Impressum

Günther Krupkat

Die große Grenze

Zukunftsroman

 

Das Buch erschien erstmals 1960 im Verlag Das Neue Berlin

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

ISBN 978-3-96521-155-1 (E–Book)

 

© 2019 EDITION digital
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Erster Teil

Die Angst

Es war ein Freitag, ein stürmischer, herbstlicher Tag, Böen peitschten die schwere Dünung des Atlantiks und schleuderten Gischtflocken über das Eiland, das etwa hundert Meilen vor der Küste lag.

Den Namen des Inselchens kannte niemand. Vielleicht hatte es gar keinen. Es wurde einfach QBM genannt. Das war die Bezeichnung der Funk- und Radarstation, deren Masten und Antennen sich über den nackten Klippen erhoben.

Der Tag neigte sich seinem Ende zu. Er hatte für QBM nichts Ungewöhnliches gebracht, und es gab nicht den geringsten Grund zur Annahme, dass seine letzten Stunden weniger eintönig als die verflossenen dahingehen würden.

Dennoch behauptete Sergeant Hathaway, als er mit seinem Kameraden Johnson den turnusmäßigen Wachdienst antrat, dass etwas in der Luft läge. Diese Äußerung beeindruckte Johnson allerdings nicht, denn Hathaways Voraussagen waren auf QBM als Spinnereien bekannt.

Dann aber kam ein Rundspruch vom Hauptquartier des Luftsicherungskommandos. Er war an alle Radarwachen und Stützpunkte der Air Force gerichtet und hatte folgenden Wortlaut: „Ein Flugkörper unbekannter Art soll vom kosmischen Raum her die Erde überfliegen. Es ist damit zu rechnen, dass er sich unserem Territorium nähert. Für alle Luftabwehrbereiche wird erhöhte Alarmbereitschaft befohlen.“

Das geschah um achtzehn Uhr zwanzig nach Ortszeit des Hauptquartiers, Hierauf ereignete sich zunächst nichts weiter, wenn man davon absah, dass auf allen Flugplätzen der Air Force überschnelle Jäger zum Start rollten und für die Besatzungen, ebenso wie für die Mannschaften der Luftraumüberwachung und der Bodenabwehr, eine unbefristete Ausgangssperre verhängt wurde.

Man wartete ab, wobei viele eher an die Gefahr glaubten, das bevorstehende Wochenende könne durch die Ausgangssperre verpatzt werden, als daran, dass der rätselhafte kosmische Flugkörper Land und Leute bedrohen könnte.

Vielleicht dachten die Männer der Einsatzkommandos bei der Air Force nüchterner als der gewöhnliche die Durchschnittsbürger dieses Landes. Schließlich waren sie auf sehr reale, sehr irdische Dinge gedrillt. Vielleicht bot ihnen auch die Bekanntgabe des Hauptquartiers, die recht unbestimmt gehalten war, wenig Anlass zu Gedanken, die außerhalb des Alltäglichen lagen.

Oft genug waren auf den Radarschirmen geheimnisvolle Objekte erschienen, die sich später als Zugvögel, Meteoriten oder ähnliche harmlose Weltenbummler entpuppt hatten. Jedenfalls sahen die meisten den eventuell kommenden Dingen ohne sonderliche Erregung entgegen.

Hathaway ging die Sache allerdings nicht aus dem Kopf. Das Kinn auf die Fäuste gestützt, saß er gummikauend vor dem Sichtgerät der Radaranlage. Sein Blick hing schläfrig am Bildschirm, wo kleine Blitze, manchmal Schauer von Fünkchen geisterhaft vorüberhuschten.

Bisweilen hob Hathaway die geröteten Lider, die mahlende Bewegung der Kinnbacken setzte aus, und es schien, als lausche er mit halb offenem Munde.

Es war still in dem kleinen, flachen Haus, über dem die unsichtbaren Strahlen einer kreisenden Parabolantenne in stetem Rhythmus den Himmel abtasteten. Der Sturm pfiff zwischen den stählernen Verstrebungen der Aufbauten, er heulte um die Ecken des Hauses. Immer heulte der Sturm auf dieser Insel. Die Männer von QBM hörten ihn schon gar nicht mehr.

Sergeant Hathaway lauschte. Da war das Rauschen und Summen der Apparate. Und dann das Schrammen von Johnsons Taschenmesser. Dass der Kerl seine Fingernägel immer mit dem Messer bearbeiten musste!

Hathaway verfolgte eine Weile den Sekundenzeiger der Wanduhr. Nun war es genau neunzehn Uhr fünf. Ein Blick auf den Radarschirm. Nichts! „Soll … So hieß es“, murmelte er. Es war ungewiss, ob er zu sich selbst oder zu Johnson sprach.

„Was?“, brummte Johnson, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. Da bequemte sich der Sergeant, seine Gedanken zu erläutern. „Ein Flugkörper soll vom kosmischen Raum her die Erde überfliegen, hieß es im Funkspruch.“

„Ja. Und …?“, fragte der andere in einem Ton, der kein besonderes Interesse an diesem Gesprächsthema verriet.

„Dann ist es gar nicht sicher, ob es ihn überhaupt gibt“, erwog Hathaway grübelnd. „Warum hieß es aber, es sei damit zu rechnen, dass er sich unserem Territorium nähern wird? Und warum gleich erhöhte Alarmbereitschaft? Da stimmt doch etwas nicht! Ich wette, die vom Hauptquartier wissen mehr, als sie sagen.“

Johnson wischte das Messer sorgfältig am Uniformärmel ab und klappte es zu. „Ein Hauptquartier weiß immer mehr als ein kleiner Sergeant. Du hast nur auf den Bildschirm zu gucken, nichts weiter. Ob du feindliche Bomber, interkontinentale Raketen oder fliegende Untertassen ausmachst, hat dir egal zu sein. Hauptsache, du irrst dich nicht! Sonst holt dich der Teufel.“

Hathaway ging nicht darauf ein. „Ein Flugkörper unbekannter Art … Sie wissen also, dass es kein üblicher Typ ist. Ich sage dir, Johnson, das muss ein Raumschiff sein. Oder so etwas Ähnliches. Vielleicht von einem anderen Planeten … Verstehst du?“

Johnson unterzog sein Gesicht einer kritischen Prüfung, wozu er einen Handspiegel benutzte. Dabei schnitt er die absonderlichsten Grimassen. Während er sein kräftiges Gebiss musterte, sagte er; „Höchste Zeit, dass wir von hier fortkommen! Sie sollten uns endlich zum Festland versetzen. Das wäre ein Leben! Noch ein paar Monate auf dieser verfluchten Insel, dann hakt’s auch bei mir aus.“

Hathaways Faust fuhr auf die Tischplatte nieder. „Willst du damit sagen, dass ich …?“

„Mach’ dir nichts draus, Junge“, brummte Johnson. „Die meisten hier spinnen. Der eine mehr, die anderen weniger. Hat der Sanitäter neulich gesagt, jawohl. Sie haben so eine komische Bezeichnung dafür. Warte mal! Richtig, Psychoneurose nannte er’s, und dabei tippte er an die Stirn. Klarer Fall, nicht?“

„Psychoneurose, Quatsch!“

„Du, sag das nicht! Wie war’s mit Commander Bennett vom achten Luftgeschwader? Als er herkam, war er stur wie’n Bulle. Und dann ging’s los: Immerzu Bereitschaft, falsche Alarme. Tag und Nacht Erkundungsflüge bis zum Eismeer hinauf. Und immer die verdammte H-Bombe unterm Arsch. – In der vergangenen Woche haben sie Bennett fortgebracht. Ein Häufchen Elend, mit den Nerven am Ende. ‚Feindliche Verbände Im Anflug! Sie kommen!' hat er immerzu gebrüllt und wollte starten.“

Hathaway zuckte mit den Schultern. „Er war rauschgiftsüchtig.“

„Ist’s ein Wunder?“, fragte der andere. „Als ich gestern zum Alten musste, hat es auch bei ihm nach Marihuanazigaretten gerochen. Ich kenne das!“

„Das geht mich nichts an“, sagte der Sergeant abweisend.

Johnson trat zu dem Kameraden und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Hör’ mal, old fellow, so ist das nun wieder nicht“, sagte er. „Warum bist du hier? Und ich? Und die anderen alle vom Einsatzkommando? Warum machen wir uns mit diesem idiotischen Dienst fertig? Ich werd’s dir sagen: Weil wir Angst haben!“

„Du bist verrückt!“ Hathaway lachte auf. „Unser Land ist groß und mächtig. Wir sind ein junges, starkes Volk, man kann nicht sagen, dass wir vertrottelt sind. Wovor sollten wir uns fürchten? Wir werden jeden vernichten, der uns bedroht.“

Johnson nickte. „Werden wir, natürlich. Wenn wir aber den ersten Schritt zur letzten – hörst du? –, zur allerletzten Entscheidung verpassen sollten und zum zweiten Schritt nicht mehr kämen? Siehst du, das ist die Angst! Wir hocken vor dem Radar und warten auf die kleinen Flecken im Bildschirm, die vielleicht unser letztes Stündlein ankünden. Tagaus, tagein warten wir, bis wir allesamt reif sind für’s Irrenhaus, genau wie Commander Bennett.“

Hathaway erhob sich, ging langsam zum Fenster und öffnete es. Ein harter Windstoß hieb ihm ins brennende Gesicht. Er sah zum Himmel hinauf, den schon die Nacht verhüllte. Johnsons Worte gingen ihm im Kopf herum, ihre Logik erschreckte ihn.

Da er schwieg, fuhr Johnson fort: „Dabei ist das purer Blödsinn. Die Angst setzen uns nur die in den Nacken, die in unserem Land ihre Hand am Hebel haben, damit wir bereit sind, stets zu tun, was sie von uns verlangen. Aber ihre Angst ist nicht unsere, Freund. Meinst du nicht auch? Wenn du es genau bedenkst, haben sie zu verlieren, nicht wir. Daher!“

„Du meinst den Machtkampf auf Erden, Johnson“, erwiderte der Sergeant. „Mag sein, dass du irgendwie recht hast. Wenn jedoch eine andere Macht … aus dem Weltall … Der Flugkörper zum Beispiel …!“

Johnson lachte. „Dann würde sich die Menschheit einig sein, verlass dich drauf.“

„Ich habe kein gutes Gefühl“, murmelte Hathaway.

„Oje! Na, ich will nicht mit dir streiten. Komm, setz dich wieder vor die Röhre. Am Ende entdeckst du als Erster den komischen Vogel. Welche Ehre für QBM!“ Johnson drängte Hathaway zum Platz am Sichtgerät. „Ich sehe schon den Alten hier aufkreuzen. Er wird uns seine Pranke vor’s Brustbein knallen und sagen: ‚Ihr seid zur Belohnung aufs Festland kommandiert. Packt euern Kram, in einer Stunde fliegt die Maschine. Amüsiert euch gut, boys!'„

Hinter den „Bänken“

Die Stadt Maystone war vor ein paar Jahren noch ein armseliges Fischernest, um das sich außer den Distriktbehörden und einigen Händlern kein Mensch kümmerte. Heute hatte Maystone Bahnanschluss, einen zivilen Flugplatz und war auf den strategischen Karten der Air Force durch ein rotes Dreieck markiert, das heißt zu einem wichtigen Luftstützpunkt erhoben worden.

Die große Stunde von Maystone war gekommen, als auf der Landzunge von Cap Caroline, die zwanzig Meilen südlich des Ortes mit kühnem Schwung in den Ozean vorstieß, ein Raketenversuchsgelände im Auftrage der Regierung errichtet wurde. Die Presse entdeckte Maystone. Einige Konzerne, denen das Forschungsprogramm von Cap Caroline interessante Perspektiven eröffnete, sandten tüchtige Manager dorthin.

Und schnell wuchs längs der ehemaligen Dorfstraße eine City empor: Büropaläste, genormte Wohnhäuser, moderne Läden, luxuriöse Bars, Salons und Nachtklubs, sechs Lichtspieltheater, drei Kirchen, zwei Sportstadien, ein Wolkenkratzerhotel.

Maystone war gemacht. Wer den richtigen Job erwischt hatte, fuhr nun im chromblitzenden Straßenkreuzer über die funkelnagelneue Oxford-Avenue, die allabendlich in der Lichtflut von tausend Reklamen gleißte und den Passanten „the best and the finest of the world“ darbot.

 

Außerhalb des Stadtzentrums wurde die Oxford-Avenue zur Ausfallstraße nach Cap Caroline. Dicht vor den Toren des Versuchsgeländes berührte sie eine Bucht, die durch mehrere Sandbänke von der offnen See abgeriegelt war. Beim Bau des Raketenstartfeldes mit seinen zahlreichen, teilweise unterirdischen Anlagen war diese Bucht fast bis an die Bänke zugeschüttet worden. Auf dem neuentstandenen Land hatte man eine Werksiedlung errichtet. Sie hieß offiziell Southend, im Volksmund aber „Hinter den Bänken“. Meist sprach man nur von den „Bänken“. So hatten die Fischer seit jeher den Küstenstreifen genannt.

Hier wohnte in eingeschossigen Doppelhäusern der Stamm der Belegschaft von Cap Caroline. Etwas abseits, in bevorzugter Lage, erhoben sich Landhäuschen, die leitenden Angestellten, vor allem Ingenieuren und wissenschaftlichen Mitarbeitern, zur Verfügung standen.

Bei den „Bänken“ war ein ständiges Kommen und Gehen, denn in Cap Caroline wurde ununterbrochen in verschiedenen Schichten gearbeitet. Kehrten die einen von der Arbeit heim, dann waren die anderen schon wieder auf dem Wege zum Werk, wie das Versuchsgelände kurz bezeichnet wurde.

Am Freitagabend jedoch stieg der Verkehr weit über das übliche Maß. Viele fuhren in die Stadt, um Einkäufe für das Wochenende zu tätigen oder auch nur als Schaulustige über die Oxford–Avenue zu bummeln. Die Menschen drängten sich vor den Haltestellen der Busse, die in dichter Folge zwischen endlosen Autoreihen dahinrasten.

Als mehrere Busse gleichzeitig vom Versuchsgelände her eintrafen, gab es ein fast unentwirrbares Durcheinander von Aus- und Einsteigenden. Aber den Leuten von den „Bänken“ war das nichts Neues. Sie lachten, begrüßten sich mit lautem Hallo, und fiel schon einmal ein grobes Wort, so wurde es nicht ernst genommen.

Während die überfüllten Autobusse stadtwärts eilten, ergoss sich der Strom der Angekommenen in die Siedlung. Es waren meist kräftige junge Männer. In kleinen Gruppen dahinschlendernd, plauderten sie über alltägliche Dinge. Aber nicht nur darüber. Hier und da deuteten die Gespräche darauf hin, dass etwas Ungewöhnliches geschehen oder zumindest im Gange war.

„Die Monteure werden sich freuen!,“ sagte einer.

Ein anderer bemerkte dazu: „So etwas kann vorkommen. Der neue Startturm soll morgen stehen.“

„Eben darum hatte die Air Force Hilfskommandos gestellt. Unsere Leute brauchen bei solcher Schinderei wenigstens ein paar Stunden Ruhe.“

„Klar! Aber weshalb ließen die Jungs von der Air Force kurz nach achtzehn Uhr alles liegen und gingen nach Hause? Nun müssen unsere Monteure doch wieder ’ran.“

„Vielleicht gibt’s Übungsalarm.“

„Dann hätten sie die Einsatzkommandos gar nicht erst zu schicken brauchen.“

„Denkst du, die Herren vom Luftabwehrstab nehmen auf uns Rücksicht?“

„Niemand weiß, was wirklich los ist.“

„Mike hatte doch … He, Mike! Was hast du vorhin von diesen Signalen gesagt?“

„Es sollen sonderbare Funksignale empfangen worden sein. Aus dem Weltraum! So etwas wie Morsezeichen, aber unverständlich.“

„Hu, wie das klingt! Wer hat dir denn das erzählt?“

„Florence hat davon gesprochen.“

„Woher will sie das wissen?“

„Von Jim.“

„Natürlich, von Jim! Bestimmt ist dann kein Wort daran wahr, sage ich euch.“

Ein junger Mann ging mit weit ausgreifenden Schritten vorüber. „Hallo, Boys!“, rief er der Gruppe zu und tippte mit dem Finger grüßend an die Mütze, die verwegen auf dem Hinterkopf saß.

„Hallo, Reggie! Warum so eilig? Wieder mal hinter Mary her? Dort drüben geht sie!“, antworteten die anderen neckend.

„Schmuckes Mädel, Meister Cramptons Tochter!“, brummte einer der Burschen. „Ein Glück hat der Reginald Harriman!“

„Denkst du! Solange Crampton gegen Harrimans ist, wird nichts mit den beiden.“

„Vor zwei Jahren, beim Streik wegen der Gefahrenzulagen, fing's an.“

„Ja, der alte Harriman war für den Streik.“

„Crampton war dagegen.“

„Tagelang stritten sie sich bis aufs Messer.“

„Und dann ließ die Direktion Truppen einrücken.“

„Viele wurden verhaftet oder fristlos auf die Straße gesetzt. In Cap Caroline könne es nur loyale Arbeiter geben, hieß es.“

„Trotzdem mussten unsere Forderungen anerkannt werden.“

„Der alte Harriman behielt also recht, und er ist heute noch im Werk.“

„Sie konnten ihm nichts nachweisen. Crampton schwieg. Er ist kein Verräter. Aber seit jenen Tagen kennt er Harrimans nicht mehr.“

„Ein Duckmäuser ist er.“

„Mag er zusehen, wie weit er damit kommt. Bye!“

Einer nach dem anderen verschwand in den Häuschen, hinter denen im verdämmernden Tageslicht die Schaumkronen der fernen Brandung leuchteten.

Der junge Harriman hatte Mary Crampton eingeholt, Er umfasste sie und zog sie an sich.

„Mein Gott, Reggie!“, rief Mary. „Fast hätte ich vor Schreck geschrien. Bitte, lass mich los! Dort kommt jemand.“

Er blickte sich lachend um. „Das sind nur Merfields und Vater Patton. Aber lassen wir ihnen den Vortritt. Wir sind höfliche Leute. Übrigens, wie ist’s? Kommst du heute Abend mit? Ich treffe mich mit ein paar Freunden in der Stadt.“

„Reggie, du weißt: Vater will nicht, dass wir beide … „Immer das selbe!“ Er zerrte ungeduldig an der Mütze. „Du bist doch großjährig. Was geht es dich und mich an, wenn unsere alten Herren sich nicht riechen können? Einmal wird sich Meister Crampton mit mir abfinden müssen.“

Sie schaute seufzend zur Seite.

„Nimm’s nicht so tragisch, Mary!“ Er ergriff lächelnd ihre Hand. „Lieben wir uns oder nicht?“

„Natürlich, aber …“

„Wir Harrimans passen dem Herrn Montagemeister nicht, ich weiß! Für das Töchterchen soll’s etwas ‚Besseres' sein.“

„Bitte, sprich nicht so, Reggie! Du kennst mich doch.“

„Freilich. Nun? Kommst du? Die Jungs bringen ihre Mädels mit. Soll ich mit – leeren Händen erscheinen? Sie werden mich auslachen.“

Achselzuckend sagte sie: „Vielleicht komme ich.“

Ein Auto näherte sich von der Hauptstraße her. Es fuhr dicht an die beiden heran und hielt vor ihnen.

„Das ist Ingenieur Neill“, sagte Harriman.

„Hallo, Mary!“, rief der Mann im Wagen.

„Mr. Neill?“ Das Mädchen sprang hinzu.

„Ihr Vater muss zur Schicht, Mary“, sagte der Ingenieur. „Wegen des neuen Startturms. In einer Stunde hole ich ihn ab.“

„Ich werde es bestellen.“

Harriman trat näher. „Lassen Sie dem Meister doch die Nachtruhe, Mr. Neill.“

„Leider nicht zu machen. Anweisung der technischen Leitung.“

„Haben die es aber eilig! Was ist denn mit den Einsatzkommandos der Air Force?“

„Sind plötzlich zurückgepfiffen worden. Keine Ahnung, warum!“

Der Ingenieur sah den jungen Mann nachdenklich an. „Hören Sie, Harriman: Ich übernehme demnächst die Triebwerkskontrolle. Mir fehlt noch ein tüchtiger Mechaniker. Wollen Sie in mein Team einsteigen?“

Reggie Harriman nahm überrascht die Mütze ab und fuhr sich über das blonde Haar. „Wäre nicht schlecht, Mr. Neill.“

„Okay! Wir sprechen noch darüber.“

Der Wagen rollte weiter.

Das Mädchen klatschte in die Hände. „Reggie, deine große Chance!“

„Vielleicht!“, brummte er.

„Siehst du nicht die Möglichkeiten, die Mr. Neill dir bietet? Ach, du bist ein fantasieloser Mensch!“

Er lachte. „Kann schon sein, Darling. Triebwerkskontrolle … das heißt Himmelfahrtskommando. Mehr als einmal schon sind den Männern am Prüfstand die Motoren um die Ohren geflogen. Na, schön … Du magst recht haben. Wenigstens ein Schritt vorwärts.“

„O Reggie! Das wird sogar Vater imponieren!“, rief Mary. „Es ist eine entscheidende Wende für dein, für unser Leben. Ganz gewiss! Großmutter sagte mir einmal, das Leben sei wie eine Fahrt mit dem Schnellzug. Du denkst, es gehe immer geradenwegs dahin. Aber dann saust der Zug plötzlich über eine Weiche und ehe du’s recht gewahr wirst, bist du schon auf einem anderen Gleis.“

„Wenn’s nur das richtige ist!“, entgegnete er. „Ich stelle meine Weichen lieber selbst. Dann weiß ich wenigstens, woran ich bin.“

Sie drohte ihm blinzelnd. „Nicht so großspurig! Du tust, als seist du allein in der Welt. Es braucht aber nur ein Mr. Neill deinen Weg zu kreuzen oder … eine Mary Crampton …“

„Und schon geht’s schief, meinst du?“, fragte er lachend. „Wir beide, hoffe ich, werden in demselben Zuge fahren.“

 

Als Mary die Wohnstube betrat, saß der alte Crampton hemdsärmelig am Tisch und las die Abendzeitung.

„Du musst zur Nachtschicht, Vater“, sagte sie. „Mr. Neill wird dich in einer Stunde abholen.“

Er wandte den Kopf und schaute über die Brille hinweg auf die Tochter. „Weiß schon“, antwortete er griesgrämig. „Haben mich angerufen.“

Überrascht blieb sie stehen. Warum war er so schroff? An ihr ließ er sonst nie üble Launen aus. Er wurde nur grob, wenn … Unsicher sah sie ihn unter gesenkten Lidern an. „Vater, ich kann doch nicht dafür, dass im Werk …“

Die Zeitung knisterte zwischen seinen Fäusten. „Nein, aber dafür, dass die Leute über uns reden! Was hast du mit diesem Burschen, dem Harriman, herumzuschwatzen, he? Ich habe euch vorhin an der Ecke beobachtet!“

Sie strich verlegen über den Rock. „Das kam nur durch Mr. Neill“, stotterte sie.

„Schau an … durch Mr. Neill!“

„Als er mir die Bestellung für dich aufgab, sagte er, dass er Reggie Harriman zur Triebwerkskontrolle übernehmen wolle.“

„Will er?“, höhnte Crampton. „Dass dieser Tag nicht rot im Kalender steht!“ Er faltete die Zeitung geräuschvoll zusammen. „Schlag dir den Jungen aus dem Kopf. Ein für alle Mal! Wir haben mit Harrimans nichts zu schaffen.“

„Lass die alte Geschichte doch endlich ruhen, Vater!“, rief Mary. „Kein Mensch dächte mehr daran, wenn du selber nicht immer wieder Anlass dazu gäbest.“

Crampton hieb das Zeitungsblatt auf den Tisch und schleuderte die Brille hinterher. „Am Ende bin ich gar der Schuldige, wie? Dem alten Harriman haben sie damals ein Kreuz auf die Personalkarte gesetzt. Das kannst du glauben! Und mit solchen Leuten soll ich mich vielleicht noch verschwägern? Niemals! Ich habe eine angesehene Stellung. Dein Bruder Phil wird eines Tages Testpilot in Cap Caroline sein. Und von dir erwarte ich eine Heirat, die uns Ehre macht. Sieh dich gefälligst unter den jungen Ingenieuren um! Ein Harriman kommt mir nicht ins Haus!“

Mary warf den Kopf zurück und verließ das Zimmer.

„Das Essen, Cornelia!“, schrie Crampton zornig zur Küche hinüber. „Ich muss ins Werk!“

Party im Hause Bosworth

Jenseits des alten Fischereihafens von Maystone, den nur noch gelegentlich eine Privatjacht anlief, lag der Nordstrand. Hier hatte sich die Prominenz angesiedelt. Ihre Villen und Bungalows lugten, weitläufig verstreut, hinter Hügeln und Hecken hervor. Wenn man sich dem Nordstrand vom Hafen her näherte, bemerkte man zunächst ein Landhaus, dessen breite, blendendweiße Fassade von einer Anhöhe herableuchtete. Ein Park mit Golfplatz und seewassergespeistem Swimmingpool umgab das Haus, in dem die Familie Bosworth wohnte.

Der Name Bosworth war unstreitig der angesehenste am Nordstrand, und jeder, der etwas galt oder gelten wollte, legte Wert darauf, im Hause Bosworth als guter Bekannter ein und aus zu gehen.

Sidney Bosworth, Oberst der Air Force und Chef der Luftabwehr im Bereich Ost, war vierzig Jahre alt, ein schlanker, stattlicher Mann, zurückhaltend, jedoch nicht unzugänglich, immer von einer gemessenen Höflichkeit, hinter der sich ein zielklarer Wille verbarg.

Schon sein Vater war hoher Offizier gewesen und es stand für ihn fest, dass auch Carry, sein dreizehnjähriger Sohn aus erster Ehe, an dem er mit großer Liebe hing, auf der gleichen Laufbahn eine glänzende Zukunft finden würde. Man erzählte sich sogar ein wenig boshaft, er trage die Generalssterne bereits in der Tasche, nur wisse man nicht, ob für sich selbst oder für Carry.

Der Oberst hatte vor einiger Zeit zum zweiten Male geheiratet. Ann war zehn Jahre jünger als er. Ob die sehr hübsche, lebensfrohe junge Frau an der Seite des nüchternen Pflichtmenschen Bosworth glücklich war, vermochte niemand zu sagen. Einige behaupteten es, andere hingegen glaubten, dass der Heirat gewisse Spekulationen zugrunde gelegen hätten.

Seitdem der Oberst nach Maystone versetzt war, schien seine Ehe jedenfalls harmonisch zu verlaufen. Sie erfuhr auch durch Carrys Anwesenheit keine Trübung. Mrs. Bosworth hatte sich aus Eitelkeit lediglich ausbedungen, dass der große Junge sie nur Ann, nicht etwa Mama nennen dürfe.

An diesem Freitag kam Oberst Bosworth später als sonst vom Dienst, Ann und Carry erwarteten ihn bereits am Teetisch. Nach kurzem Gruß nahm er Platz. Gedankenverloren rührte er in seiner Tasse.

„Hattest du Ärger, Sid?“, fragte Ann vorsichtig.

Er schob die Tasse beiseite und strich mit den Fingern über die Stirn, an der oberhalb der rechten Schläfe eine etwa zehn Zentimeter lange Narbe brannte. Sie stammte von einem Granatsplitter, der den jungen Captain traf, als seine Maschine im Weltkrieg über der französischen Küste abgeschossen wurde. Mit dieser Verwundung war der Krieg für ihn zu Ende gewesen. Er kehrte in die Heimat zurück, wo er als bewährter Frontoffizier seine rasche Karriere begann. „Ärger? Nein“, sagte er fahrig. „Da war nur eben eine merkwürdige Meldung eingegangen. Erhöhte Alarmbereitschaft. Ich werde heute wohl noch einmal zum Stab fahren müssen.“

„Um Gottes willen! Ist was geschehen?“, fragte Ann.

Der Oberst fegte einen Krümel vom Tisch. „Nichts weiter! Vorsichtsmaßnahmen.“

Carrys dunkle Augen glänzten auf. „Will uns jemand überfallen, Dad?“, erkundigte er sich mit seiner brüchigen Knabenstimme. „Gib’s ihnen ordentlich! Der Dok sagt immer, uns könne keiner, wir seien die Stärksten.“

Lachend packte Bosworth Carrys lockigen Schopf. „Wer ist denn der Dok?“

„Aber, Dad! Das ist doch mein Lieblingslehrer.“

„Richtig! Du erzähltest mir schon von ihm. Nun, der Dok hat recht, wir sind die Stärksten. Und ich werde euch schützen .., wenn es mal nötig sein sollte.“

„Uns brauchst du nicht zu schützen, Dad. Ich habe mir einen Atombunker gebaut. Hinten im Park. Einfach prima! Ann hat auch Platz darin.“

„Fein, Carry! Aber trotzdem könntest du mit sauberen Fingern zu Tisch kommen.“

Der junge Bosworth warf einen kritischen Blick auf seine Hände. „Ist nicht so schlimm. Ich arbeite nämlich gerade an meiner neuen Antenne, weißt du.“

„Na, so was! Willst du mir deine Funkanlage heute Abend zeigen?“

„Gemacht, Dad!“

Ann hatte dem Gespräch lächelnd zugehört. Von Natur aus gutmütig und unkompliziert, anerkannte sie neidlos das enge freundschaftliche Verhältnis zwischen Vater und Sohn, auch als sich erwiesen hatte, dass ihre Ehe mit Sidney Bosworth kinderlos bleiben würde. Nun sagte sie: „Daraus wird nichts. Heute Abend haben wir eine Party. Hast du das vergessen, Sid?“

Der Oberst lehnte sich seufzend zurück, „Auch das noch! Muss ich dabei sein?“

„Freilich! Professor Maxwell hat zugesagt“

„Bei Gott, ich mag den Querkopf nicht“, sagte Bosworth. „Aber er ist nun mal ein hervorragender Raketenspezialist und solche Leute sind heute wichtig. Man muss sie im Auge behalten und darauf achten, dass sie nicht eigene Wege gehen“

„Bitte, fang' nur nicht wieder Streit mit Maxwell an!“, bat Ann.

„Keine Sorge. Ich hoffe, der Professor hat mittlerweile begriffen, dass Cap Caroline ein Versuchsfeld der Air Force ist. – Wen hast du außerdem eingeladen, Ann?“

„Frank Leslie.“

Bosworth junior verzog das Gesicht. „Ach, der!“

„Carry!“, mahnte Ann mit strengem Blick.

Aber der Vater fragte zwinkernd: „Magst du Dr. Leslie nicht?“

„Nein.“

„Warum?“

„Weiß nicht“, brummte Carry und schlug die Augen nieder.

Ann gab ihm einen Wink. „Ich denke, es ist Zeit, dass du auf dein Zimmer gehst.“

Im Hinausgehen wandte er sich um. „Kommst du abends zu mir herauf, Dad? Wegen der Funkanlage?“

„Mal sehen“, antwortete der Vater. „Wenn Ann und die Gäste es erlauben …“

„Okay!“ Damit verschwand Carry.

„Du solltest es nicht dulden, Sid, dass der Junge an Erwachsenen Kritik übt“, sagte Ann.

Bosworth lachte. „Er hat seine Augen und Ohren überall. Ich möchte nur wissen, warum er Leslie nicht leiden kann.“

Ann zuckte leichthin mit den Schultern und fuhr in der Aufzählung der Eingeladenen fort. „Dann werden die Armstrongs kommen, Rowether, Nicholls und – wie üblich – Mrs. Cumberley.“

„Mrs. Cumberley!“ Der Oberst rümpfte die Nase. „Gibt es eigentlich eine Party am Nordstrand, wo diese bigotte, hysterische Person nicht zu treffen ist?“

„Man kann es sich nicht leisten, sie zu übergehen“, meinte Ann. „Du weißt, Richter Cumberley hat einflussreiche Gönner in der Hauptstadt.“

„Eine recht bunte Gesellschaft hast du da wieder zusammengetrommelt, meine Liebe“, sagte Bosworth mit grimmigem Lächeln, „Hoffentlich geht es gut.“

Ann schob die Unterlippe vor. „Man muss froh sein, in diesem Maystone überhaupt eine Handvoll Leute aufzutreiben, mit denen man Umgang pflegen kann. Übrigens habe ich eine Überraschung für unsere Party bereit. Ein neues Gesicht: Miss Dodge.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Wer ist denn das?“

„Du wirst es schon sehen“, antwortete Ann geheimnisvoll lächelnd.

 

Die Türen der Erdgeschossräume waren weit geöffnet, so dass eine ganze Flucht behaglich ausgestatteter Zimmer den Gästen zur Verfügung stand. Es waren vierzehn Personen anwesend.

Einige Damen und Herren hatten sich mit Ann im Musiksalon zusammengefunden, wo ein stimmbegabter junger Mann den neuesten Schlager vortrug. Die Darbietung war jedoch keineswegs so genussreich, dass die Damen davon abgehalten wurden, die Wunderwerke ihrer Schneiderinnen unter lauten Äußerungen des Entzückens zu begutachten. Man wurde sich schließlich darüber einig, dass Ann wieder einmal die eleganteste Frau und damit Königin der Party sei.

Die Herren nahmen die Gelegenheit wahr, Ann mit Komplimenten zu überschütten. Nur einer von ihnen hielt sich abseits. Er lehnte lässig am Flügel und deutete seine Ovation für die Dame des Hauses durch eine flüchtige Verbeugung an.

Der starre Ausdruck seines schmalen Gesichtes mit den bernsteinfarbenen Vogelaugen löste sich unter einem dünnen Lächeln, und als gleich darauf die ersten Takte eines English Waltz erklangen, bot er Ann den Arm, um mit ihr den Tanz zu eröffnen.

Sein Blick ruhte in ihren Augen. Sie wandte den Kopf ab. Er lächelte noch immer. „Oh! Frau Königin ist ungnädig!“

„Bitte, Frank, lassen Sie den Unsinn!“ Auf ihrer weißen, runden Stirn zeigte sich eine Falte. „Man beobachtet uns.“

Er überflog die anderen Tanzpaare. „Und könnte aus der Beobachtung bestimmte Schlüsse ziehen, meinen Sie?“

„Allerdings, und nicht einmal falsche Schlüsse, lieber Frank!“

„Aber es weiß doch jeder, dass wir Tennispartner sind.“

„Sie sind unverbesserlich“, entgegnete sie lachend. „Nehmen Sie sich in acht!“

„Vor wem, bitte?“

„Vor Carry.“

„Great Lord! Der junge Mann ist wohl eifersüchtig?“

„Möglich. Jedenfalls mag er Sie nicht.“

„Das tut mir leid. Er ist ein netter Junge.“

Ann neigte den Kopf zur Seite und warf einen schnellen Blick auf ihren Tänzer, dessen Lippen sich zu einem harten Strich geschlossen hatten. „Habe ich Sie gekränkt, Frank?“

„Aber nein, Ann“, antwortete er. „Ich dachte eben nur … Vielleicht sollte man wirklich vorsichtiger sein. Auch vor dem Jungen.“

 

Voller Neugier hatten die Bekannten des Hauses Miss Eleanor Dodge begrüßt, die an diesem Abend zum ersten Mal auf einer Party am Nordstrand erschienen war. Miss Dodge, nicht mehr jung, Korrespondentin für mehrere namhafte Zeitungen, war erst vor kurzem in Maystone eingetroffen. Sie hatte die Absicht, über die „größte und interessanteste Kleinstadt der Welt“ eine Berichtserie zu verfassen.

Von diesem Plan war ganz Maystone begeistert worden. Natürlich auch Ann Bosworth. Und sie hatte sich beeilt, die Journalistin einzuladen.

Nun stelzte Miss Dodge, eine lange, silberne Zigarettenspitze zwischen den Zähnen, durch die Räume und betrachtete mit neugierigen Augen die Kostbarkeiten des Hauses.

Mr. Rowether begleitete sie auf ihrem Rundgang. Er war ein großer, schwerer Mann, der sich ungern aus einem weichen Sessel erhob. Miss Dodge zuliebe brachte er jedoch das Opfer, denn die Zeitungsschreiberin imponierte ihm. Übrigens zählte er zu Bosworths häufigsten Gästen. Als unermüdlicher Schachspieler, der Niederlagen mit Humor hinzunehmen verstand, war er nach des Obersten Meinung ein Besucher, von dem man wenigstens „etwas hatte“.

Miss Dodge blieb vor einem Gemälde stehen, rückte an ihrer Brille und suchte die Signatur des Malers. „Ein echter Gauguin?“, fragte sie ungläubig.

Rowether hob die Schultern, „Schon möglich. Ich verstehe davon nichts, wissen Sie. Solche Bilder liegen mir nicht.“

„Welche Motive bevorzugen Sie?“, fragte Miss Dodge.

„Stillleben“, sagte Rowether und schnalzte mit der Zunge. „Richtige, leckere Stillleben. Das ist was Schönes!“

Sie streifte ihn mit abschätzendem Blick. „Sind Sie Delikatessenhändler?“

Auf Rowethers Gesicht erschien ein breites Lachen. „Sie fragen wie ein Detektiv, Miss.“

„Detektive und Reporter haben manches gemeinsam. Also, wie ist’s? Habe ich recht?“

„Nein, verehrte Detektivin. Mein Geschäft ist rollender Art.“

„Autos?“

„Genau!“ Nun war er in seinem Element. „Meine Transporter finden Sie im ganzen Land. Rowether Transport Company! Werden Sie kennen. Jedes Kind kennt R.T.C.“, sagte er selbstgefällig. „Und seit die da draußen in Cap Caroline experimentieren, mache ich die Sache mit dem Treibstoff. Haben Sie die roten Tanker auf der Straße zum Versuchsgelände gesehen? Alles meine Wagen! Ist ja ein heikles Geschäft. Die Versicherungsprämien sind verdammt hoch, manchmal fliegt so ein Ding in die Luft. Und die Fahrer, diese Teufel, schrauben ihre Forderungen immer höher. Trotzdem lohnt sich der Job, bei Gott!“

Rowethers Wortschwall schien keinen Eindruck auf Miss Dodge zu machen. Sie wandte sich wieder dem Gemälde zu und sagte: „Ein unbekannter Gauguin, aber zweifellos ein echter!“

„Meinetwegen“, knurrte Rowether. Was hatte diese Zeitungsschreiberin nur mit dem albernen Bild? Er könnte ihr die tollsten Geschichten von seinen roten Tankwagen erzählen. Und von den Teufelskerls, die sie fuhren. Aber das interessierte sie offenbar nicht.

Nachdenklich steckte Miss Dodge eine neue Zigarette in die silberne Spitze. Mr. Rowether reichte ihr Feuer. Sie rauchte ein paar Züge, wobei sie den Blick schweifen ließ. „Eine wertvolle Einrichtung!“, stellte sie fest.

Rowether erklärte: „Bosworth hat sie seinerzeit mit allem Drum und Dran günstig gekauft. Von einem verrückten Filmstar, der sich dieses Haus gebaut hatte, als Maystone noch ein gottverlassener Winkel war.“

„Immerhin ein kostspieliges Vergnügen für einen Oberst. Finden Sie nicht auch?“, meinte Miss Dodge.

„Was wollen Sie?“, sagte er. „Bosworth ist mit der United Aircraft verheiratet.“

Sie nahm die Brille ab und starrte den Tankerkönig von Maystone an. „Mrs. Bosworth ist …“

Rowether beendete grinsend den Satz: „… ist die Tochter und Erbin von A. W. Ritchers, dem Präsidenten der United Aircraft. Produktion von Raketentriebwerken, verstehen Sie! Im Aufträge der Air Force. Kann ein großes Geschäft werden. Auch für den Oberst!“

„Ach, so ist das!“, sagte sie gedehnt. Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen zu Ann hinüber und fragte: „Wer ist eigentlich der junge Herr, mit dem Mrs. Bosworth tanzt?“

Rowether folgte ihrem Blick. „Das ist Leslie. Dr. Frank Leslie. Zweiter Direktor in Cap Caroline und rechte Hand von Professor Maxwell. Kaum mehr als dreißig Jahre alt, aber sehr tüchtig, sagt man. Nur vom Schachspiel versteht er nichts.“

„Vielleicht doch!“

„Entschuldigen Sie, Miss Dodge, das weiß ich besser.“

„Es gibt Menschen, die spielen Schach auch ohne Turm und Springer, Mr. Rowether.“

Da schwieg er betroffen. Die Zeitungsschreiberin wurde ihm unheimlich.

Die Uraniden

Vom Wintergarten des Bosworthschen Hauses bot sich am Tage ein herrlicher Ausblick auf das Meer und den weitgeschwungenen Strand mit seinen Buchten und Vorsprüngen. Jetzt schimmerten in der Ferne nur die Schaumstreifen der anrollenden Wogen durch die Dunkelheit. Längs der Küste blinkten Leuchtfeuer, über Cap Caroline stand heller Schein.

Die Hände auf den Rücken gelegt, sah der Oberst durch eins der breiten Fenster auf die Lichterkette am Strande. Er trug Uniform, die linke Brustseite zierte eine Doppelspange bunter Ordensbänder.

„Nun, was sagen Sie dazu, Professor?“, fragte er den neben ihm stehenden Herrn mittleren Alters, dessen volles Gesicht mit den ausgeprägten Zügen auf einen ebenso starken wie eigenwilligen Charakter schließen ließ. Es war John T. Maxwell, der wissenschaftliche Leiter des Raketenversuchsgeländes von Cap Caroline.

Maxwell drehte seine Zigarre nachdenklich zwischen den Fingern. „Hm … ein Flugkörper unbekannter Art vom kosmischen Raum her … So hieß es doch in der Meldung, von der Sie sprachen?“

„Allerdings, aber was heißt kosmischer Raum?“, erwog Bosworth. „Möglicherweise hat man sich hinsichtlich der Flughöhe geirrt.“

„Könnte sein“, entgegnete der Professor mehrmals nickend. „Wann erhielten Sie die Meldung?“

„Vor zwei Stunden etwa.“

„Und seitdem?“

„Nichts. Unsere Radarstationen schweigen.“

„Merkwürdige Geschichte. Mir ist bekannt, dass die Russen bestimmte Experimente …“

Bosworth sah geringschätzig lächelnd auf den Professor, den er um eine gute Kopflänge überragte. „Russische Vorposten im Weltraum? Das sind doch Hirngespinste!“

„Ich bin nicht ganz Ihrer Meinung.“

Unwillig winkte der Oberst ab. „Es liegt mir fern, die Russen zu unterschätzen. Schließlich haben wir sie im Kriege kennengelernt und seitdem sind viele Jahre der technischen Entwicklung vergangen. Nein, ich unterschätze sie gewiss nicht. Aber den Raum um den Erdball werden wir und sonst niemand beherrschen.“

„Zunächst haben sie einen Vorsprung auf dem Gebiet der Raketenentwicklung und sie künden bereits weitere Erfolge an“, gab der Professor zu bedenken.

„Bluff, nichts als Bluff, Verehrter!“, sagte der Oberst „Selbst wenn etwas Wahres daran sein sollte, brauchten wir noch lange nicht um unsere künftige Vormachtstellung im Weltraum zu fürchten. Es wäre höchstens für Cap Caroline ein Grund, unsere Verteidigungsbereitschaft zielbewusster zu fördern.“

Maxwell runzelte die Stirn. „Sie denken immer nur militärisch, Oberst.“

„Ich bin Soldat“, antwortete Bosworth steif. „Lassen wir das! Halten Sie es für möglich, dass das Auftauchen dieses Flugkörpers mit neuen Versuchen unserer Armee oder Marine zusammenhängt? Sie wissen ja, die einzelnen Forschungslaboratorien lassen sich nicht gern in die Karten gucken.“

„Nein“, entschied der Professor, ohne lange zu überlegen. „Das halte ich für ausgeschlossen.“

„Sagen Sie das nur, weil Sie für die Air Force arbeiten?“, fragte der Oberst spöttisch.

Maxwells Augen blitzten. „Aus Konkurrenzneid, meinen Sie?“

„Man könnte es so nennen“, sagte Bosworth.

„Für einen Wissenschaftler ein absurder Gedanke“, bemerkte Maxwell mit deutlicher Schärfe.

Der Oberst erkannte, dass er zu weit gegangen war, und lenkte ein. „Sie haben recht, Professor. Entschuldigen Sie! Warten wir also ab, bis des Rätsels Lösung offensichtlich wird.“

Maxwell lächelte über Bosworths Rückzug. „Es dürfte das Klügste sein.“

„Hallo, Professor!“, rief in diesem Augenblick eine ältere Dame herüber, die mit mehreren Gästen an einem Tisch Platz genommen hatte. Es war die Gattin des Distriktrichters Cumberley. Sie winkte dem Gelehrten zu.

Maxwell näherte sich der Dame mit süßsaurer Miene. Er kannte sie zur Genüge und es war als besonderes Entgegenkommen zu werten, dass er sie nicht einfach ignorierte, denn es kam ihm nicht darauf an, gesellschaftliche Regeln außer acht zu lassen, wenn ein Gesprächspartner ihm nicht passte.

„Setzen Sie sich doch!“, forderte Mrs. Cumberley den Professor mit lauter Stimme auf, und indem ihre gichtische Hand auf den Lichtschein über Cap Caroline wies, fragte sie: „Bereiten Sie schon wieder einen Ihrer schrecklichen Versuche vor?“

Der Professor warf einen Blick durch das Fenster in Richtung auf die Landspitze. „Nein. Es wird ein neuer Startturm montiert. Wir hatten gestern bei einem Probestart Pech.“

„Sehen Sie, sehen Sie! Pech gehabt!“, krähte Mrs. Cumberley. „Man hört öfter von Versagern. Und wenn uns solch eine Rakete auf den Kopf fällt? Dass mein Mann ausgerechnet nach Maystone versetzt werden musste!“

„In der Forschung gibt es eben auch Fehlschläge“, entgegnete Maxwell poltrig. Ihre hysterische Angst ärgerte und reizte ihn. Darum fügte er noch hinzu: „Dass eine Versuchsrakete aus geringer Höhe einmal außerhalb unseres Geländes zu Boden stürzt, ist durchaus denkbar.“

„Und da soll man ruhig schlafen können!“ Zustimmung heischend, schaute Mrs. Cumberley zu dem neben ihr sitzenden Reverend Nicholls, einem jüngeren Manne mit sanftem, fast traurigem Gesichtsausdruck, der sich auf ein zögerndes Kopfnicken beschränkte, weil er zu dieser Frage nicht eindeutig Stellung nehmen wollte. Er selbst erfreute sich immer des besten Schlafes, trotz der gefährlichen Nähe von Cap Caroline.

Die genickte Meinung des geistlichen Herrn schien Mrs. Cumberley unzureichend zu sein. Sie wurde daher aggressiver. Ihr hageres Gesicht brannte hektisch. „Wozu das alles überhaupt? Glauben Sie ernstlich, Professor, dass Menschen eines Tages den Weltraum erreichen werden? Und wenn es gelänge … Solch frevelhafter Neugier würde die Strafe auf dem Fuße folgen. Der Mensch versuche die Götter nicht!“

„Gott!“, korrigierte Reverend Nicholls leise.

Die Gespräche am Tisch verstummten. Wie man Maxwell kannte, würde er diese Attacke nicht unwidersprochen hinnehmen.

Der Professor sah mit krauser Stirn auf seine Hände und räusperte sich. Langsam, bedacht begann er zu sprechen. Seine Worte sollten offensichtlich nicht nur eine Antwort an Mrs. Cumberley sein, sie galten allen Zuhörern am Tisch, insbesondere wohl Bosworth, der mit gekreuzten Armen danebenstand und der Diskussion aufmerksam folgte.

„Wir streben fortgesetzt nach weiterer Erkenntnis“, begann Maxwell. „Warum tun wir das? Weil wir die Erfahrungen, die seit Jahrhunderttausenden gesammelt und von Generation zu Generation erweitert wurden, mit Verstand anwenden. Dadurch sind wir in der Lage, die Umwelt und unsere Beziehungen zu ihr zu begreifen, die Gesetzmäßigkeit in der Natur zu entdecken und auf Grund der gefundenen Naturgesetze wiederum eine Technik zu entwickeln, die unsere Kräfte vervielfacht und unsere Sinne verfeinert. Der Forschungsdrang des Menschen ist mehr als primitive Neugier, er dient der Erhaltung des Menschengeschlechts und seiner Fortentwicklung.“

„Oder der Vernichtung!“, kam ein Zwischenruf aus der Runde.

Maxwell sah auf, er bemerkte Bosworths abwartenden Blick. Heftig erwiderte er: „Das ist auch mir bekannt. Die wachsende Einsicht aber wird dem Vernichtungswillen schließlich Einhalt gebieten. Eines Tages wird ein Menschengeschlecht auf Erden leben, dem Kriege ebenso fremd sind wie uns heute der Kannibalismus.“

Mit einer schnellen, abschließenden Handbewegung fuhr er fort; „Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zu den Problemen der Weltraumfahrt, die uns heute so sehr beschäftigen. Auch zur Raumfahrt treibt uns nicht Neugier oder Abenteuerlust, sondern zwingende Notwendigkeit. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus, versteht sich. Ich deutete bereits an, dass wir mittels der Technik fortgesetzt zu neuen Ausblicken auf das Weltbild gelangen, wie es uns mit Hilfe unserer unzulänglichen Sinne früher nicht möglich war. Dabei stoßen wir auf Naturgeschehen, die von unserem begrenzten irdischen Gesichtskreis aus nicht übersehbar sind.

Wir müssen also danach trachten, diese Vorgänge in ihrem großen kosmischen Zusammenhang außerhalb der Erde zu studieren. Deshalb stehen wir vor der Aufgabe, Raumfahrt zu betreiben. Mit Hilfe der Astronautik werden wir die Geheimnisse des Weltalls ergründen, wie wir mit Flugzeugen die Lufthülle der Erde und mit Schiffen die Ozeane erforscht haben.“

Professor Maxwell lehnte sich in den Sessel zurück und nahm einen Schluck Wein. Die Mehrzahl der Anwesenden zollte ihm Beifall, einige wiegten zweifelnd den Kopf.

Mrs. Cumberley hatte von den Worten des Gelehrten nicht viel begriffen. Sie schaute fragend auf Reverend Nicholls, der gerade eine Entgegnung bereit hatte, als Oberst Bosworth sagte: „Der Professor hat recht. Bald wird die erste bemannte Weltraumrakete starten. Von Cap Caroline natürlich.“

„Nicht zu optimistisch, lieber Oberst!“, mahnte Maxwell. „Die große Grenze, die uns vom Ziele trennt, ist mit den Möglichkeiten der Technik allein nicht zu überwinden. Sie liegt auch im Menschen selbst, in seiner körperlichen und seelischen Widerstandskraft gegenüber den Einflüssen und Eindrücken, die ihn jenseits des irdischen Bereichs erwarten.“

Reverend Nicholls’ Gesicht rötete sich, er hatte sein Stichwort. „Diese Grenze ist dem Menschen ein für alle Mal gesetzt!“, sagte er.

Damit konnte er einen Mann wie Maxwell freilich nicht aus dem Sattel heben. Der bemerkte dazu; „Ähnliches bekam vor mehr als dreihundert Jahren schon Professor Galilei vom Heiligen Officium zu hören. Seitdem fiel manche Grenze. Und es werden noch viele fallen. Auch die, von der ich sprach. Früher oder später.“

„Wir wissen freilich nicht, wo die endgültige Grenze liegt“, räumte der Reverend vorsichtig ein. „Irgendwo aber wird sie sein.“

Maxwell schüttelte energisch den Kopf. „Mit einer Behauptung ist es nicht getan.“

„Gut!“, sagte Nicholls. Er blickte entschlossen auf die Tischrunde und die Umstehenden. Es waren noch einige Gäste zu dem Kreis getreten, um dem Gespräch zu folgen, darunter auch Miss Dodge. „Gut! Es wird vielfach angenommen, auch in wissenschaftlichen Kreisen“ – er hob betonend den Finger „dass außer uns im Universum vernunftbegabte Geschöpfe leben können, die auf ähnlich hoher Entwicklungsstufe stehen wie wir.“

„Allerdings“, warf Maxwell ein. „Wir sind seit der Zeit der Inquisition etwas weitsichtiger geworden.“

Reverend Nicholls nahm den Seitenhieb gelassen hin. „Wie erklären Sie dann die Tatsache, dass Bewohner eines anderen Weltkörpers noch nie auf der Erde erschienen sind?“ Und nach einer kleinen Kunstpause setzte er hinzu: „Es kann dafür nur einen Grund geben. Die Grenze, von der wir sprachen, ist eben die endgültige! Sie ist allen noch so intelligenten Lebewesen gezogen, wohin immer sie verstreut wurden.“

Bosworth reckte sich selbstbewusst auf. „Schon sind unsere Piloten bis in die höchsten Regionen der Atmosphäre vorgedrungen“, sagte er. „Bald werden sie in Raketenmaschinen, den sogenannten Raumgleitern, die Schwelle zum All erreichen. Auch das wird natürlich erst nur eine Vorstufe zur eigentlichen Raumfahrt sein. Was aber werden Sie sagen, Reverend, wenn wir die große Grenze wirklich überschreiten?“

Nicholls hob die Hände. „Es wäre vermessen, die Vorsehung ergründen zu wollen. Warten wir ab, was uns beschieden ist.“

„Jaja“, krächzte Mrs. Cumberley und zupfte an ihrem Spitzentuch.

Einen Augenblick herrschte Stillschweigen. Jeder machte sich wohl seine Gedanken über das eben Gehörte.

Da fuhr Mr. Rowether lärmend dazwischen. „Wahnsinnig interessant! Was sagen Sie, Miss?“ Ohne eine Äußerung von Eleanor Dodge abzuwarten, wandte er sich an Maxwell: „Ich habe ja gewissermaßen auch mit Raumfahrt zu tun, Professor, aber man findet nie Zeit, sich damit näher zu beschäftigen. Wie ist das eigentlich? Könnten nicht doch mal so ein paar Fremdlinge von einem anderen Stern hier aufkreuzen? Wäre bestimmt eine tolle Geschichte!“