Impressum

Günther Krupkat

Nabou

Utopischer Roman

 

Das Buch erschien erstmals 1968 im Verlag Das Neue Berlin

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

ISBN 978–3–96521–149–0 (E–Book)

 

© 2019 EDITION digital
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Erster Teil: Das Mädchen Yamina

Ankunft in Beirut

Pünktlich um siebzehn Uhr war die Maschine auf dem Fernflugplatz Kaldeh gelandet. Die Passagiere begaben sich zur Ausgangshalle.

Ich blieb unschlüssig stehen und sah mich um. Kein Empfang durch einen Vertreter der Akademie? Immerhin kam ich als Teilnehmer eines Vorhabens, dessen Durchführung der Arabischen Akademie der Wissenschaften vom Weltforschungsrat übertragen worden war.

Vielleicht hat man mit den Vorarbeiten für das Unternehmen alle Hände voll zu tun, dachte ich. Diese Begründung war allerdings nicht sehr überzeugend. Ein wenig verstimmt, schritt ich auf das Hauptgebäude zu.

Über dem Dach wehte die rot-weiß-rote Flagge mit der grünen Zeder im Mittelfeld. Libanon – Land der Zedernwälder! Unter den schattigen Wipfeln sprudelten einst Quellen. Duft und Kühle labten die Menschen. Felder und Gärten gediehen üppig. Es war das Paradies gewesen. Aber die Menschen vertrieben sich selber daraus, indem sie die Baumriesen um des kostbaren Holzes willen fällten. Vor Jahrtausenden schon geschah das.

Und die Wüste kam über die Berge. Sie ließ die Wasser versiegen, verödete die Täler mit ihrem Hauch. Es ging wie ein Stöhnen durch das Land. Lange erfüllte die Bewohner der bleichen Berge brennende Sehnsucht nach den alten, lebenspendenden Wäldern. Bis sich der Mensch anschickte, das Antlitz der Erde nach seinem Willen zu formen. Und nun rauschen wieder immergrüne Zedern über den Hochtälern des Libanons.

Es war schwül. Das Hemd klebte mir am Körper, ich riss den Kragen auf. Vor Kurzem waren heftige Gewittergüsse niedergegangen, erste Vorboten der Regenzeit. Unter den Strahlen der südlichen Sonne hatten sich die Wolken rasch verzogen, die Spuren des feuchten Intermezzos schwanden zusehends. An den Blattspitzen der Palmen blitzten die letzten Regentropfen.

Als ich die Halle betrat, sah ich, dass ein Transportroboter mein Gepäck zum Vorplatz fuhr. Erstaunt darüber und in Sorge, es könne ein Irrtum vorliegen, wandte ich mich an den Auskunftsautomaten der Passagierabteilung und fragte, ob eine Nachricht für mich vorläge.

Der Automat war auf mehrere Sprachen programmiert. Er fand aus meinem mangelhaften Französisch sogleich Lautelemente der deutschen Sprache heraus und antwortete auf deutsch. „Begeben Sie sich bitte zum Vorplatz, Monsieur Pertenkamp. Graviplan sieben-dreiundneunzig wird Sie zu Ihrem Hotel bringen.“ Dann nannte er mir die Schaltnummer für den Piloten.

Auf dem Wege zum Standort der Lufttaxis gewann ich die gute Laune wieder. Man hatte in der Akademie meine Ankunft also nicht übersehen, und alles lief seinen geordneten Gang.

Der Pilot der mir bezeichneten Maschine war ein Roboter zweiter Ordnung vom Typ der Servoautomaten. Als ich ihm die Schaltnummer zurief, wiederholte er monoton die ihm eingegebene Information, mich zum Hotel zu befördern. Er sprach ein hartes Französisch mit arabischem Akzent.

Der Graviplan – eines jener neuartigen Kleinflugzeuge, die nach dem Prinzip der Schwerkraftsteuerung entwickelt worden sind – erhob sich geräuschlos und nahm Kurs auf die Stadt, die unter dem flimmernden Dunst des heißen Tages lag.

Die Sonne stand bereits über dem westlichen Seehorizont. Ihr Licht brach sich an den Plastefassaden der Hochhäuser und Wohntürme, es blinkte in Hunderten von gläsernen Wänden. Straßen und Plätze waren in die violetten Schatten der Dämmerung getaucht.

Spuren seiner bewegten Vergangenheit ließ das Beirut des einundzwanzigsten Jahrhunderts kaum mehr erkennen. Dennoch schien vor der alten orientalischen Metropole immer noch jenes geheimnisvolle Fluidum auszugehen, das uns Menschen des Nordens seit je berauschte. Schwebte ich auf fliegendem Teppich geradewegs einer Scheherezade in die Arme, um tausendundeine Nacht lang ihre Märchen anzuhören? Meine Scheherezade würde gewiss ein bärtiger Professor der Akademie sein, der mir präzise festgelegte Einzelheiten des Expeditionsprogramms auseinandersetzt.

Wir näherten uns dem Zentrum, trieben wie eine Wolke über Dachgärten hinweg und sanken schließlich zum Parkplatz des Hotels hinab.

Der Taxameter am Führersitz wies aus, dass ich für den Flug ein libanesisches Pfund zu zahlen hatte. Das war preiswert. Ich steckte den Betrag in den Kassenschlitz des Automaten. Der stählerne Bursche warf das Geld aber wieder aus. „Schon bezahlt!“, erklärte er kurz und knapp.

Angesichts dieser Großzügigkeit meiner unbekannten arabischen Freunde wollte ich mich nicht kleinlich zeigen, zumal ich aus früheren Berichten vielgereister Leute wusste, dass im Orient Bakschisch seit eh und je so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen war.

Natürlich liegen die Bedürfnisse eines Automaten nicht in den Bereichen menschlicher Begehrlichkeit. Aber auch dem bestfunktionierenden Autopiloten kann es passieren, dass er mit einem Manko ins Depot zurückkehrt. Deshalb steckte ich ihm das eingesparte Pfund abermals zu, wobei ich mit Nachdruck das alte arabische Zauberwort „Bakschisch“ aussprach.

Das Ergebnis war ebenso überraschend wie logisch. Er gab mir vier 25-Piaster-Stücke heraus. Sein Hirnrelais hatte wohl folgendermaßen geschaltet: keine Forderung, aber neues Geld – wahrscheinlicher Grund, Geld wechseln. Das Wort „Bakschisch“ war ihm von seinen Schöpfern nicht eingeprägt worden, es fand keine Anwendung mehr. Ich nahm die vier Münzen und war um eine Erfahrung reicher.

Im Hotel empfing mich der Chefautomat der Rezeption ebenfalls in deutscher Sprache.

„Wir begrüßen Sie in Beirut, Monsieur, und wünschen angenehmen Aufenthalt. Ihr Appartement hat die Nummer zwei-sieben-eins-eins-neun-acht, Block C, bitte sehr.“ „Wenigstens Ausblick zur See?“, fragte ich skeptisch. „Jawohl, Monsieur. Beste Mittellage. Begeben Sie sich bitte zum Expresslift eins-sieben. Boyautomat Nummer sechs-drei geleitet Sie zum Appartement.“

„Meine Koffer…“

„Besorgt Subautomat Nummer zwei–drei–vier, Monsieur. Haben Sie besondere Wünsche?“

Nein, die hatte ich nicht. Aber noch blinkte der Chefautomat, Aufmerksamkeit heischend.

„Um eins-neun Uhr wird Sie ein Vertreter der Akademie erwarten. Im Raum Nummer eins-null-fünf-vier. Halten Sie sich bitte bereit.“

„Ausgezeichnet!“ Ich dachte an die Scheherezade meiner Träumerei während des Fluges und musste lächeln. „Hoffentlich werde ich mir alles merken.“

„Überflüssig, Monsieur. Bitte sehr!“ Der Automat präsentierte mir einen Zettel mit den eben erteilten Informationen: 27–11–98 C – 17 – 63 – 234 – 19 – 10–54.

Es war wunderbar. Solch eine Perfektion hatte ich in den jungen Städten Antarktikas, wo ich jahrelang lebte, nicht kennengelernt. Allerdings bedurfte es dort auch nicht eines so ausgeprägten Zahlengedächtnisses, um ein Dach über dem Kopf und ein Bett unterm Kreuz zu finden.

Nachdem mich Boy dreiundsechzig über Lift siebzehn ins siebenundzwanzigste Stockwerk und durch Flur elf zum achtundneunzigsten Appartement des Blocks C gelotst hatte, fühlte ich mich versorgt und war zufrieden.

Nummer zweihundertvierunddreißig brachte auch schon mein Gepäck. Ich entnahm den Koffern nur das Notwendigste; denn ich rechnete damit, bereits morgen an Bord der Sindhbad, unseres Expeditionsschiffes, zu gehen. Zunächst erfrischte ich mich durch ein Bad und wechselte die Kleidung. Dabei überlegte ich, was ich unternehmen könnte. Ich trat ans Fenster, öffnete es weit.

Vor mir lag die Bai von Saint Georges. Im Hintergrund erhoben sich die Libanonberge, Abendschein glühte auf den Graten. In tiefen Zügen atmete ich den Duft von Pinien und reifenden Orangen. Unbändige Lebensfreude erfüllte mich. Am liebsten hätte ich diese ganze farbenprächtige Welt in die Arme geschlossen.

Meine Augen folgten dem weiten Bogen des Küstensaums. In einer der Buchten dort mochte die Sindhbad vor Anker liegen, mit der ich eine Reise unternehmen würde wie kein Mensch zuvor.

Und da war auch wieder die Frage, die ich mir schon hundertmal gestellt hatte: Werde ich die Erwartungen rechtfertigen, die der Forschungsrat in mich setzt?

Ich kann nicht sagen, dass ich mich jemals unterschätzte und unter Hemmungen litt. Im Gegenteil, ich besaß ein gesundes Maß an Selbstvertrauen und wusste mich bisher in jeder Lage zu behaupten.

Hier jedoch lagen die Dinge anders. Wir sollten vom Meeresgrund aus ins Erdinnere vorstoßen, in Regionen, die noch gänzlich unbekannt waren.

Ich dachte an die anderen, die mit mir zusammen sein würden auf dieser ungewöhnlichen Fahrt. Die meisten von ihnen kannte ich nur dem Namen nach. Es waren Wissenschaftler von Ruf, älter und erfahrener als ich. Voll Ungeduld sah ich unserer ersten Zusammenkunft entgegen.

Bis zum angekündigten Besuch blieb mir noch eine reichliche Stunde Zeit. Vielleicht wäre es gut, etwas auszuruhen, erwog ich. Über dem Bett befand sich ein Hypnolator, der mich in kurzen Tiefschlaf versetzen konnte. Dazu verspürte ich aber wenig Lust. Ich entschied mich für einen Gang durch die Stadt, warf mir die Jacke um die Schultern und verließ das Hotel.

Der Zwischenfall

Erfrischender Bergwind fuhr unter die Glasdächer der Straßen und vertrieb die Glut des Tages. Das abendliche Leben war in vollem Gange. Gemächlich glitten die Passanten auf den Rollbahnen dahin.

Ich beobachtete eine Weile die hin- und herziehenden Menschenströme. Die breiten Transportbänder vermögen zwanzigtausend Menschen in der Stunde zu befördern, ohne das normale Tempo des Fußgängers zu überschreiten. Den früher üblichen Wagenverkehr gibt es auch in Beirut längst nicht mehr. Er ist auf Autohochstraßen an der Peripherie und auf unterirdische Zufahrtswege beschränkt.

Ein bestimmtes Ziel hatte ich nicht. Ich betrat die nächste Gleitbahn und ließ mich dahintreiben. Hier und da stieg ich ab, betrachtete die Auslagen der Geschäfte, schaute in Snackbars und Restaurants, sah dem Tun und Treiben der Menschen zu.

Von allen Gewohnheiten seiner Vorväter scheint der Orientale nur eine beibehalten zu haben: die sakrale Handlung des Mokkatrinkens. Man schlürft das heiße schwarzbraune Getränk überall und bei jeder Gelegenheit. Allein der Boy mit Turban oder Fes, der früher die zierlichen Tassen servierte, ist von Servoautomaten abgelöst.

Die Beiruter Rollwege sind an den Innenseiten mit Sitzen ausgestattet. Durch einfache Fußschaltung lässt sich ein Stahlfedersessel aus dem Boden klappen, der nach Gebrauch selbsttätig verschwindet. Das ist eine großartige Sache. Ich hatte mir solch einen Sessel hervorgezaubert und genoss in aller Bequemlichkeit das vorüberziehende bunte Straßenbild.

Neben mir saß ein älterer Mann. Er erweckte mein Interesse eigentlich erst, als ich hörte, dass er mit einer Frau fernsprach. Dazu benutzte er ein Taschenvideophon. Der Dialog, in arabischer Sprache geführt, verlief recht einseitig. Die Frau auf dem winzigen Bildschirm redete unter lebhaften Gesten auf den Mann ein. Er begnügte sich damit, hin und wieder ein zustimmendes „Na’am“ zu murmeln. Nach einem letzten Wortschwall verschwand die Frau von der Bildfläche.

Der Mann mochte meinen Seitenblick bemerkt haben. Er sagte, wie entschuldigend, aber mit dem Gleichmut des Orientalen: „Allah verlieh der Frau eine gewandte Zunge, Monsieur.“

„Und ein Videophon“, fügte ich erheitert hinzu. Nachdenklich ließ er den kleinen Apparat in die Tasche gleiten. „Ja, die Technik! Sie verändert unsere Welt immer mehr. Oft frage ich mich, wohin das führen soll.“

„Die Entwicklung ist wie eine Spirale ohne Ende“, erwiderte ich. „Ein Ziel gibt es nicht, nur das Streben nach Vollkommenheit und Harmonie.“

Er wiegte zweifelnd den Kopf. „Mag sein, Monsieur. Sie sind jung und gewiss voller Pläne für die Zukunft. In meinem Alter aber wird der Atem kürzer, und es fällt nicht leicht, dem Schritt unserer Zeit zu folgen. Neulich hieß es im Satellitenfunk, man werde künstliche Sonnen an den Himmel setzen. Ich frage Sie: Geht das nicht zu weit? Sogar unser Meer soll verschwinden.“

„Wir müssen den Wasserhaushalt der Erde neu regeln und brauchen die Bodenschätze unter dem Meeresgrund. Es gibt heute acht Milliarden Menschen, die hohe Ansprüche an das Leben stellen. Das ist kein Problem, aber eine Tatsache, mit der wir rechnen und fertig werden müssen.“

„Einmal werden es zehn und zwölf Milliarden sein. Dann ist das ein Problem!“, wandte er ein.

Ich musste über seine Skepsis lächeln. „Keine Sorge! Man ist schon mit Erfolg dabei, durch künstliche Mutanten bestimmter Bakterien die vegetative Voraussetzung für menschliches Leben auf Mond und Mars zu schaffen.“

„Ach so!“ Er warf mir einen fragenden Blick zu. „Sie sind Wissenschaftler?“

„Geologe.“

„Was sind eigentlich Mutanten?“

„Träger veränderter Erbeigenschaften. In diesem Fall Mikroorganismen, deren natürliche Anlagen wir unseren Absichten entsprechend abwandeln. Sie sollen der Nährboden für eine neue Pflanzenwelt sein, die ihrerseits bewirken wird, dass der Mensch auf den fremden Himmelskörpern eines Tages atembare Luft vorfindet.“

„Das wird eine Ewigkeit dauern, wenn’s überhaupt gelingt.“

„Wir haben die Mittel, das Tempo dieser Entwicklung zu bestimmen.“

Unter fast zornigem Auflachen lehnte er sich zurück. „Was habt ihr eigentlich nicht, ihr selbstbewussten jungen Leute?“ Er überlegte. „Also gut, auswandern, zum Mars, zur Venus, was weiß ich! Immerhin eine Lösung. Die Fremden taten es ja ebenfalls, wenn auch aus anderem Grund.“

Ich verstand ihn nicht und fragte, was er meine.

„Nun, jene Raumfahrer, die einst die Erde besuchten und deren Spur der Archäologe Erik Olden fand. Seit dem Jahre sechsundneunzig stehen wir mit dem Meju in Funkverbindung.“ Seine Augen glänzten. Offenbar war dies ein Thema, das ihn sehr bewegte. Mein Schweigen ermutigte ihn, sich darüber auszulassen. „Die Verständigung ist leider schwierig, weil der Meju mehr als drei Parsek von der Erde entfernt ist. Das sind gut und gern hundert Billionen Kilometer, mein Herr. Billionen, verstehen Sie! Zwischen Anfrage und Antwort vergehen rund zweiundzwanzig Jahre. Bald aber ist es so weit, dass Nachricht vom Meju eintreffen müsste. Alle Welt wartet darauf.“ Er sah mich verwundert an. „Wissen Sie das etwa nicht?“

Vielleicht hatte ich davon gehört, aber es war mir entfallen, weil mich andere Dinge beschäftigen.

Mein Eingeständnis quittierte er mit missbilligendem Kopfschütteln. „Kennt ihr Wissenschaftler heute nur noch die eigenen Probleme? Hoffentlich haben Sie wenigstens die mejuanische Terrasse in Baalbek schon gesehen.“

Als ich ihm sagte, dass ich gerade erst in Beirut eingetroffen sei, legte er mir ans Herz, auf keinen Fall einen Ausflug nach dem nahen Baalbek zu versäumen.

Ich versprach es.

Hierauf empfahl er sich mit der Versicherung, es freue ihn, mich kennengelernt zu haben.

Auch ich verließ kurz danach den Rollweg an einem großen Platz. Liebliche Düfte lockten mich zu einem Bratautomaten, der regen Zuspruch fand. „Ali Baba und die vierzig Hähnchen“ nannte sich diese Stätte lukullischen Genusses – ein Name, der in mir wieder Erinnerungen an alte, längst vergangene orientalische Romantik weckte.

Da ich aber im Hotel essen wollte, versagte ich mir für diesen Abend die nähere Bekanntschaft mit „Ali Baba“. Ich benutzte, der Auskunft eines Verkehrsautomaten folgend, die Direktverbindung zur Uferpromenade, die ich dann in Richtung auf mein Hotel entlangschlenderte.

Nur wenige Passanten begegneten mir. Erst zu späterer Stunde pflegen die Beiruter hier ihren Abendbummel zu unternehmen. So konnte ich mich ungestört meinen Gedanken hingeben, die auf das bevorstehende Gespräch mit dem Akademievertreter gerichtet waren.

Hin und wieder blieb ich stehen, um die Gartenanlagen der Allee zu betrachten. Das bläulich weiße Licht der Strahler – die Dämmerung war vorüber – verlieh der subtropischen Blütenpracht unter den hohen Palmenkronen besonderen Reiz.

Nach meiner Schätzung befand ich mich bereits in der Nähe des Hotels, als ich einen Vorgang beobachtete, der mich beunruhigte.

Am Geländer des klippenreichen Ufers standen zwei Frauen. Zur See gewandt, wo die Lichterketten vorüberziehender Schiffe flimmerten, waren sie in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Ein etwa zehnjähriger Knabe, der zu den Frauen gehörte, vertrieb sich indessen die Zeit auf seine Weise.

Er überquerte die Promenade, neben der eine Autohochstraße verlief, und machte sich an einem Gerüst zu schaffen, das zur Ausbesserung eines Stützpfeilers aufgestellt worden war. Schließlich begann er die Gerüstleiter hinaufzuklettern, zweifellos in der Absicht, die Autostraße zu erreichen.

Ich rief den Frauen zu, sie möchten sich um den Jungen kümmern. Da jedoch ihre Ermahnungen, den Unfug zu unterlassen, von dem Bürschchen nicht beachtet wurden, lief ich zum Gerüst und stieg dem Ausreißer nach. Nötigenfalls wollte ich ihn mit Gewalt an seinem unbedachten Vorhaben hindern.

Das war völlig falsch, wie ich zu spät erkannte. Der Knabe fand an dem vermeintlichen Verfolgungsspiel Gefallen und beschleunigte seine Kletterei. Ehe ich ihn erwischen konnte, hatte er es fertiggebracht, das Geländer der Autostraße zu erklimmen. Übermütig lachend rannte er nun den Fahrdamm entlang.

Was blieb mir übrig, als ihm zu folgen. Die Gefahr, dass er blindlings in das nächste Auto lief, war groß. Es gab zwar viele Fahrzeuge mit selbsttätiger Schaltung, die Automatik funktionierte unfehlbar und schnell. Wenn nun aber ein handgesteuerter Wagen … Und vor uns lag eine Abzweigkurve.

Ich hatte die möglichen Folgen kaum bedacht, als schon eintrat, was ich befürchtete. Aus der Kurve blendeten die Scheinwerfer eines Luftkissenautos auf.

Den Knaben in Sicherheit zu bringen war unmöglich, denn noch trennten uns mindestens zehn Schritte. Er konnte vom Sog der Pressluftdüsen erfasst und zerschmettert werden. Das Gleiche drohte mir. Instinktiv sprang ich zur Seite.

Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich sah, wie das Auto unmittelbar neben dem vor Schreck erstarrten Kinde aufsetzte und stand.

Fassungslos stürzte ich herbei und packte den Jungen, obwohl dies gar nicht mehr nötig war, denn er drückte sich zitternd an mich.

Vor dem Schaltbrett des schnittigen, in Rot und Weiß gehaltenen Fahrzeugs saß ein Mann mittleren Alters. Sein Blick war kühl, zwingend auf mich gerichtet, es lag aber weder Erregung noch Unwillen darin. Er sagte nichts. Vielleicht wartete er auf eine Entschuldigung, weil er annehmen musste, dass der Junge zu mir gehörte, oder auf ein Wort des Dankes.

Bevor ich jedoch dazu kam, hatte er sich abgewandt. Mit dumpfem Rauschen setzten die Luftdüsen ein, das Auto hob sich ein wenig vom Boden ab und verschwand.

Der ganze Vorfall erschien mir wie eine Vision. Ich brachte den Knaben zur Promenade zurück. Die Frauen empfingen uns inmitten einer Gruppe von Passanten, die sich inzwischen um sie gesammelt hatten. Sie priesen mich überschwänglich als Retter, ungeachtet meiner Versicherung, dass nicht mir, sondern dem fremden Fahrer Dank gebühre.

Auf dem Wege zum Hotel überdachte ich das Geschehnis noch einmal. Unbegreiflich blieb mir die Geistesgegenwart jenes Mannes im Auto. Luftkissenfahrzeuge wurden damals noch handgesteuert. Er musste also in kaum denkbarer Zeitspanne die Situation erfasst und gehandelt haben, sonst wäre das Unglück nicht zu vermeiden gewesen.

Erst in der Hotelhalle gewann ich Ruhe und Fassung wieder. Hier richtete mir der Empfangsautomat aus, dass Professor Maktabi mich bereits erwarte.

Abdul Maktabi

Der Professor war als Kapazität auf dem Gebiet der Ozeanografie ein Begriff. Auch er sollte an der Sindhbad-Fahrt teilnehmen. Es lag also nahe, dass er mich zu sprechen wünschte. Dennoch fühlte ich mich durch den Besuch eines so prominenten Mitglieds der Akademie geehrt.

Maktabi empfing mich in einem Nebenraum des Hotelrestaurants. Er ging mir lächelnd entgegen, fasste meine Hände und drückte sie, dass die Gelenke schmerzten.

„Da ist er ja, unser Will Pertenkamp!“, rief er mit lauter, etwas robuster Stimme aus, die seiner kräftigen Statur entsprach. „Herzlich willkommen im Namen der Akademie! Ich befürchtete schon. Sie seien uns zu guter Letzt noch verloren gegangen.“

Es war mir peinlich, dass ich mich verspätet hatte. Ich stammelte eine Entschuldigung unter Hinweis auf den eben erlebten Zwischenfall.

„Kaum zu glauben“, entrüstete er sich. „Da baut man nun Autostraßen, ersinnt alle möglichen Sicherheitsmaßnahmen, und dann wirft ein Kind jede Voraussicht über den Haufen. Aber setzen wir uns doch!“ Er ließ sich in einem Sessel nieder und musterte mich mit heiterer Miene. „Sie sind noch sehr jung. Wie viel Jahre haben Sie schon hinter sich, Will?“

„Dreißig, Professor.“

„Ich fast das Doppelte.“ Er winkte spöttisch ab. „Macht nichts. Die reifere Jugend beginnt erst mit hundert. Wie finden Sie unsere Stadt nach dem ersten Rundgang, abgesehen von dem überstandenen Schreck natürlich?“ Maktabi gefiel mir. Ich war angenehm überrascht, denn ich hatte erwartet, in diesem bekannten Gelehrten einen etwas schwierigen Charakter vorzufinden.

„Beirut hat den denkbar besten Eindruck auf mich gemacht“, sagte ich.

„Na ja, Sie kommen aus Antarktika. Da muss ein Vergleich gewiss zugunsten Beiruts ausfallen.“

„Ich bedauere nur, dass vom Fluidum des Orients nicht mehr viel zu spüren ist.“

„Zuviel Automatik, meinen Sie?“ Er schmunzelte. „Ja, verehrter Kollege, auch bei uns hat das dritte Jahrtausend begonnen. Nichts gegen die Tradition arabischer Kultur! Nur die alte, verstaubte Romantik, die man uns immer so gern nachsagte, lehnen wir ab. Aber bitte, wollen Sie etwas von jenem Fluidum, wie Sie es nennen, verspüren, dann kann ich Ihnen wohl helfen.“ Er ging zu dem Stereoprojektor, der sich hier befand, und blätterte in einem Verzeichnis. „Wenn ich mich recht entsinne, verfügt unser Stadtarchiv über einen Film aus dem Beirut der sechziger Jahre. Vielleicht entspricht er nicht ganz Ihrer Vorstellung vom alten Orient, aber er verdeutlicht eine interessante Entwicklungsperiode.“

Er hatte gefunden, was er suchte, und wählte eine Nummer an der Drehscheibe des Projektors. Darauf nahm er seinen Platz wieder ein.

Wir warteten, bis der elektronische Speicher der Archivzentrale in Tätigkeit trat. Nach einigen Sekunden verwandelte sich der Raum um uns, und wir befanden uns scheinbar auf einem breiten, lang gestreckten Platz.

„Hier müssen Sie gewesen sein, als Sie zur Uferpromenade wollten“, erklärte Maktabi.

Ich erkannte den Platz nicht wieder. Alles war ganz anders, die Häuser, die Anlagen und vor allem das Leben, das hier herrschte. Was für ein Leben!

Auf den viel zu schmalen Gehsteigen drängten sich die Menschen. Da waren Beduinen, die Einkäufe besorgten, schwitzende Touristen mit dunklen Brillen, verschleierte Frauen, große Bündel auf dem Kopf balancierend, würdige Scheiks und Imams in langer Galabija, herumlungernde Burschen, blinde Bettler, barfüßige Lastträger. Zwischen luxuriösen Geschäften, Imbisshallen, Wechselstuben und sogenannten Kinos, deren grelle Plakate einen zweifelhaften Kunstgenuss verhießen, hatten sich Händler mit allerlei abscheulichen Souvenirs, Zuckerbäcker und Erdnussverkäufer eingerichtet. Unberührt vom hektischen Getriebe, saßen weißbärtige Muselmanen vor den Cafés in geruhsamem Gespräch und rauchten die Nargileh, bis die Stunde des Gebets sie zur Moschee rief.

Enge Nebengassen führten zu den Basaren. Den dämmrigen Labyrinthgängen entströmte, vom Film wirklichkeitsgetreu wiedergegeben, der Duft von Weihrauch, Fisch, Obst und Hammelfett. Er mischte sich mit dem Benzindunst über dem Platz, so dass es mir fast den Atem nahm.

Die Fahrbahnen waren von Autos verstopft, und jeder Fahrer suchte seinen Vorteil, um voranzukommen. Dabei gab es Karambolagen, Streit, Stockungen. Polizisten mussten ordnend eingreifen und den Wirrwarr lösen.

An den Übergängen warteten Passanten auf das Zeichen, das ihnen erlaubte, den Fahrdamm zu überqueren. Kam es, dann stürzten sie los in der bangen Sorge, über den Haufen gefahren zu werden.

Obwohl ich ähnliche Schreckensbilder aus den Städten der frühen Kunststoffzeit bereits von anderen Filmen her kannte, dankte ich noch einmal dem Zufall, nicht in jenen Jahren gelebt zu haben.

Maktabi bemerkte mein Unbehagen. Er lächelte. „Nun? Genug vom Fluidum des alten Orients?“

„Ich glaube, ja“, gestand ich. „Die Unrast jener Tage wirkt beklemmend.“

Während er den Projektor abschaltete, erwiderte er: „Typisches Entwicklungsstadium. Die Menschen waren durch die Möglichkeiten, die ihnen die Technik bot, einem Rausch verfallen. Besonders augenfällig wurde das im Bereich des Verkehrs. Jeder wollte sein Auto, sein Flugzeug, vielleicht gar eine eigene Reiserakete. Schneller, schneller – das war die Forderung des Tages. Die Menschen starben nicht mehr an Seuchen oder an Altersschwäche, sondern durch Hast, Lärm und Verpestung der Luft. Das ging so lange, bis alle Straßen der Welt von Autos verstopft waren und kein Flugzeug ohne Gefahr einer Kollision sein Ziel erreichen konnte.“

„Vergessen wir nicht, dass persönlicher Kontakt oft nur durch Reisen möglich war“, gab ich zu bedenken. „Videophone hatte man noch nicht. Heute setzen wir uns vor den Bildschirm und sprechen mit jedem, wo er auch sein mag, als befänden wir uns in einem Raum mit ihm.“ Maktabi ließ meinen Einwand nicht gelten. „Man verfügte über öffentliche Verkehrsmittel, die schnell, bequem und entwicklungsfähig waren. Der Besitz eines Autos konnte also auf Fälle zwingender Notwendigkeit im Interesse der Allgemeinheit beschränkt werden, wie es jetzt üblich ist.“

„Das wäre nach damaliger Vorstellung als Eingriff in die persönliche Freiheit angesehen worden.“

„Eben! Egoismus, Eitelkeit, Gewinnsucht waren die Ursachen des Dilemmas. Außerdem trieben die Widersprüche einer schon damals überlebten Gesellschaft in weiten Teilen der Welt den einzelnen zu einem verzweifelten Ringen ums Dasein. Ich habe in einem Museum einmal den Terminkalender eines Mannes aus dem Jahre neunzehnhundertachtundsechzig gesehen. Sie können sich nicht vorstellen, was der Mensch glaubte, an einem Tage alles erledigen zu müssen. Es sollte mich wundern, wenn er ohne Herzinfarkt davongekommen ist.“

„Nach diesem Ausflug in die Vergangenheit kann ich das Beirut von heute nur noch mehr bewundern“, sagte ich, und das war keineswegs bloß als Höflichkeit gemeint, wenn Maktabi es auch so aufzufassen schien.

Er schmunzelte. „Vielen Dank!“ Mit einem Blick auf die Uhr fragte er, ob ich schon zu Abend gegessen habe. Als ich verneinte, nahm er freundschaftlich meinen Arm und führte mich ins Restaurant. „Stärken wir uns erst einmal. Ich habe noch einiges mit Ihnen vor.“ Über mein erstauntes Gesicht lachte er nur, ohne sich weiter zu äußern.

Das Restaurant war ein runder Saal. In seiner Mitte befand sich ein Bassin, dessen Springbrunnen angenehme Kühle verbreitete. Um das Wasserbecken waren die Tische gruppiert. Zwischen Bassin und Tischen verlief ein Transportband, auf dem die Speisen serviert wurden. Maktabi wählte mit großer Sorgfalt die Gerichte aus. „Ich esse gern hier“, erklärte er. „Die Kochautomaten des Hotels sind von bester Qualität und hervorragend programmiert. Da ist keine Suppe versalzen und kein Steak zerbraten. In dieser Beziehung bin ich empfindlich.“

Als er die Mahlzeit zusammengestellt hatte, gab er die Wünsche mittels einer Nummerntastatur zur Küche.

Zuerst erschien die obligate Karaffe Wasser, dazu ungesäuertes Brot.

Maktabi füllte die Gläser. „Probieren Sie! Quellwasser aus den Libanonbergen. Nichts köstlicher als das.“

Ich trank und musste ihm recht geben.

„Wie fühlen Sie sich kurz vor der Testfahrt?“ Er blickte mich forschend an. „Ein bisschen aufgeregt?“

Die Frage kam so unerwartet, dass ich verwundert aufschaute. Bis jetzt hatte er den eigentlichen Zweck unserer Zusammenkunft mit keinem Wort erwähnt. „Ich kann nicht behaupten, dass ich den kommenden Dingen gleichgültig entgegensehe, Professor“, antwortete ich. „Aufgeregt bin ich aber nicht.“

Er nickte befriedigt. „Ausgezeichnet. Übrigens, den ‚Professor‘ können Sie sich schenken. Der Vorname genügt, wie es unter Kameraden eines Teams üblich ist.“ Er streckte mir die Hand hin, in die ich erfreut einschlug. „Nun mal zur Sache! Sie haben sicher einige Fragen auf dem Herzen.“

„In erster Linie interessieren mich natürlich die anderen Teilnehmer. Was ist zum Beispiel der Expeditionsleiter für ein Mensch?“

„Als Konstrukteur und Organisator ist Nabou Tebar außergewöhnlich begabt. Der Forschungsrat hält große Stücke auf ihn. Ich, nebenbei gesagt, auch. Die Sindhbad ist zweifellos sein Meisterwerk. Einen besseren Gruppenchef hätten wir uns für die Expedition nicht wünschen können. Im Übrigen ist er zurückhaltend, sehr sachlich, reiner Verstandesmensch. Gefühl wird bei ihm nicht groß geschrieben.“

„Jeder hat seine Besonderheiten.“

„Nehmen Sie Nabou, wie er ist, ohne viel zu fragen und zu deuteln, dann werden Sie mit ihm gut auskommen.“

„Ist Oswin Hayl schon in Beirut?“

„Er wohnt seit mehreren Tagen hier im Hotel. Zur Zeit befindet er sich mit Nabou auf der Sindhbad, um die kybernetischen Einrichtungen noch einmal zu überprüfen. Sie kennen ihn sicherlich, er ist ja ein Landsmann von Ihnen.“

„Allerdings, wir kamen während der Vorbesprechungen beim Weltforschungsrat öfter zusammen.“

„Ein Vorteil für Sie, einen Bekannten an Bord zu haben.“

„Vorteil? Ich weiß nicht. Wir waren selten einer Meinung.“

„Für die Dauer unserer Fahrt sollten Sie das Kriegsbeil begraben“, spöttelte Maktabi. „Wird’s möglich sein?“

„Von mir aus bestimmt.“

„Der Einzige, der noch fehlt, ist unser Biologe und ärztlicher Betreuer, Clifford Shelder. Über ihn kann ich nichts sagen. Ich sah ihn heute zum ersten Mal im Videophon. Morgen will er zur Stelle sein.“

„Wie viel Personen werden wir insgesamt an Bord haben?“

„Das Schiff ist selbstverständlich automatisiert. Für die nautisch-technische Überwachung genügen drei Mann: Kapitän Duval, der Funker Khoram und Bilar, der Zweite Ingenieur. Dazu kommen ein paar Servoautomaten als Hilfskräfte. Mit unserer Gruppe sind wir also neun Personen.“

Inzwischen war die bestellte Vorspeise an den Tisch gerückt. Es war eine pastetenartige Spezialität des Hauses. Maktabi unterzog das Gericht einer strengen Prüfung durch Augenschein, ehe er zum Besteck griff. Es war wirklich ausgezeichnet.

Während der Mahlzeit versiegte der Fluss der Unterhaltung. Maktabi schien der Welt entrückt zu sein. Er aß gewissermaßen mit allen Sinnen. Wenn er einen Bissen zum Munde führte, schloss er verzückt die Augen. Ich brachte es einfach nicht fertig, diese kulinarische Andacht durch ein Wort zu stören.

Erst als wir beim unvermeidlichen Mokka angelangt waren, lehnte sich Maktabi mit Behagen zurück und blinzelte mir zu. „Hätten Sie Lust, mit mir jetzt nach Antelias hinauszufahren, zu Nabou?“

Der Vorschlag kam mir sehr gelegen. Ich wollte den Expeditionsleiter so bald wie möglich kennenlernen. Nach den Bemerkungen Maktabis über Nabous Wesen war ich sicher, dass wir rasch Kontakt finden würden. Zurückhaltung und strenge Sachlichkeit konnten einer guten, verständnisvollen Zusammenarbeit dienlich sein. Und davon hing der Erfolg eines Vorhabens, für das es noch keine Erfahrung, kein Beispiel gab, entscheidend ab. „Einverstanden, gehen wir!“ Ich war schon im Begriff, mich zu erheben.

Maktabi jedoch winkte lächelnd ab. „Lassen wir uns Zeit. Mokka will in Ruhe getrunken sein. Bei Nabou werden wir Hayl treffen und wahrscheinlich auch Doktor Farah.“

„Doktor Farah? Nie gehört. Ein Mitarbeiter der Akademie?“

„Ach, Sie wissen es ja noch nicht!“ Maktabi fuhr sich übers Gesicht. „Ingenieur Rohan wurde abgelöst. Leichte Unpässlichkeit, aber das genügte der Ärztekommission. An seine Stelle ist Doktor Farah getreten.“

„Sehr bedauerlich. Rohan hat einen guten Ruf als Spezialist.“

„Die Wahl erfolgte auf Nabous Vorschlag hin.“

„Nichts gegen diesen Kollegen. Nur, er hat die Strahlaggregate der Sindhbad verantwortlich zu betreuen, und ich werde in der entscheidenden Phase der Fahrt ganz auf sein fachliches Können und seine Zuverlässigkeit angewiesen sein. Sie verstehen?“

„Ich bin überzeugt, dass Doktor Farah Sie nicht enttäuschen wird“, erwiderte er schmunzelnd. „Dieser – Kollege ist Ingenieurin für Strahltechnik und Nabous engste Mitarbeiterin. Außerdem ein reizendes junges Mädchen. Yaminas Ahnenreihe soll bis zu den abbasidischen Kalifen reichen, sagt man. Also Verwandtschaft von Harun al–Raschid! Ist das nichts?“ Er lachte schallend über mein verdutztes Gesicht. „Vorbehalte, weil es eine Frau ist?“

„Grundsätzlich gewiss nicht, in diesem besonderen Fall aber doch. Bedenken Sie, solch ein Test stellt an jeden von uns hohe Anforderungen. Mit gutem Willen allein ist es dabei nicht getan. Wenn sie nun die Nerven verlöre? Unter einem reizenden jungen Mädchen – Ihre eigenen Worte – kann ich mir wirklich keine robuste Natur vorstellen.“

„Brauchen Sie auch nicht.“ Er lachte noch immer. „Dass Nabou selber Yamina vorgeschlagen hat, ist die beste Gewähr für ihre Eignung.“

Nachdem Maktabi die Rechnung beim Kassenautomaten beglichen hatte, machten wir uns auf den Weg nach Antelias.

Das Haus in Antelias

An der Autostraße, die längs der Küste über Jebail, der einst berühmten Phönikerstadt Byblos, nach Tripoli führt, liegt Antelias. Oberhalb einer ehemaligen Fischersiedlung erscheint der kleine, stille Villenvorort zwischen Pinienhainen und Obstgärten wie ein bunter Fleck auf den Hängen des Vorgebirges. Von hier aus bietet sich ein prächtiger Ausblick auf die Bai und das nur wenige Kilometer entfernte Beirut dar.

Wir fuhren mit einem Wagen der Akademie. Es war ein älterer Typ, der noch durch Isotopenbatterien betrieben wurde. Auf meine ironische Frage, ob sich die altehrwürdige Hochburg arabischer Geistesgröße keine moderneren Fahrzeuge leisten könne, antwortete Maktabi trocken, die Lösung dieses Problems sei bei der Akademie-Verwaltung noch nicht über das Stadium hypothetischer Erwägungen hinaus gereift.

Nach kurzer Fahrt waren wir am Ziel. Nabous Haus stand auf einem Hügel inmitten hoher Pinien und Zypressen. Sein Äußeres überraschte durch die seltsame, aber harmonische Verbindung orientalischer Stilelemente mit einer fremdartigen Architektur, die einen eigentümlichen, fast beklemmenden Eindruck auf mich machte. Ein älterer Mann empfing uns am Eingang. Es war Youssef, Famulus und Betreuer Nabous in einer Person, wie ich später erfuhr. Er führte uns in einen Raum des Erdgeschosses, der zum Park hin durch eine Glaswand im Halbrund abgeschlossen wurde.

Hier kam uns eine junge Frau entgegen, deren Erscheinung mich faszinierte. Zierlich, feingliedrig, in eine weiße Kombination aus lederartigem Material gekleidet, dazu das schimmernde schwarze Haar, das bis auf die Schultern fiel, erschien sie mir wie ein lebendes Porzellanfigürchen.

Sie begrüßte Maktabi ehrerbietig. Dann streckte sie mir mit der unvergleichlichen Grazie der Orientalin die Hand entgegen und sagte, als seien wir längst gute Bekannte, ganz einfach „Marhaba!“, was etwa dem vertraulichen „Hallo“ entspricht.

Dabei trat sie dicht an mich heran. Sie bog den Kopf ein wenig zurück, um mir in die Augen schauen zu können, denn ich bin sehr groß. Ihr Blick lag eine Weile prüfend auf meinem Gesicht. „So blond!“, murmelte sie erstaunt. Vielleicht hatte sie einen eisgrauen Gelehrten erwartet und jung anstatt blond sagen wollen. Der Irrtum schien sie zu belustigen.

Sie ist schön, dachte ich, wirklich schön.

Kaum vernahm ich Maktabis Stimme: „Das ist Yamina Farah.“

Fast unbewusst führte ich ihre Hand an die Lippen. Maktabi murmelte etwas, was ich nicht verstand, und lachte leise.

Ich kam mir albern vor und ärgerte mich. Um die Situation für mich zu retten, sagte ich betont sachlich zu ihr: „Sie sind also für Ingenieur Rohan eingesprungen.“

„Ja“, antwortete sie. „Und ich denke, wir haben noch eine Menge zu besprechen, Will.“ Sie gebrauchte meinen Vornamen, als könne es gar nicht anders sein.

Ehe ich etwas erwiderte, kamen zwei Männer die Treppe vom Obergeschoss herab. Der eine – untersetzt, rotgesichtig, durch einen scheußlichen Kinnbart verunziert – war mir bekannt. Es war Oswin Hayl, Sachverständiger für Kybernetik beim Weltforschungsrat. Der andere musste Nabou Tebar sein. Ich hatte schon viel von ihm gehört, nie aber ein Bild gesehen, das mehr als sein Profil zeigte. Es hieß, er lebe zurückgezogen und stelle sich höchst ungern einer Kamera.

Nun endlich hatte ich ihn vor mir: schlank, von kräftigem Wuchs, älter als ich, wohl in mittleren Jahren. Über dem hochgeschlossenen schwarzen Anzug ein kahlrasierter Kopf. Das Gesicht war hell, fast bleich und ebenmäßig geformt, so dass ich darin vergeblich nach markanten Zügen suchte, die Rückschlüsse auf den Charakter boten.

Während er leichten Schritts Stufe um Stufe hinabstieg, waren seine Augen auf mich gerichtet. Bis er vor mir stand.

„Will Pertenkamp?“, fragte er mit wohlklingender Stimme. Er reichte mir die Hand. Sie war fest und kühl. „Ich freue mich, Sie zu sehen.“ Sein Gesicht blieb unbewegt, nicht das leiseste Lächeln zeigte sich darauf.

Ich schwieg verwirrt. Nach Maktabis Worten war ich zwar darauf vorbereitet gewesen, dass ich es mit einem sehr zurückhaltenden Menschen zu tun haben werde, aber so kühl und unbeteiligt hatte ich mir die Begrüßung nicht vorgestellt. Kurz erwiderte ich nun, dass auch ich mich freue, ihn kennenzulernen, und das klang weit weniger ungezwungen, als ich es eigentlich gewollt hatte. Nabou wandte sich von mir ab und legte einige Pergamentrollen auf den Tisch. Wir nahmen Platz.

Hayl, der sich neben mich setzte, knurrte: „Schön, dass Sie endlich hier sind, Pertenkamp. Dachte schon, Sie hätten es sich anders überlegt.“

Ich zuckte mit den Schultern und verkniff mir die Antwort, um ihm keine Gelegenheit zu einer unfruchtbaren Debatte zu geben.

Mit Hayl auszukommen erforderte Engelsgeduld. Er war Choleriker, ein unverbesserlicher Widerspruchsgeist, der sich erst wohl fühlte, wenn er einen Partner fand, an dem er sich reiben konnte.

Im Forschungsrat hatte man deswegen lange geschwankt, ihn unserem Kollektiv zuzuteilen; aber er war nun einmal ausgezeichneter Spezialist und Kenner seines Fachs, und das hatte den Ausschlag gegeben.

Inzwischen entrollte Nabou zwei Zeichnungen. Die erste stellte das Projekt M in seiner Gesamtheit und Vollendung dar. Danach würde das ganze Gebiet des Mittelmeers in etwa zwanzig Jahren so aussehen: Die Straße von Gibraltar, die Dardanellen und der Suezkanal sind durch Schleusendämme abgeriegelt. Pumpwerke, verbunden mit Entsalzungsanlagen, fluten das Mittelmeerwasser in die großen Senken der Sahara mit dem Ziel, weite Teile der Wüste in Kulturland zu verwandeln.

Ähnlich erfolgt bereits die Bewässerung der Karakum vom Kaspisee aus, dessen Spiegel durch Wassertransfusion aus dem Schwarzen Meer reguliert wird.

Das Mittelmeer – im Tertiär schon einmal Tiefland mit zahlreichen Binnenseen – ist im Laufe der Zeit erheblich abgesunken und hat große Gebiete fruchtbaren Schlickbodens zur landwirtschaftlichen Nutzung freigegeben. Auf den ehemals submarinen Schwellen sind Industriebasen entstanden. Von hier aus erfolgt die Förderung der reichen Bodenschätze unter dem Meeresgrund sowie die Erschließung vulkanischer Gas- und Wärmequellen, wodurch zugleich die ständige Bedrohung Südeuropas durch Eruptionen gemindert wird.

Die natürlichen Tiefseebecken sind geblieben. Sie verbinden, ergänzt durch künstliche Wasserwege und Hebewerke, die Seehäfen untereinander und gewährleisten ihren Anschluss an die Weltschifffahrt. Das Ganze erinnert an das einst so heiß umstrittene Kanalsystem des Planeten Mars.

Ähnlich wird eines Tages mit der Ostsee verfahren. Dabei ergeben sich allerdings gewisse klimatologische Probleme, die durch Auflassen von Plasmasonnen gelöst werden sollen. Und hiermit hängt wiederum die Umwandlung der gesamten Polarzone in ein gemäßigtes Klimagebiet ab. Natürlich ist das alles noch Zukunftsmusik, aber die ersten Schritte auf dieses weitgesteckte Ziel hin waren bereits getan. Und dazu gehörte unser Vorhaben. Nabou schob den Projektplan beiseite. Wichtiger war jetzt die zweite Zeichnung. Sie zeigte im Querschnitt den Grund des Mittelmeers zwischen der libanesischen Küste und Zypern. Eine Kurslinie verlief über dem Meeresboden, den sie an einer Stelle durchstieß.

„Die Sindhbad wird das westliche Tiefseebecken umgehen“, erläuterte Nabou. Sein Finger verfolgte den vorgezeichneten Kurs bis zur Durchbruchstelle. „Hier wird das Schiff eindringen. In diesem Raum beträgt die Mächtigkeit der Lithosphäre nur etwa siebentausend Meter. In einer Tiefe von zehntausend Metern bewegen wir uns also bereits durch die oberen Schichten des Erdmantels. Und dort liegt auch die Sicherheitsgrenze für das Schiff.“ Er hob die Augen von der Zeichnung und sah mich an. Sein Blick war leer, nichtssagend. Oder erschien es mir nur so, weil seine Miene keinerlei Gedanken verriet? „Im unterirdischen Abschnitt der Fahrt haben Sie die Verantwortung.“

Ich nickte, das war mir bekannt.

„Gemeinsam mit Yamina“, fuhr Nabou fort.

Yamina saß mir gegenüber. Ich sah zu ihr hin. Ihre Augen waren auf Nabou gerichtet, und es bedurfte keiner besonderen Beobachtungsgabe, um zu bemerken, wie hingebungsvoll sie zu ihm aufschaute. Bestand ein engeres Verhältnis zwischen beiden?

Unwillkürlich zückte ich mit den Schultern. Ging mich das etwas an? Vor ein paar Minuten erst hatte ich Nabou und dieses Mädchen kennengelernt, und von ihnen wusste ich kaum mehr, als dass sie mit mir eine Testfahrt unternehmen werden. Danach trennten sich unsere Wege wieder, ich würde nur ihre Namen und das gemeinsame Erlebnis in Erinnerung behalten.

„Was meinen Sie als Geologe dazu, Will?“, fragte Maktabi. Alle warteten auf eine Antwort. Es war fatal. „Verzeihung, mich hatte etwas beschäftigt. Worum geht es?“ Maktabi lächelte. „Oswin Hayl fragte, weshalb wir uns gerade in ein Gebiet tektonischer Aktivität begeben.“

„Fast das ganze Mittelmeerbecken steht auf einem Geosynklinalgebiet“, erwiderte ich, „das heißt auf einem Teil der Erdkruste, in dem noch erhebliche Bewegung herrscht. Dies an Ort und Stelle zu erforschen ist eine geologische Hauptaufgabe innerhalb des Mittelmeerprojekts. Sie ist für die Anlage von Wärmekraftwerken über vulkanischen Herden ebenso notwendig wie die Erkundung der tieferen Erdschichten hinsichtlich ihrer Struktur und Ergiebigkeit.“

„Zunächst geht es aber um den Test der Sindhbad“, stellte Maktabi fest. „Bewährt sich der Schiffstyp, woran ich nicht zweifle, dann werden bald größere Schiffe dieser Art für Tiefenexpeditionen verfügbar sein. Ich möchte deshalb noch einmal auf Oswins Frage zurückkommen.“ Diese Worte richtete er an Nabou. „Soviel ich weiß, besteht für die Sindhbad keinerlei Gefahr durch Eruptionen.“

„Das Schiff ist mit einer Sicherheitsautomatik ausgestattet“, antwortete Nabou.

Hail lachte spitz auf, was Maktabi veranlasste, den Kybernetiker erstaunt zu fragen, ob er von der Wirksamkeit dieser Einrichtung nicht überzeugt sei.

Hayls Augen blitzten angriffslustig. „Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich halte das Unternehmen Sindhbad für verfrüht. Trotz aller Sicherungen bleibt ein Risiko dabei, das nicht zu übersehen ist. Wir stoßen in Regionen des Erdinnern vor, von denen wir weniger wissen als vom Mond. Es ist wie zu Beginn der Raumfahrt. Für die ersten Kosmonauten gab es manche Unbekannte in der Rechnung. Inzwischen sind fast siebzig Jahre vergangen, aber im Prinzip hat sich daran nicht viel geändert. Auch wir, die ersten Geonauten, sind vor gefahrvollen Überraschungen nur geschützt, soweit dies im menschlichen Ermessen liegt.“

Maktabi hob die Schultern. „Ohne Risiko kein Fortschritt“, sagte er kurz. Offensichtlich fand er, genau wie ich, Hayls Erwägungen in diesem Stadium unseres Vorhabens für überflüssig, ja für unangebracht.

Nabou äußerte sich nicht. Er blickte unverwandt auf Hayl, als erwarte er, von ihm noch mehr zu diesem Thema zu hören.

Anders reagierte Yamina. Ihre Miene verriet Unwillen, beinahe Empörung. Ich musste über soviel emotionellen Aufwand für eine rein akademische Betrachtung lächeln. Vielleicht glaubte sie, Nabou und sein Werk verteidigen zu müssen.