts geschah, das Annas Ruhe gestört hätte. Erst in der Frühe wurde es kühl, da erwachte sie und versuchte sich zu orientieren, zu erinnern. Wo war sie hier? Warum war sie hier? Was wollte sie hier? Sie schaute ihren Rucksack an, schaute hinein, erinnerte sich. Ja, dachte sie, ich will in den Wald dort hinten, will nachsehen, ob der Herr von Bobrach ihn tatsächlich schon eingezäunt hat. Und Pilze will ich finden. Und, vielleicht, die Wölfe. Sie sollen halbjährige Welpen haben. Sagt man. Wie lange ist es her, seit ich dem Wolf begegnet bin, dem graubraunen, mit dem Sender um den Hals? Ein Jahr? Oder zwei? Da saß ich am Hang unweit vom Grubenrand und schaute über die weite schwarze Fläche; wie mit Wundpflastern übersät ist unsere Landschaft; und plötzlich sah ich ihn. Nur ein paar Meter entfernt saß er und beobachtete mich. He, hab ich zu ihm gesagt, bist du das wirklich? Ich hab von dir in der Zeitung gelesen. Sie nennen dich Rolf.

Ob ihn das geärgert hat? Er drehte sich um und war verschwunden. Hab’s der Katja erzählt, sie hat mir geglaubt. All die andern, denen ich es noch erzählte, sagten zwar „Ach ja?“ und „Na so was!“, aber ich sah´ s ihnen an, dass sie dachten: Die Koschlick Anna spinnt mal wieder. Schlimmer: Manch einer hält mich für eine Hexe. Der Hexenglaube ist nämlich nicht ausgestorben. Zumindest hier nicht.

Anna kroch aus dem Gebüsch und richtete sich auf, wischte sich die Spinnweben aus dem Gesicht. Altweiberfäden, dachte sie. Liebfrauenhaar. Marienfäden. Wer erfindet so schöne Namen …

Der Hubschrauber kreiste jetzt über der Mitte des Sees. Anna schüttelte den Kopf. Nach wem die wohl suchen. Nein, es ist nicht dieser See. Ich muss weiter. Wie lange mag ich geschlafen haben? Es ist noch immer früher Morgen. Da kann ich doch höchstens ein paar Minuten geschlafen haben. Oder?

Plötzlich fiel es ihr wieder ein: Morgen und Abend … Nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt. Und ihr fiel ein, dass sie noch etwas anderes finden wollte. Das Haus, in dem sie ihr halbes Leben verbracht hat. Und den Mann will sie dort wieder treffen, den sie geliebt hat, denn dort wird er sein. Denkt sie. Aber welchen Mann? Herbert? Will sie wirklich Herbert dort treffen? Oder vielleicht doch Viktor? Das will sie nicht denken. Das ist ein wunder Punkt. In achtzig Lebensjahren versammeln sich viele wunde Punkte auf der Seele. Die schmerzen, wenn die Gedanken sie berühren. Dieser schmerzt mehr als andere.

Anna ging langsam auf dem Waldweg nach Osten, den Blick aufmerksam auf die Wegränder gerichtet, kein Pilz war zu sehen. Aber es roch nach Pilzen. Und nach Moder und Moos. Und nach Kiefern und Sand. Es roch nach Altweibersommer.