Impressum

Günther Krupkat

Das Schiff der Verlorenen

Titanic-Roman

 

Das Buch erschien erstmals 1965 im Verlag Das Neue Berlin

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

ISBN 978-3-96521-141-4 (E–Book)

 

© 2019 EDITION digital
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ERSTES KAPITEL

Am 17. Februar 1957 meldete die Presse: Einen seltsamen Fund machte die Besatzung eines auf der Eisbergroute kreuzenden amerikanischen Wachschiffs …

Der Fund

Eine frische Brise rupft die See. Flach und behäbig rollt die Dünung über die Große Bank vor Neufundland. Von Luv her stäuben kleine, harte Wellen gegen das Schiff.

Der Himmel ist klargefegt, strahlendblau bis zur Kimm, mit ein paar weißen Wolkenfetzen. Ein Wetter wie selten in diesen Breiten des Nordatlantiks.

Der Matrose Pat meint, das sei so, weil heute sein Geburtstag ist. Neunzehn muntere Lenze hat der Bengel hinter sich. „Mach man weiter so. Aus dir wird schon noch ein Seemann“, sagte der Alte am Morgen, jawohl!

Pat rekelt sich in der Koje und genießt die Freiwache. Die Hände unterm Kopf, döst er mit halbgeschlossenen Augen, träumt ein bisschen. Na, wovon schon? Von schlanken Girls natürlich. Landurlaub müsste man haben. Das ausgerechnet diesmal sein Törn dran war!

Er stößt mit dem Fuß gegen den Boden des oberen Bettes. „Dave!“

„Eh?“, grunzt eine Stimme. Bretter knarren. Ein schwerer Körper wälzt sich herum.

Grübelnd fischt Pat nach einer zerknitterten Packung „Old Virginia“, zieht mit spitzen Lippen eine Zigarette heraus. „Wie lange bleiben wir noch draußen? Vier Tage?“

„Exactly.“

„Shit!“

In Pats roter Pranke klickt ein Feuerzeug, zweimal, dreimal. Die schlanken Girls wiegen sich zwischen blauem Dunst.

Das Schiff rollt leicht. Eintönig rumpelt die Maschine mit halber Kraft. In den Wänden knistert es unter dem Druck von See und Wind. Auf der Brücke tönen drei Doppelschläge der Schiffsglocke. Sechs Glas! Noch eine Stunde bis zur Ablösung.

Mit einem Mal ändert sieh der Takt der Motoren. Schneller hämmern die Kolben.

Pat hebt den Kopf. Eine Tasse scheppert auf dem Tisch.

„Dave! Hörst du das?“, ruft Pat nach oben.

Ehe der andere antwortet, gellen Signalpfiffe. Alle Mann an Deck!

Zwei Seemannsstiefel baumeln einen Augenblick lang vor Pats Nase. Dann schießt Dave aus seiner Koje abwärts.

Er stemmt die Fäuste auf die Schenkel und zwinkert Pat zu. .“Kriech aus dem Himmelbett, Lord! So eine Freude an deinem Geburtstag. Hat sich der Alte bestimmt eigens für dich ausgedacht.“

„Halt’s Maul!“ Pat sucht fluchend seine Mütze zwischen den Decken.

Zischend prescht das Patrouillenboot durch die sprühenden Brecher. Der kleinen Schar, die bei der Brücke angetreten ist, fliegt Gischt um die Ohren. Der Wind zerrt an Haaren und Hosen.

Pat schaut sich um. Achteraus versinkt Kap Race im Meer. Über Steuerbord wippen scwarze Punkte am Horizont: eine Fangflotte vor den reichen Fischgründen der Neufundlandbank.

Voraus aber erhebt sich ein seltsames Gebilde aus den schäumenden Wogen. Es fesselt den Blick, lässt ihn nicht mehr los, entführt die Gedanken in ein Wunderland.

Wie ein Traumschloss aus grünweißem Marmor ragt es mit seinen Türmen, Zinnen und Bogen aus der See, umgeben vom leuchtenden Band einer starken Brandung. Nebelfähnchen wehen an seinen Spitzen, gut dreißig Meter über dem Meer.

Ein Eisberg! Von Grönlands Gletschern geboren, zieht er majestätisch südwärts.

Der Kapitän nimmt das Fernglas von den Augen und sagt zum Steuermann, der noch immer auf das faszinierende Bild schaut: „Kein Zweifel, das ist er! Wurde vor kurzem erst gemeldet.“ Sein Finger fährt über die Merktafel des internationalen Warndienstes. „Registriert unter Nummer siebenundsiebzig. Mit drei Sternen!“

Der Steuermann schiebt die Mütze ins Genick. „Ein gefährlicher Bursche.“

„Sehen Sie sich die Brandung an, Steuermann. Kilometerlanges Unterwassereis. Möchte diesem Brocken nicht in der Nacht begegnen, womöglich ohne Radar, und dann so eine Schlafmütze im Krähennest.“ Er beugt sich über die Nock. „He, Boys! Endlich haben wir ihn. Werden ihm eins in die Visage brennen, dass ihm das Herumspuken vergeht. Pinasse mit Sprengkommando klar zum Auslaufen!“

Die Matrosen spritzen auseinander. Pfiffe, Kommandos, Klingeln des Maschinentelegrafen. Flinke Fäuste packen zu, jeder Griff sitzt.

Dave grinst, als er hinter Pat ins Boot springt, das knarrend und quietschend zu Wasser geht. „Habe ich’s nicht gewusst? Alles dir zuliebe.“

Die Führungsseile fliegen ab, der Motor knattert los. Durch die anrollenden Seen schiebt sich die Pinasse auf der Leeseite an den weißen Giganten heran. Fünf Männer ducken sich hinter der Windschutzscheibe.

Angeseilt, mit Pickel und Steigeisen beginnt das Kommando den Aufstieg. Gebirgsmarine werden diese Burschen von Ihren Kameraden scherzhaft genannt. Keuchend schleppen sie das Sprenggerät auf dem Rücken mit sich. Die Schläuche der Bohrmaschinen schleifen hinter ihnen her.

Pat bereitet das Eisklettern unbändige Freude, trotz aller Gefahr und Mühe. Endlich eine Abwechslung im Gleichmaß des Alltags auf See, eine Gelegenheit zu harter Bewährungsprobe vor den spiegelglatten Eiswänden!

Als erster erreicht er eine Plattform. Dort bleibt er breitbeinig stehen, schwenkt die Arme und brüllt vor Übermut. Zwanzig Meter tiefer schaukelt das Boot am Fuße des Berges in einer Bucht, unter der azurblaues Eis schimmert. Weiter hinten treibt das Wachschiff zwischen den Wellenkämmen.

Nun sind auch die anderen oben, werfen die Geräte ab und wischen sich den Schweiß von der Stirn. Warrick, der Sprengmeister, sieht sich um, gibt Anweisungen. Die Bohrer beginnen sich ratternd in das Eis zu fressen. Dynamitpatronen gleiten in die Löcher, Kabel rollen ab.

Auf halber Höhe soll die zweite Sprengung erfolgen. Watrick untersucht sorgfältig eine breite Terrasse des Eisschlosses. „Pat, hier bohren! Du dort. Und du an dieser Stelle. So, wir wollen den bleichen Gesellen schon aus der Ruhe bringen. Am Sockel des Obereises gibt’s aber noch ein schönes Stück Arbeit.“

„Okay, werden wir gleich haben.“ Pat setzt den Bohrer an. „Geht ja wie Butter“, ruft er durch den Lärm,

„Wird neues Eis sein. Das ist nicht günstig.“ Der Sprengmeister runzelt die Stirn.

„Von diesem Jahr?“

Warrick lacht. „Nein, aber vielleicht ist das Eis erst zehn, zwanzig oder dreißig Jahre alt. Die oberen Schichten enthalten viel Luft, sind poröser als altes Gletschereis und deshalb ziemlich weich. Vorsicht beim Bohren!“

„Mir soll’s … Pat bleibt der Satz im Munde stecken. Der Bohrer rutscht ihm aus der Hand. Ein Spalt bricht auf. „Achtung!“, brüllt Pat den anderen zu.

Warrick springt zur Seite.

Im selben Augenblick löst sich ein Eisblock. Unter Donnergetöse stürzt er ab, klatscht ein paar Sekunden später ins auf schäumen de Wasser.

„Glück gehabt“, knurrt der Sprengmeister und kratzt sich hinterm Ohr. Als er Pats verdutztes Gesicht sieht, muss er lächeln. „Was ist denn? Hast wohl ’ne Goldader entdeckt.“

Pat steht wie angewurzelt und stiert aufs Eis. Langsam wendet er sich um. Seine Lippen zucken, die Augen flimmern. Er deutet auf die Bruchstelle.

Kopfschüttelnd tritt der Sprengmeister näher, auch Dave kommt heran. Alle drei starren auf ein dunkles Etwas, das unter dem Eis undeutlich sichtbar ist.

Dave fasst sich zuerst. „Ein Stück Holz. Was sonst?“

„Holz soll das sein, du Idiot?“ Pat wechselt mit dem Sprengmeister einen Blick.

„Gib mal den Pickel her!“, murmelt Warrick. „Auf keinen Fall ist das Holz.“ Er kniet nieder und schabt das Eis behutsam weg. Die beiden anderen schauen neugierig zu.

Nun ist ein Stückchen des länglichen Gegenstandes freigelegt. Warrick hält inne. „Kein Holz. Ist Stoff oder so was.“ Wieder fliegen Eissplitter unter den Schlägen des blanken Stahls. Pat und Dave halten den Atem an.

Immer deutlicher tritt die Form des geheimnisvollen Fundes zutage. Zuerst ist es ein Fuß. Dann ein ganzes Bein, von einer schwarzen Hose bekleidet!

Schwer atmend richtet sich der Sprengmeister auf. „Jungs! Sagt, was ihr wollt, in diesem verdammten Eisberg ist ein Mensch eingefroren. Los, die Bohrer her! Vorsichtig ansetzen. Nicht dort!“ Er reißt mit der Hacke ein paar Linien an. „Hier müsst ihr bohren. Ja, so ist’s richtig.“

Eine Viertelstunde später haben sie einen Block freigelegt. Einen gläsernen Sarg, in dem ein Mensch ruht, als schliefe er.

Drei Gesichter drücken sich gegen das Eis. Da liegt wahrhaftig die völlig erhaltene Leiche eines Mannes, der bei seinem Tode sechzig Jahre alt gewesen sein mochte. Er hat volles graues Haar und einen silberweißen Schnurrbart. Das merkwürdigste aber ist, dass der Tote nur Hemd und Hose trägt.

„Mensch, Dave, das ist doch ein Frackhemd. Sogar die weiße Schleife ist noch tadellos gebunden.“

„Seht euch mal die Knöpfe am Hemd an. Wie die schimmern! Ich will den Captain verschlucken, ohne zu beißen, wenn das nicht echte Perlen sind.“

„Komisch sieht die Kleidung aus. Noch nie gesehen. Oder doch! Wartet mal … na klar, im Kino oder im Fernsehen.“

„Ausgerechnet Frackhemd, schwarze Hose und Lackstiefel!“

„Ein Schiffbrüchiger?“

„Müsste schon lange her sein. Kommt ihr damit zurecht? Ich nicht.“

„Schluss mit der Fragerei!“ Warricks Hand fährt durch die Luft. „Wir wissen’s nicht. Jedenfalls nehmen wir ihn mit – so wie er ist. Die Leinen! Wir werden den Block abseilen.“ Das ist leichter gesagt als getan. Nach einer halben Stunde haben sie den Eisblock mit dem Leichnam im Boot.

In aller Eile werden die Vorarbeiten für die Sprengung beendet.

„Und wenn hier noch mehr Tote eingefroren sind?“ Voll Unbehagen lässt Pat den Blick über die gleißenden Klüfte schweifen.

Der Sprengmeister zuckt mit den Schultern. „Sollen wir den ganzen Brocken auseinandernehmen?“

Von der Pinasse aus schließt er den Kontakt der Zündung. Drei Detonationen dröhnen über die See. Das weiße Traumschloss wird in die Luft geschmettert. Ein Hagel von Eistrümmern prasselt nieder.

„Festhalten!“, schreit Warrick. Wie eine Nussschale tanzt das schwere Boot auf der brodelnden Flut, aus der das Unterwassereis emporrauscht.

Noch einmal fahren sie heran, treiben Minen mit Zeitzündern unter das Eis. Das gibt dem Koloss den Rest. Unter ohrenzerreißendem Krachen, das selbst die Detonationen übertönt, bricht er auseinander. Wieder steigen Fontänen, im aufgewühlten Wasser wirbeln zentnerschwere Bruchstücke. „Nummer siebenundsiebzig“ hat auf gehört, eine Gefahr für die Schifffahrt zu sein.

Der Kapitän macht große Augen, als die Pinassc anlegt. „Was, zum Teufel, schleppt ihr da mit?“, ruft er hinunter. „Ein Mensch war im Eis, Captain!“

„Ein … was? Ich drehe euch das Genick um, wenn ihr mir ein Garn vorspinnen wollt!“

Warrick schlägt die Plane zurück, deutet auf den Eisblock. Nun sagt der Kapitän nichts mehr. Eine ganze Weile nicht. Der Steuermann kommt hinzu, die übrigen Matrosen,

Selbst die Maschinisten blinzeln aus verschmierten Gesichtern zum Wasser, wo das Boot mit seiner unheimlichen Fracht in der Dünung auf und nieder schwappt.

Plötzlich stößt der Kapitän einen meterlangen Fluch aus, jagt alles fort, was auf Deck nichts zu suchen hat. Er stürmt zur FT-Kabine, reißt dem Funker das Mikrofon aus der Hand und gibt die sensationelle Meldung durch.

Sofort Hafen anlaufen, lautet die Antwort.

Indessen ist die Pinasse an Bord gehievt. Der Eisblock wird unter einer Persenning auf dem Achterdeck vertäut.

Der Kapitän tritt hinzu. „Alles klar? Dass ihr mir das Ding ordentlich festzurrt!“

„Ay, ay, Sir!“

Dave stößt Pat in die Seite. „Wetten, dass du doch noch deinen Landurlaub kriegst, Glückspilz?“

Skeptisch schielt Pat nach dem Alten. Der dreht sich um, eilt zur Brücke.

Die Motoren heulen auf. Mit äußerster Kraft schießt das Wachschiff auf die Küste zu.

Im Mannschaftslogis geht es hoch her. Natürlich wird nur über den Fund gesprochen. Keiner kann sich einen Reim darauf machen. Bis der Kapitän herunterkommt und sich zu seinen Jungen setzt. Er ist ein alter Seeteufel, dem allerhand Wind um die Nase gestrichen ist.

„Ja, Boys, so was ist mir noch nicht passiert. Habe schon manchen Eisberg vor dem Bug gehabt. Aber mit einem Toten drauf? Nein, da ist glatt das Ende weg!“

„Dass der Mann so sonderbare Kleidung trägt, Captain! Ganz unmodern.“

„It’s true. Diese Knöpfschuhe, die Hosen, der Hemdkragen … genau wie zur Zeit des ersten Weltkrieges, sagen wir mal, so um neunzehnhundertvierzehn.“

„Siehst du, Dave“, platzt Pat dazwischen. „Ich hab’s gleich gewusst: Im Film habe ich so was schon gesehen.“

„Nun sagt bloß noch, der Kerl ist mehr als vierzig Jahre lang mit dem Eisberg im Atlantik herumkutschiert!“

„Muss jedenfalls eine alte Geschichte sein, indeed.“

Der Kapitän reibt sich das Kinn, während die anderen durcheinanderschwatzen. Dann schlägt er auf den Tisch, dass es klirrt. „Boys! Es war neunzehnhundertzwölf, als die ,Titanic‘ … Natürlich! Dass ich nicht gleich draufgekommen bin. Ihr habt doch von der ,Titanic‘ gehört, wie? Kann mir nicht denken, dass es einen Seemann gibt, der die Geschichte der ,Titanic‘ nicht kennt. Also: Der Mann ist in jener Nacht über Bord gesprungen – so wie er war, im Gesellschaftsanzug. Frack ’runter, und hinein in die See. Hat sich auf einen Eisberg gerettet, ist dort gestorben, erfroren – langsam eingefroren. Das ist des Rätsels Lösung. Ich will eine Jungfrau sein, wenn’s anders war. Kleidung, Zeit … stimmt haargenau!“

Dave wiegt den Kopf und pafft ein paar Züge. „Tolle Idee, die Sie da haben. Könnte man beinahe glauben. Aber das ist nun rund fünfundvierzig Jahre her, das mit der ,Titanic‘. Wo sollte der Eisberg die ganze Zeit über gewesen sein? Diese Dinger schmelzen doch in den südlichen Breiten ab.“

„Stimmt und stimmt auch nicht. Ihr wisst, wir sind hier an der Grenze der Eisbergdrift. Manchmal dringt Treibeis allerdings bis zum sechsunddreißigsten Breitengrad vor. Das ist aber selten. Habe es mal erlebt, als ich mit der ,Eric‘ in diesen Gewässern kreuzte. Es war nach einem strengen Winter. Mitte April muss es gewesen sein. Wir schwammen in einer Waschküche, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Ich ließ den Kahn nicht mehr als fünf Knoten laufen. Drei Tage ging das so. Dann kam ein steifer Nordwest auf, der dem elenden Dreck ein Ende machte. Und was sah ich? Eis bis zur Kimm!“

„Im April, Captain?“

„So wahr ich hier sitze! In vierundzwanzig Stunden zählten wir dreihundertfünfzig Eisberge, kleine und große. Einer stand fast vierhundert Fuß über der Wasserlinie. Stellt euch das mal vor! Zum Glück ist so was eine Ausnahme. Die meisten Eisberge kommen mit der Labradorströmung aus der Davisstraße. Südlich von Neufundland stoßen sie auf den Golfstrom und dann entscheidet es sich. Sie schwimmen entweder über die Tiefenströmung hinweg weiter nach Süden, bis sie schmelzen. Oder – und das kann gerade mit größeren Eisbergen geschehen – sie werden vom Golfstrom erfasst und nach Nordosten hin über den ganzen Atlantik mitgeschleppt. Vor Island können sic leicht in das grönländische Packeis geraten.“

„Damit wäre die Reise beendet.“

„Fürs erste, ja.“

„Wie sollte dann der Tote hierher gelangt sein?“

„So ein Eisberg hat ja Zeit, nicht wahr? Er bleibt erst mal dort oben im Packeis. Zehn, dreißig, vierzig Jahre … vielleicht noch länger. Schön langsam schiebt er sich aber weiter. Bis er um die Südspitze von Grönland herum ist und der Labradorstrom ihn wieder erwischt. Nun kann die Rundreise von Neuem beginnen. So ein Herumtreiber war ,Nummer siebenundsiebzig', verlasst euch drauf! Vergesst nicht, dass Eisberge früher weder überwacht noch verfolgt und nötigenfalls durch Sprengung unschädlich gemacht wurden. Damit begann man erst, nachdem die ,Titanic' … na ja.“

Der Kapitän steht auf, tippt an die Mütze und stapft zum Deck hinauf. Seine Gedanken sind in weiter Ferne, während er über das Meer schaut, wo die Trümmer des weißen Kolosses wie Blinkfeuer hinter der Dünung blitzen.

Noch einmal tritt er an den geheimnisvollen Eisblock heran, lüftet einen Zipfel des Segeltuchs und blickt dem Toten ins Gesicht. 1912! Damals war er so ein Bengel wie der Pat. Auch schon auf See zu Hause.

1912 … die „Titanic“ … jene Nacht …

Wenn der hier sprechen könnte! Er liegt da wie auf einem Diwan. Als ruhe er noch ein Viertelstündchen, bevor er den Frack über das perlengeschmückte Hemd ziehen wird, um seine Dame zum Tanz zu führen. Zu einem Ball auf dem Ozean … in jener Aprilnacht vor fünfundvierzig Jahren.

Was trug sich damals zu?

Hier ist die Geschichte.

ZWEITES KAPITEL

In jenen Tagen

Ein grauer Vorfrühlingstag versank hinter regenschweren Wolkenwänden. Aus den Steinschluchten der britischen Metropole wuchs ein Dom vielfarbigen Lichts und überragte die Kuppeln von Saint Paul und Royal Albert Hall und die Türme der stolzen Prachtbauten aus alter Zeit.

Wie tauschimmerndes Spinngewebe durchzog ein Netz von Lichterketten das Häusermeer, die Straßen und Plätze, die Brücken und Docks, bis zu den abendstillen Parks und den letzten Gassen von Eastend, wo die Flammen der Laternen im rauen Seewind zuckten.

Durch die Hauptstraßen der Londoner City schoben sich endlose Reihen von Passanten zwischen Omnibussen, Automobilen und Pferdefuhrwerken hindurch – vorbei an den strahlenden Spiegelscheiben üppig ausgestatteter Läden und überfüllter Lokale, an den Prunkfassaden alter Handelshäuser und exklusiver Klubs, am Säulentempel der Börse und an dem massiven Sandsteinblock der Bank von England; vorbei an den Straßenhökern und Bettlern, an dunklen Seitengassen, zwielichtigen Winkeln, in denen Laster und Verbrechen lauerten; vorbei an Licht und Schatten, Glanz und Elend.

Und hoch über dem dumpfen Brausen der rastlosen Geschäftigkeit verwehten einsam die Glockenklänge des altehrwürdigen Big Ben.

 

Unweit von Piccadilly Circus drängten sich Neugierige vor dem grellbeleuchteten Schaufenster eines Schifffahrtsbüros. Sie reckten die Hälse, hoben Kinder in die Höhe und schwatzten durcheinander. Selbst vorüberfahrende Kutscher und die Kondukteure der Autobusse warfen einen flüchtigen Blick hinüber. Der Verkehr drohte zu stocken. Ein Polizist postierte sich vorsorglich in der Nähe.

Aus einem der eleganten Modegeschäfte traten zwei Damen in Begleitung eines mit Paketen beladenen Dieners. Sie schauten auf die erregte Menge.

„Was mag es dort geben, Mama?“, fragte die jüngere. „Ein Ausverkauf oder vielleicht eine Lotterie?“

Die Mutter hob die Lorgnette vor die Augen, musterte misstrauisch die Szene und die Garderobe der Menschen, von denen manche nicht in diese fashionable Gegend zu gehören schienen. „Ich weiß es nicht, Kind. Auf keinen Fall sollten wir uns unter diese Leute mischen.“ Ihre Stimme klang streng.

„Bitte, Mama, gehen wir einmal hinüber!“

Der Diener räusperte sich. „Das Modell des großen Schiffes ist dort ausgestellt, Madam.“

„Das Schiff? Oh!“ Schon raffte die junge Dame die Röcke und trippelte auf das Gewühl los. Unter missbilligendem Kopfschütteln setzte sich auch die Mutter in Bewegung. Der Diener folgte gemessenen Schrittes, die ihm anvertrauten Pakete fester an sich drückend.

Hinter einer breiten Glasscheibe war das etwa zwei Meter lange Modell eines imposanten Schiffes zu sehen. Über dem schlanken Rumpf mit den Reihen runder Kabinenfenster erhoben sich die Oberdecks, die Kommandobrücke, die Funkmasten und vier mächtige Schornsteine.

Wie die Erläuterungen besagten, die rundum angebracht waren, sollte die „Königin der Meere“ eine Länge von zweihundertsiebzig Metern haben. Mehr als zwanzig Meter über dem Wasser würde man auf dem Bootsdeck stehen und unterhalb der Wasserlinie könnte man noch fünfzehn Meter tief in den Leib des Riesen hinabsteigen. Fünfundvierzigtausend Tonnen Rauminhalt! Das größte und schönste Schiff der Welt! Ein britisches Schiff!

In der bewundernden Menge begann jemand ein Lied zu summen. „Rule, Britannia …“ Andere fielen ein, ohne Unterschied von Rang und Stand. Herrsche, Britannia, beherrsche die Meere! In wenigen Tagen wird dein stolzestes Schiff mit zweieinhalbtausend Menschen an Bord seine erste Fahrt über den Ozean antreten. So schnell und so sicher, wie nie zuvor ein Schiff die glasgrünen Wogen des Atlantiks durchmessen hat. Zweieinhalb tausend Menschen in einem schwimmenden Palast von unerhörter Pracht!

Zeitungsjungen eilten die Straße entlang. „Evening Post! Interview mit White-Star-Präsident Ismay! Vor neuem Schnelligkeitsrekord auf dem Atlantik?“

Die Zeitungen wurden den Verkäufern aus der Hand gerissen. Rekord für England! Das Wort flog von Mund zu Mund. Immer mehr Passanten kamen hinzu, gestikulierten, schlossen Wetten ab. Der Polizist zuckte mit den Schultern und schlenderte weiter.

„Ach, Mama! Hast du es gesehen? Welch ein Luxus! Stell dir nur vor: Schwimmbassins, Tennisplätze, Theater, Cafés, Bars, Palmengärten. Sogar Geschäfte! Und von Deck zu Deck kann man mit Lifts fahren. Und in jeder Kabine Telefon. Oh, himmlisch! Solch eine Reise wäre mein Traum“, schwärmte das Fräulein auf dem Wege zur wartenden Equipage.

„Tausend Pfund sollen für einen Platz auf dem Schiff geboten werden“, gab die Mutter zu bedenken.

Dieser Hinweis konnte die Begeisterung der Tochter nicht dämpfen. „Es müsste ja kein Luxusappartement sein, Mama. Ich wäre schon mit einem Plätzchen dritter Klasse zufrieden. Nur das Wunder miterleben!“

„Dritter Klasse? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!“ Und eine energische Geste mit der Lorgnette bedeutete der jungen Dame, sie möge endlich in den Wagen steigen.

 

Im Bankviertel, Ecke Threadneedle Street. Zwei ältere Herren begrüßten sich.

„Hallo! Wie geht’s?“

„Thanks, und Ihnen?“

„Kann nicht klagen. Waren Sie heute auf der Börse?“

„Nein.“

„Eine Hausse, sage ich Ihnen! Solch ein Anziehen der Kurse gab es schon lange nicht mehr.“

„White Star Line?“

„Natürlich. Sie wissen, das neue Schiff …“

„Kein schlechter Reklamecoup.“

„Reklame nennen Sie das? Ich finde, fünfundvierzigtausend Tonnen sind eine respektable Tatsache.“

„Mit der White Star stand es in letzter Zelt nicht zum Besten. Die deutsche Konkurrenz machte ihr zu schaffen. Kursnotierungen waren miserabel. Und gegen die Cunard-Dampfer wird auch das neue Schiff nicht aufkommen. Tonnage und Eleganz allein machen’s nicht.“

„Ich sage Ihnen, dieser Ismay weiß genau, was er will. Das Schiff wird sich das Blaue Band holen, und White Star ist wieder groß im Geschäft.“

„Warten wir’s ab! Übrigens, ich biete Yorkshire Coal an.“

„Kohle? Gar keine Nachfrage, my dear. Halten Sie, rate ich Ihnen. Lange werden die Grubenstreiks nicht mehr dauern, dann sind Sie wieder obenauf.“

„Vielleicht sollte man wirklich White Star kaufen?“

„Sage ich doch! Noch ist es nicht zu spät dazu. Entschuldigen Sie mich, ich hab’s eilig. He, Cabby!“ Er hielt eine Taxe an und fuhr grüßend davon.

Der Zurückbleibende schaute zu einer elektrischen Bogenlampe auf, deren Milchglaskugel wie ein bläulicher Mond über der Straße hing und die guten alten Gaskandelaber sieghaft überstrahlte. Er sah die Lampe jedoch nicht. Vor seinen Augen standen Zahlen, nur Zahlen und Aktienbündel. Er rechnete, wog ab, nickte. White Star Line – das könnte ein Geschäft werden!

 

Damals schon zogen sich die Anlagen des Hafens von der London Bridge bis nach Gravesend. Das sind nahezu vierzig Kilometer. Nie schlief er, der „Pool“. Tag und Nacht erzitterte seine rußgeschwängerte Luft unter der Symphonie kreischender Lastkräne, heulender Sirenen und pfeifender Lokomotiven. Ohne Unterlass schluckten seine Speicher die Güter, die fast zweitausend Überseeschiffe Monat für Monat hier entluden, um mit neuen Waren in die Welt hinauszufahren. Ein Heer von Matrosen, SchauerIeuten und Schiffsmaklern überschwemmte zu jeder Zeit die zahllosen Hafenkneipen rund um die Docks und Piers.

Im „Alten Seehund“ ballten sich Wolken von Tabaksqualm und Branntweindunst unter der verräucherten Decke. An langen Tischen lärmten die Gäste, meist Fahrensleute, die hier ihre Heuer in Alkohol umsetzten. Dazwischen gefälliges Weibsvolk, billig herausgeputzt und mit glitzernden Augen jeden Vorteil für sich erspähend.

„He, Lissy! Noch eine Lage!“, rief ein junger Mann in kurzer Jacke und weiten Hosen der Kellnerin zu, die geschäftig zwischen Tischen und Theke pendelte.

Die dralle Person sah fragend zum Schankwirt hinüber. Der nickte kurz. Erfahrung hatte seinen Blick geschärft. Zedier, die spendabler waren, als ihr Geldbeutel erlaubte, erkannte er schnell. In diesem Fall schien kein Grund zur Vorsicht gegeben. Gleichmütig, die kalte Zigarre zwischen den Lippen, schob er die gefüllten Gläser der Kellnerin zu.

Der junge Mann knallte eine Handvoll Münzen auf den Tisch. Das flachshaarige Mädchen neben ihm fischte sich sogleich mit spitzen Fingern einen Florin heraus, zog die Röcke hoch bis übers Knie und verbarg die Silbermünze in einer Tasche des Petticoats.

Auch in dieser Runde entzündete sich das Gespräch am Thema des Tages.

„Das Schiff ist ein Wunder!“, schrie einer. „Three cheers for Old England!“

Der junge Mann hielt das Gesicht vor die vom Alkohol geröteten Augen des anderen. „Mach nicht so’n Wind mit dem Luxuskasten, Bootsmann!“

Der krächzte giftig: „Bist du etwa kein Brite?“

„Well, bin einer. Aber mit diesem Kahn habe ich nichts zu schaffen. Soll erst mal zeigen, was an ihm dran ist.“

„Junge! Sechsundvierzigtausend Pferdestärken hat das Ding im Bauch. Läuft glatt seine sechsundzwanzig Knoten. Die verdammten Germans haben keine Chance mehr, das Blaue Band zu gewinnen. Das sage ich!“

„Lass es dir um den Hals hängen, das Blaue Band.“ Gelächter erschütterte die Tischrunde.

Der Bootsmann riss die „Evening Post“ aus der Tasche und tippte auf die Schlagzeilen. „Hier steht’s! Das Schiff wird Rekord fahren.“

Der junge Matrose betrachtete seine Fäuste. Sie sahen aus, als hätten sie ein Leben lang Steine geklaubt. „Was hat unsereiner schon davon“, sagte er. „Bin ein dreckiger Heizer, Bootsmann. Ob ich mir die Knochen im Kesselraum meines lahmen Bananensteamers schinde oder an den Feuerungen so eines Weltwunders – das ist doch ganz egal.“

Er hob den Kopf und sah in ein breites, lehmfarbenes Männergesicht, aus dem ihn zwei Äuglein nachdenklich anblinzelten. Unwillkürlich fragte er: „Habe ich nicht recht?“ Der Angeredete wischte sich mit dem Handrücken den Bierschaum aus dem Bart. „Von Seefahrt verstehe ich nichts. Ich glaube aber, du hast recht.“ Er sprach langsam, besonnen, mit fremdem Akzent.

Der Bootsmann schaute ihn über die Schulter an. „Bist wohl Russe?“ Dabei musterte er ihn flüchtig. „Siehst aus wie ein Kosak.“

„Nix Kosak!“ Mit gutmütigem Lachen reckte sich der andere. „Bin Tscheche. Aus Kladno. Kennst du nicht, wie? Auch gut.“ Er wandte sich wieder dem Matrosen zu. „Ich habe in böhmischen, belgischen, englischen Gruben geschuftet, weißt du. Überall das gleiche: Schuften, wenig Geld und dann noch Aussperrungen. Hol’s der Teufel!“

„Ihr Miner macht es den Herren nicht leicht. Dreihunderttausend streiken in Wales.“ Der Matrose nickte anerkennend und schob dem Tschechen seine Zigarettenschachtel zu. „Suchst du Arbeit in London?“

„I wo, bedanke mich! Hier ist dicke Luft. Überall in Europa. Eines Tages werden sie sich gegenseitig den Schädel einschlagen, die Deutschen und die Briten und wer weiß noch.“

„Kann schon sein.“

„Siehst du, das schmeckt mir nicht. Vit Barka trägt seine Haut nicht für andere zu Markte. Morgen fahre ich nach Southampton, und Mittwoch geht’s übern Teich. Mit dem großen Schiff.“

Am Tisch wurde man aufmerksam. „Hört euch das an! Er wurde angeheuert, für das große Schiff!“

„Nix da. Ich reise als Passagier, jawohl.“

„Oho, haben Euer Hochwohlgeboren eine Kabine buchen lassen?“

„Ein Appartement im Zwischendeck. Mit Bad und Spülklosett.“

Als das Gelächter verebbt war, sagte der Matrose: „Versprich dir nur nicht zu viel von drüben.“

Schmunzelnd hob der Tscheche die Arme und spannte die Muskeln, dass die Nähte des Jacketts knackten. „Hiervon verspreche ich mir was, weißt du!“

„Mach’s gut, Miner. Wirst es schon schaffen.“ Der Matrose winkte der Flachshaarigen mit dem Kopf. „Come on, girlie! Muss in drei Stunden an Bord.“

Das Mädchen folgte ihm wiegenden Schrittes auf die düstere Hafengasse hinaus. Dort war die Luft erfüllt vom Getöse der nahen West-India-Docks und hinter den baufälligen Häusern glucksten die trägen Wellen der Themse.

Westminster-Gespräch

Still und verlassen lagen die Regierungsgebäude am Rande des abendlichen Verkehrsstromes zwischen dem Südufer und Trafalgar Square.

Unweit von Saint James, dem königlichen Park, fiel aus einer Flucht hoher Fenster Licht auf das nackte Gezweig. Vor dem Portal hielt ein Wagen. Ein Herr stieg aus. Er wurde empfangen und ins Obergeschoss geleitet.

Der Diener streifte die Handschuhe glatt, ehe er das Arbeitszimmer des Chefs betrat. Der Raum war von einem Lüster beleuchtet. In den Glasprismen brach sich der tänzelnde Schein des Kaminfeuers. Bücherregale türmten sich an den Wänden. Von der Decke starrten pausbäckige Stuckengel herab.

Über dem Kamin hing in üppigem Rahmen ein Gemälde Seiner Britischen Majestät. Es war Georg aus dem Hause Sachsen-Coburg-Gotha, der fünfte seines Namens auf dem Throne des Inselreichs. In geziemendem Abstand folgte das Bildnis Admiral Nelsons, dessen Seesiege einst Englands Herrschaft über die Meere begründet hatten.

Am Schreibtisch, der peinliche Ordnung aufwies, saß der Herr des Hauses. Das Einglas im Auge, war er mit dem Studium eines umfangreichen Schriftstücks beschäftigt. Vom Erscheinen des Bediensteten nahm er keine Notiz. Er hatte den Kopf auf die Fingerspitzen der linken Hand gestützt, während die rechte über das Kinn strich, das ein Backenbart säumte.

„Sir Bruce Ismay!“, meldete der Diener.

„Well.“ Ein kurzer Wink.

Der Diener zog sich ins Vorzimmer zurück, wo der späte Besucher wartete. „Exzellenz lassen bitten!“

Rasch schritt der elegant gekleidete schlanke Mann durch die Tür. Sein blasses, bartloses Gesicht war verschlossen, den grau melierten Kopf warf er selbstbewusst in den Nacken.

Der Hausherr erhob sich, kam dem Besucher entgegen. Er hielt den schweren Oberkörper ein wenig vorgeneigt. Das Monokel pendelte am schwarzseidenen Bande.

„Tut mir leid, Sie zu ungewöhnlicher Stunde bemühen zu müssen, lieber Ismay“, sagte er. „Aber die Dringlichkeit der Sache …“

Ismay deutete eine verbindliche Geste an. „Stets zu Ihrer Verfügung, Exzellenz.“

„Setzen wir uns!“

Sie begaben sich zur Kaminecke und ließen sich in den Sesseln nieder, die dem wärmenden Scheit zugekehrt waren.

Der Diener servierte Portwein und Rauchzeug, schürte das Feuer und verschwand lautlos.

Die Füße gegen das niedrige Kamingitter gestemmt, schaute Exzellenz in die Flammen. Seine Hände hingen schlaff über den Sessellehnen. Plötzlich ballten sie sich. „Haben Sie den Leitartikel im ,Berliner Lokal-Anzeiger' von gestern gelesen?“

Ismay nickte. „Man gießt wieder Öl ins Feuer. Wahrscheinlich vom Kaiser höchstpersönlich inspiriert. Die Mittwochrede des Schatzkanzlers vor dem Unterhaus wird ihn in Harnisch gebracht haben. Vor allem die Begründung unserer Verteidigungsausgaben für das laufende Jahr.“

„Dabei hat die deutsche Admiralität längst ein neues Flottenbauprogramm fix und fertig. Und zwar in einem Ausmaß, dass manchem die Augen übergehen werden.“

„Sie haben Informationen, Exzellenz?“

„Selbstverständlich, und wir sind auf der Hut. Geben wir uns aber keinen Illusionen hin! Wir liegen mit den Deutschen hart im Rennen, sehr hart!“

Als Antwort hob Ismay nur die Schultern. Seiner Natur war jeglicher Pessimismus fremd. Ihn reizte das Spiel um die Macht und vor einem hohen Einsatz war er noch nie zurückgeschreckt.

Ganz anders dachte Exzellenz. Einst als Seeoffizier und Gouverneur in Diensten der Königin Viktoria, hatte er Britanniens Stern auf der Höhe gesehen, hatte er erlebt, wie die alte Queen – Gott sei ihrer Seele gnädig! – ohne Skrupel und unangefochten aus fremdem Reichtum schöpfen konnte.

Nun aber kam ein größenwahnsinniger Hohenzoller mit seinem Gefolge von Schleppsäbeln und Geldsäcken, um es britischem Unternehmergeist gleichzutun. Überdies lauerte jenseits des Ozeans der Dollarkönig John Pierpont Morgan in der Hoffnung, die beiden großen Konkurrenten der Alten Welt würden sich gegenseitig zerfleischen und ihm das Erbe überlassen.

Sein oder Nichtsein, so sah Exzellenz die Frage für Britannien an diesem Vorostertag des Jahres 1912. Er warf einen unfreundlichen Blick auf den Mann im anderen Sessel, der sich gerade eine Zigarette anzündete und so tat, als gingen ihn die Wolken am politischen Horizont nichts an.

Immerhin, waschechter Engländer war Bruce Ismay auch. Er hatte sich auch unbestritten um die Krone verdient gemacht. Dafür war er geadelt worden. Rigoros, zugleich mit erstaunlicher Wendigkeit hatte er sich nach oben gedrängt. Heute war er Präsident und Hauptaktionär der White Star Line, des bedeutendsten Schifffahrtsunternehmens in England.

Jedoch die Art, in der dieser Gentleman alle Hürden nahm, löste bei Exzellenz Unbehagen aus. Der Mann lag ihm einfach nicht. Aber das war im Augenblick unwichtig.

„Kommen wir also zur Sache“, sagte er, ging zum Schreibtisch und suchte eine Akte heraus.

Wieder am Kamin, lehnte er sich gegen den Marmorsims, klemmte das Einglas ins Auge und öffnete den Aktendeckel, auf den ein dienstbeflissener Clerk mit schwungvoller Feder das Stichwort geschrieben hatte.

Es war jener Schiffsname, der seit Wochen die Menschen erregte, ein hitziges Für und Wider auslöste und Anlass war zu unerhörten Spekulationen und Wetten.

Ismays Blick blieb an dem Wort hängen, seine Lippen formten es unhörbar nach: Titanic!

Leicht war es nicht gewesen, das ersehnte Ziel zu erreichen. Wenige Jahre zuvor schien es fast, als müsse die White Star Line ihre Flagge streichen vor den bremischen Schiffen, die unvergleichlich schnell und komfortabel waren. Der Norddeutsche Lloyd verfügte über doppelt soviel Tonnage wie White Star und Cunard Line zusammen – von der Hapag, der Welt größter Reederei, ganz zu schweigen.

Da raffte sich zuerst die Cunard Line auf, dem verlorenen Rennen eine Wendung zu geben. Sie baute die Dampfer „Lusitania“ und „Mauretania“, zwei Riesen auf dem Ozean.

Bruce Ismay ließ dieser Sieg keine Ruhe. Sein Ehrgeiz trieb ihn wie eine Furie. Noch bessere Schiffe bauen, noch größere, schnellere! Vor allem schnellere! Die Welt zitterte im Taumel der Rekordsucht. Er bot alle Reserven auf, schöpfte die letzten Möglichkeiten aus. Die Regierung gab seinem Drängen nach und half, ging es doch um die Seegeltung des Empire.

So wurde Ismays kühnster Traum Wirklichkeit, die Krönung seines Lebens. Gewiss, noch stand die Bewährung bevor, aber der Erfolg war greifbar nahe. Ruhm für England, Ehren und Millionen ihm, dem Initiator des Wunderwerks!

Die Aktenblätter raschelten. Exzellenz räusperte sich. „Das Ergebnis der Probefahrt ist kaum befriedigend, Sir Bruce. Ich kann Ihnen das leider nicht ersparen. Die Regierung hatte erhebliche Subventionen für den Bau dieses Schiffes bewilligt, weil nach den Unterlagen eine Spitzenleistung zu erwarten war.“

„Nun ja.“ Ismay schnippte ein Stäubchen vom Revers. „Zugegeben, die ‚Titanic' wird das derzeit größte, schönste und modernste Schiff auf dem Atlantik sein. Das schnellste aber nicht! Und darauf kam es uns besonders an.“

„Verzeihung, Exzellenz …“

Eine energische Geste ließ Ismay nicht zu Worte kommen. „Die Abnahmekommission stellte eine zulässige Maximalgeschwindigkeit von fünfundzwanzig Komma sechs Seemeilen fest. Das heißt über eine Seemeile weniger als vorgesehen!“

„Die Maschinen wurden unter Vorbehalt abgenommen. Sie müssen noch einmal überprüft, notfalls ersetzt werden. Bis zur ersten Ausreise ist das allerdings unmöglich.“

Exzellenz richtete sich steif auf. „Sir Bruce, ich verstehe Sie nicht mehr! Der Wettstreit um den Vorrang im transatlantischen Verkehr ist keine Regatta, sondern ein Kampf bis aufs Messer. England oder Deutschland – eine Macht ist zu viel!

Vor vier Jahren haben wir den Deutschen das Blaue Band entrissen. Es weht seitdem am Mast der ,Mauretania‘, Aber wie lange noch? Die Deutschen sind uns dicht auf den Fersen. Die Hamburg-Amerika-Linie hat drei neue Schnelldampfer der Fünfzigtausendtonnenklasse in Auftrag gegeben. Der ‚Imperator' – das erste dieser Schiffe – wird demnächst in Dienst gestellt. Hamburg und Bremen sind sich einig, wenn es darum geht, uns zu überflügeln. Dafür sorgt schon der sehr clevere Generaldirektor der Hapag, dieser Mr. Albert Ballin, übrigens ein Freund des Kaisers.

Das alles ist Ihnen genauso bekannt wie mir. Wirklich, ich begreife Ihr Verhalten nicht! Sie tragen eine unverständliche Gelassenheit zur Schau angesichts der Tatsache, dass die Maschinenleistung der ‚Titanic' hinter den Erwartungen zurückbleibt und kaum ausreicht, gegen die Nord-Lloyd- Schiffe zu bestehen. Und das, obwohl Sie wissen, wie sehr es uns gegenwärtig auf eine eindrucksvolle Demonstration britischer Überlegenheit ankommt!

Andererseits treten Sie nicht den Gerüchten entgegen, die .Titanic' werde das schnellste Schiff der Welt sein. Wie reimt sich das? Wollen Sie die Güte haben, mir das zu erklären?“

„Oh, das reimt sich durchaus.“ Auf Ismays Gesicht erschien ein selbstbewusstes Lächeln.

Exzellenz wurde es schwer, an sich zu halten.

Der White-Star-Präsident warf den Zigarettenrest in die Aschenschale. „Die ,Titanic' soll nicht nur die deutsche Konkurrenz aus dem Felde schlagen, sondern auch ihre englische.“

„Darf ich daran erinnern, dass die ‚Mauretania' fast siebenundzwanzig Seemeilen die Stunde läuft? Sie brauchte auf der Testfahrt von Southampton bis New York fünf Tage und fünfzehn Stunden genau. Das ist absoluter Weltrekord. Ihre ‚Titanic' wird unter Volldampf einen halben Tag länger benötigen.“

„Im Gegenteil, Exzellenz! Sie wird New York sogar acht Stunden früher als die deutschen Schiffe erreichen und die Reisedauer der ,Mauretania' um ganze vier Stunden unterbieten.“

Verblüfft setzte sich Exzellenz. Das Monokel glitt ihm aus dem Auge. „Ach!“ Mehr wusste er nicht zu sagen. Ismays Selbstsicherheit war entwaffnend.

„Niemals hat die White Star verlauten lassen, die ,Titanic' könnte das Blaue Band erringen“, fuhr Ismay ruhig fort. „Ihre derzeitige Maschinenkapazität reicht dazu leider nicht aus. Sie wird mithin nicht Rekord fahren. Trotzdem wird sie die schnellste Verbindung zwischen Europa und den USA herstellen. Insofern glaube ich die Erwartungen der Regierung Seiner Majestät zu erfüllen.“

„Entschuldigen Sie, Ismay, das ist doch einfach – Bluff.“

„Keineswegs. Sie selber, Exzellenz, bezeichneten die ‚Titanic' nicht nur als größtes und schönstes, sondern auch als modernstes Schiff. Sie ist es wirklich. Ihre Bauart erlaubt es, jedem Wetter standzuhalten. Darum wurde beschlossen, dass die Schiffsleitung bei der ersten Überfahrt von der üblichen Route abweicht und einen nördlichen Kurs wählt. Dies bedeutet eine Verkürzung des Seeweges um gut zweihundert Seemeilen und einen beträchtlichen Zeitgewinn.“

„Einen nördlichen Kurs? Zu dieser Jahreszeit?“ Exzellenz zeigte Unbehagen. „Höchstgeschwindigkeit und Sicherheit unter derartigen Bedingungen – solch ein Risiko übernimmt kein erfahrener Kapitän.“

Ismay lächelte überlegen. „Kommodore Smith wird den Kurs steuern! Jeder Mensch in London weiß, dass die ‚Titanic' ein bisher nie gekanntes Maß an Sicherheit bietet. Sechzehn Schotte, bester Stahl aus Sheffield. Doppelter Schiffsboden und elektrische Überwachungsanlagen. Es ist an alles gedacht, was die neueste Technik nur aufzuweisen hat.“

Das war überzeugend, selbst für einen Sachkundigen wie Exzellenz. Er wollte sich jedoch keinesfalls festlegen und zog sich aus der Affäre, nicht unfreundlich, aber kurz und bündig. „Ich nehme Ihre Information zur Kenntnis. Das mit der neuen Route ist Ihre Sache.“

„Gewiss!“ Ismay warf einen Blick zur Kaminuhr. Man erwartete ihn auf einem Empfang. Er hüstelte.

Sein Gegenüber griff von Neuem nach der Akte. „Da ist noch etwas. Die vorläufige Passagierliste der ersten und zweiten Klasse enthält Namen hervorragender Persönlichkeiten von diesseits und jenseits des Ozeans: J. J. Astor und Frau aus New York; Major Archibald Butt, Adjutant des USA-Präsidenten Taft; T. W. Cavendish mit Gattin; der berühmte französische Maler Paul Domergue; Lord und Lady Duff-Gordon, reisen unter dem Namen Morgan; Benjamin Guggenheim, der bekannte Multimillionär; der Eisenbahnkönig Ch. Hays mit Familie; Mrs. Barbara Horthcliff. eine der reichsten Witwen Amerikas; Marquis de Liauté …

Er blätterte weiter. „Dann Gräfin Rothes; Mr. Rothschild und Frau; Senator Straus aus New York; Mr. Sullavan mit Familie aus Texas, kontrolliert den Baumwollmarkt der Staaten; A. G. Vanderbilt; Bankier Widemer … und so weiter. Man kann von einem Treffen der internationalen Gesellschaft auf der ,Titanic‘ sprechen.“

„Zweifellos.“

„Die ,Times‘ hat auf Grund der bereits abgeschlossenen Sachversicherungen den Gesamtwert dessen, was allein die Prominenz an Bord bei sich führen wird, auf rund fünfzig Millionen Dollar taxiert.“

„Die Schätzung dürfte eher zu niedrig als zu hoch sein.“

„Ich frage mich nur, wie man diese enormen Werte an Schmuck, Bargeld und sonstigen Effekten auf dem Schiff schützen kann. Allein die Juwelen! Schließlich sollen sie während der Reise nicht hinter Panzertüren schlummern. Man wird sie gebrauchen, bei der Hand haben, zur Schau tragen wollen. Sie werden sich also auf viele Kajüten und Koffer, Schränke und Truhen verteilen. Und das auf solch einem Schiff mit seinem kaum übersehbaren Bedienungspersonal, mit Hunderten anderer Reisenden, von denen kein Mensch weiß, woher sie kommen, wohin sie gehen. Eine ungeheure Verantwortung für Reederei und Schiffsleitung! Finden Sie nicht auch, Sir Bruce?“

Ismay schien das Problem wenig zu berühren. Er antwortete leichthin: „Den Passagieren des Zwischendecks ist der Zutritt zu den Räumen der ersten und zweiten Klasse natürlich verboten und das Personal wurde aufs Sorgfältigste ausgewählt. Abgesehen davon, werden genügend Detektive über Leib und Gut unserer prominenten Fahrgäste wachen.“

„Dennoch könnte es sein, dass die sensationell aufgemachten Zeitungsmeldungen über die illustre Reisegesellschaft gewisse Elemente veranlassen, die einmalige Chance zu nutzen. Und das wären keine kleinen Gelegenheitsdiebe! Es gäbe einen Riesenskandal. Gar nicht auszudenken. Dem muss zuverlässig vorgebeugt werden. Unter allen Umständen!“ Ismay lachte auf, „Ein verbrecherischer Coup großen Stils, gewissermaßen im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit? Nein, Exzellenz, das scheint mir denn doch ein allzu kühner Gedanke zu sein.“

„Wenn solch ein kühner Gedanke trotzdem gefasst wird?“

„Dann werden meine Detektive den Plan durchkreuzen.“

„Sie halten also Befürchtungen in dieser Richtung für überflüssig?“

„Völlig!“

Exzellenz schritt zu den Fenstern, hinter denen Nebelfetzen durch knospendes Strauchwerk wehten. „Sie haben eine bemerkenswerte Art, mit Bedenken fertig zu werden, lieber Ismay. Darin liegt zweifellos das Geheimnis Ihrer Erfolge. In diesem Fall aber vermag ich Ihren Optimismus nicht zu teilen. Nein, nein, eine so große Verantwortung können Sie unmöglich übernehmen. Ich habe deshalb Scotland Yard beauftragt, den Schutz der Reisenden während der ersten Fahrt mit allen zu Gebote stehenden Mitteln durchzuführen.“

„Scotland Yard?“ Sir Bruce schnellte hoch. Sein Ehrgefühl war aufs Tiefste getroffen. Unglaublich diese Einmischung in seine Angelegenheiten! Scotland Yard sollte sein Schiff besetzen? Das ging zu weit!

Beschwichtigend hob Exzellenz die Hand. „Nichts gegen die Tüchtigkeit Ihrer Leute. Was macht es aus, wenn ein paar der besten Beamten unserer Kriminalpolizei zum Stab Ihrer Detektive stoßen? Vielleicht werden Sie für diese Entscheidung noch dankbar sein.“

Ismay schwieg und schluckte den Ärger hinunter. Widerspruch wäre unklug, das wusste er. Wer Geld gab, durfte dreinreden.

Exzellenz kam auf Ismay zu und sah ihm fest in die Augen.

„Außer uns beiden und der Schiffsleitung darf niemand von der Maßnahme erfahren!“ Er lächelte liebenswürdig und ergriff sein Glas. „Auf die ,Titanic‘! Möge sie Englands Flagge Ehre bringen!“

Ein Gentleman

Im Hause Mervill war Empfang. Es war einer der Abende, an denen sich ein Kreis der exklusiven Londoner Gesellschaft hier zwanglos zu treffen pflegte.

Lady Cynthia Mervill, Witwe eines ehemaligen Beamten aus dem Buckinghampalast, war eine rüstige Fünfzigerin. Resolut und aufgeschlossen wurde sie mit allen Problemen fertig. Ihre geistigen Fähigkeiten hatten allerdings nie den Durchschnitt überragt, was ihr als Vorzug angerechnet wurde, so dass man sich gern bei ihr sehen ließ. Hinzu kam, dass Lady Mervill immer noch über Beziehungen zum Hofe verfügte.

An diesem Abend erschienen nicht so viele Besucher wie sonst. Die Wintersaison war vorbei. Nach den Bällen und Festlichkeiten der letzten Wochen, auf denen niemand von Rang und Namen fehlen zu dürfen glaubte, zeigte sich eine spürbare Ausgehmüdigkeit. Überdies hatten es einige der Bekannten vorgezogen, dem endlosen Nachwinter dieses Jahres durch eine Reise an die Riviera oder nach Kairo zu entfliehen. Andere waren wegen der bevorstehenden Osterfeiertage bereits zu ihrem Landsitz gefahren.

Die Gäste hatten sich in kleinen Gruppen auf die Salons verteilt. Diener in betressten Fracks und seidenen Kniehosen stelzten von Raum zu Raum und boten kulinarische Genüsse an. Von Zeit zu Zeit erschien der Butler, um neuen Besuch anzukündigen.

„Eine Luft ist das hier! Wie im Museum“, sagte die korpulente Lady Arlington zu Baronin Carnet. Sie entnahm ihrem Pompadour ein Flakon und netzte ein Seidentüchlein, mit dem sie die Schläfen betupfte.

Lady Carnet ließ den Fächer sinken. Ihr Blick glitt über den neubarocken Prunk des kleinen Saales mit seinen Samtportieren und Makartsträußen. „Apropos … sieht man Sie morgen in der Galerie Brissot?“

„Verschonen Sie mich! Der guten Mervill hätte auch was Originelleres einfallen können, als eine Wohltätigkeitsausstellung für junge Maler zu arrangieren.“

„Nun, sie fördert die neue Kunst und hilft zugleich den Bedürftigen. Ich finde das verdienstvoll und praktisch.“

Hier mischte sich Lord Arlington ein. „Warum ausgerechnet diese modernen Kleckser unterstützen? Kürzlich sah ich so ein Bild. Es war einfach schauderhaft. Von irgendeinem verrückten Münchener Maler, Franz Marc oder so ähnlich. Ich bitte Sie, rote Pferde! Weshalb nicht gleich blaue?“ Anklagend hob er die Hände und lehnte sich zurück, wobei die Nackenwülste über den Stehkragen traten. „Mit Pferden kenne ich mich aus!“

Einem Meinungsstreit über Kunst im Allgemeinen und Pferde im Besonderen fühlte sich die Baronin nicht gewachsen. Darum lenkte sie das Gespräch auf ein Thema, das ihr weit mehr lag. Sie stieß Lady Arlington an. „Sehen Sie nur – Gräfin Woodbury! Natürlich mit Huxley. Heute früh erst traf ich die beiden am Rotten Row, als sie vom Morgenritt kamen. Es ist ein Skandal!“ Sie deutete verstohlen mit dem Fächer auf ein junges Paar, das gerade den Raum verließ und ein Kabinett betrat, an dessen Wänden eine Sammlung kostbarer Aquarelle hing.

Bankier Carnet zupfte Lord Arlington am Ärmel. „HuxIey ist wieder mal an der Reihe. Ich schlage vor, wir sehen uns indessen das kalte Büfett an.“

„Glänzende Idee, Carnet.“

„Denk an deine Galle, Joel!“, mahnte Baronin Carnet. Damit waren die Herren entlassen.

„Warum gleich Skandal, meine Liebe?“ Lady Arlington lächelte vielsagend. „Würden Sie sich von unserm charmanten Edward Huxley etwa nicht den Hof machen lassen?“