Impressum

Günther Krupkat

Das Gesicht

Kriminalroman

 

Das Buch erschien erstmals 1958 im Verlag Das Neue Berlin als NB-Roman Band 29

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

ISBN 978-3-96521-137-7 (E–Book)

 

© 2019 EDITION digital
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DIE BEGEGNUNG

Die seltsame Geschichte mit dem Gesicht begann in Leipzig. Es war in den Tagen der Frühjahrsmesse.

Ein Strom geschäftig eilender oder gemächlich promenierender Menschen flutete unablässig über die Straßen und Gassen, zog durch die Zugänge und Passagen der Ausstellungspaläste, ergoss sich in die überfüllten Restaurants und Cafés, wirbelte über die Plätze., staute sich vor den Schaufenstern, an den Ständen kleiner Novitätenverkäufer und an den Kiosken, die ein verlockender Duft feiner Zuckerbäckereien oder brutzelnder Rostwürste umwehte. Es waren Menschen aus allen Teilen Deutschlands und Europas, ja, aus der ganzen Welt, Inder, Ägypter, Chinesen, Syrer, Australier und Amerikaner, die sich in der berühmten Messestadt ein Stelldichein gaben, um zu kaufen und zu verkaufen oder auch nur als Zuschauer an dem großartigen internationalen Ereignis teilzuhaben.

Inmitten dieses bunten Passantenstromes schritt Denzinger dahin. Er hatte kein Ziel und die Zeit war ihm heute nicht kostbar. Die Hände auf den Rücken gelegt, den Hut aus dem breiten, gebräunten Gesicht mit dem kurz geschnittenen Kinnbart geschoben, ließ er sich einfach treiben und betrachtete in heiterer Ruhe das bewegte Bild.

„Schön ist das, Suserl!“, sagte er lachend mit seiner vollen, selbstbewussten Stimme zu der eleganten jungen Dame, die sich bemühte, in dem Gedränge neben ihm zu bleiben. „Wenn ich daheim über die Kaufingerstraße geh’ oder im ,Annast‘ sitz’, dann kann ich mich der lieben Bekannten kaum erwehren. Hier aber bin ich einer unter vielen, nichts weiter. Hier hab’ ich mal meine Ruhe.“

„Als wenn dir an deiner Ruhe soviel läge, Papa“, entgegnete Susanne skeptisch. „Sag nur, du wärst nach Leipzig gefahren, um dich zu erholen.“

„Meinst nicht?“, fragte er augenzwinkernd.

„Und die Tagung, die Empfänge, die Besichtigungen?“

„Schon vorbei.“

„Wer das glauben soll! Da, schau einmal!“ Sie trat an einen Kiosk heran und kam mit einer Zeitung zurück. „Ein Bild von dir, Papa! Und gleich auf der ersten Seite.“

Er warf einen kurzen Blick über ihre Schulter und schmunzelte. „Das muss ich daheim dem Schwenk zeigen. Zerreißen wird’s ihn vor Ärger.“

Halblaut las sie die Bildunterschrift: „Der bekannte Münchener Chirurg, Professor Dr. Fritz Denzinger, der an der Leipziger Ärztetagung teilnahm, beabsichtigt … Hörst'du zu, Papa?“ Da er nicht antwortete, schaute sie auf. „Was hast du?“

Verstört starrte Denzinger auf die vorüberziehende Menge.

Er hatte etwas wahrgenommen, was ihn heftig erschreckte. Es war das Gesicht eines Mannes, nicht jung, nicht alt, ohne Besonderheiten, keineswegs unschön oder abstoßend, aber merkwürdig maskenhaft und im fahlen Sonnenlicht leichenblass leuchtend. Aus den überschatteten Augenhöhlen glomm ein Blick, der an Denzinger vorbei oder durch ihn hindurch zu gehen schien. Vielleicht ergab sich der unheimliche Ausdruck dieses Gesichtes nur durch eine zufällige Lichtwirkung.

Denzinger war es, als schlösse sich eine eisige Faust um sein Herz.

„Was hast du?“, fragte Susanne noch einmal. Sie folgte beunruhigt seinem Blick, bemerkte jedoch nirgends etwas Ungewöhnliches.

Denzinger schloss die Augen. Seine Hand strich über die Stirn. Er zwang sich, wieder hinzuschauen. Das Gesicht war verschwunden. Wie ein Phantom hatte es sich ihm für wenige Sekunden zwischen den vielen Menschen gezeigt. Eine Sinnestäuschung … natürlich, dachte er. Ein Gaukelspiel dunkler Gedanken im Unterbewusstsein. Seltsam! Oder sollte …?

Er wandte sich Susanne zu und sagte mit einer energischen Geste, als wische er etwas fort; „Nichts – es ist nichts, Susanne. Dieser warme Wind fällt mir auf die Nerven, weißt. Es ist ein föhniger Wind. Gehen wir!“

Sie setzten ihren Weg fort. Mehrmals blickte er zurück wie einer, der sich verfolgt fühlt. Dabei schüttelte er den Kopf und seine Lippen bewegten sich lautlos.

Susanne schaute ihn verstohlen an. Diese Art kannte sie an ihm nicht, und es war ihr ganz seltsam zumute. „Ist’s jetzt besser, Papa?“, erkundigte sie sich. „Was war das nur vorhin? Sicher haben dich die letzten Tage zu sehr angestrengt.“

„Aber woher denn?“, entgegnete er kurz angebunden.

„Oder hast du einen Bekannten gesehen?“

Er ging darauf nicht ein.

„Ich mein’ halt nur, es könnt’ doch sein. Die ganze Welt trifft sich ja hier.“

„Geh, Suserl! Was hast denn nur mit deiner Fragerei? Nichts hab’ ich gesehen. Kehren wir um!“

Als sie die von gehenden, kommenden und wartenden Menschen überfüllte Vorhalle des Hotels durchschritten, hatte Denzinger plötzlich das Gefühl, eine unsichtbare Hand lege sich auf seine Schulter. Er drehte sich rasch um, aber niemand hatte ihn berührt. Schon wollte er Susanne folgen, die bereits am Fahrstuhl stand, da entdeckte er hinter den breiten Scheiben der Hotelhalle das Gesicht zum zweiten Mal.

Deutlich sah er es im Gewühl der Straße und wieder spürte er einen starren, durchdringenden Blick. Unbewusst wich er einen Schritt zurück. Er verfärbte sich, seine Augen schlossen sich halb und die Muskeln über den Backenknochen spielten nervös.

Das Gesicht verschwand wieder. Denzinger wartete einen Moment, es kam jedoch nicht mehr zum Vorschein. Vergeblich kämpfte er gegen die Erregung an, die ihn aufs Neue überfiel.

Seine Gedanken kreisten immerzu um dieses Gesicht. Er zuckte zusammen, als eine leise Stimme an sein Ohr drang.

„Herr Professor, es ist Post für Sie eingetroffen.“ Der Hotelportier hielt ihm einige Briefe entgegen.

„Danke, mein Lieber, danke sehr“, sagte Denzinger zerstreut im gewohnten jovialen Ton und eilte Susanne nach. Der Portier wunderte sich über den etwas schwankenden Gang des großen, kräftigen Mannes.

Denzinger und seine Tochter bewohnten im ersten Stockwerk nebeneinanderliegende Zimmer. Beim Aufschließen seiner Tür fragte er sie: „Was wirst du heute Abend unternehmen? Hast du eine Verabredung mit deinen Bekannten vom Grassi-Museum?“

Sie hob erstaunt den Kopf. „Du hattest mir doch einen kleinen Nachtbummel versprochen, Papa.“

„Ja, richtig! Daraus wird leider nichts. Ich muss bis morgen eine wichtige Arbeit beenden. Das Essen werd' ich mir auf dem Zimmer servieren lassen.“

Susanne schob die Unterlippe vor. Diese wichtigen Arbeiten ihres Vaters kannte sie zur Genüge, Sie pflegten meist bis zum Morgengrauen zu dauern und niemand durfte ihn dabei stören, „Nicht einmal hier gönnst du dir einen freien Abend. Ist das unbedingt nötig?“

„Ja“, antwortete er ein wenig ungeduldig und betrat das Zimmer. Seine Gedanken mochten schon weit entrückt sein. Sie hörte, dass er die Tür verriegelte.

 

Kurze Zeit darauf erschien Susanne wieder in der Empfangshalle. Unschlüssig sah sie um sich. Vom Hotelcafé klang Teemusik herüber. Draußen auf der Straße flammten die ersten Lampen auf. Autoscheinwerfer blitzten, Lichterketten der Straßenbahnen zogen vorüber, Leuchtschriften zuckten über die Fassaden, warfen ihren bunten Schein auf das wogende und wirbelnde Leben der großen Messestadt.

Susanne seufzte. Ein langer Abend lag vor ihr. Was sollte sie beginnen? Sie vertiefte sich in den Theaterspielplan. „Können Sie mir einen Platz in der Oper reservieren lassen?“, fragte sie schließlich den Portier.

Der hob bedauernd die Schultern. „Tut mir leid, Fräulein Denzinger. Alle Theater sind ausverkauft. Vielleicht ein guter Film? Was würde Sie Interessieren?“

Ehe Susanne antworten konnte, hörte sie eine Stimme hinter sich. „Natürlich werden Sie heute Abend in die Oper gehen, Fräulein Denzinger.“

Sie wandte sich überrascht um und sah sich einem großen, schlanken Herrn gegenüber. Er mochte etwa Ende Dreißig sein. Um seine Lippen spielte ein liebenswürdiges Lächeln. Sein Blick war auf Susanne gerichtet, freundlich und ruhig, ohne Zudringlichkeit.

In ihrem hellen, fast blassen Gesicht, das von lebhaften blauen Augen und einem schöngeformten Mund beherrscht war, spiegelte sich zuerst instinktive Abwehr wider, die aber bald verhaltener Neugier wich. Er sieht gut und gepflegt aus, stellte sie fest. Und am Kinn hat er ein spaßiges Grübchen. Das ist kein Theaterkartenverkäufer. Die haben solch ein Grübchen nicht.

„Hier sind zwei Opernplätze“, sagte der Herr und reichte ihr die Karten, wobei er eine Verbeugung andeutete.

„Ich brauche ja nur eine“, erwiderte sie zögernd.

„Dann werden wir gemeinsam die Oper besuchen.“ Er sagte das so, als sei es die natürlichste Sache der Welt, dass Susanne mit ihm den Abend verbringen werde. In seiner wohlklingenden Stimme lag etwas merkwürdig Zwingendes, dem sich Susanne nicht entziehen konnte. Sie wollte es auch gar nicht. Die ruhige Selbstsicherheit dieses Mannes gefiel ihr. Und als er leise hinzufügte: „Ich hoffe, dass Sie meinen Vorschlag annehmen“, war das für sie nur eine höfliche Redensart, die keiner besonderen Zustimmung mehr bedurfte,

„Woher kennen Sie mich?“, fragte sie. „Wohnen Sie auch hier im Hotel?“

Einen Moment zögerte er mit der Antwort und sah auf das metallische Schimmern ihres platinblonden Haares. „Nein, ich wohne hier nicht, und ich kenne Sie auch nicht – näher noch nicht.“

„Aber mein Name ist Ihnen bekannt!“

Er lächelte. „Ich erfuhr ihn durch Ihr Gespräch mit dem Portier. Übrigens, ich heiße Trattenburg, Hans Trattenburg. Ist Ihnen das ein Begriff?“

Unsicher schaute sie ihn an. „Ich muss gestehen …“

Er amüsierte sich über ihre Verwirrung. „Oh, ich bin enttäuscht! Nehmen Sie es aber bitte nicht tragisch. Ich tu’s auch nicht. Am Ende halten Sie mich noch für eingebildet.“

„Trattenburg? Moment, bitte! Sind Sie mit dem Maler Andreas Trattenburg verwandt?“

„Bewundernswert! Sie haben recht. Es ist mein Onkel und ich bin auch Kunstmaler, allerdings weniger bedeutend. Mir fehlt noch einiges am Ewigkeitswert.“

„Dann haben wir also ähnliche Berufe!“, rief sie lachend aus. „Ich bin Kunstgewerblerin.“

„Das ist interessant! Sie müssen mir sogleich von Ihren Arbeiten erzählen. Gehen wir ins Hotelcafé!“, entschied er kurzerhand.

 

Das Zimmer lag im Dunkeln. Nur die Lichter der Straße huschten über die Wände. Die Arme unter dem Kopf verschränkt, ruhte Denzinger auf der Couch. Er atmete tief und gleichmäßig, als schlafe er. Aber er schlief nicht. Während seine Augen dem Spiel der tanzenden Lichtreflexe folgten, waren seine Gedanken mit der seltsamen Erscheinung beschäftigt, die er zweimal am Nachmittag wahrgenommen hatte. Zweimal! Von einer Täuschung konnte keine Rede sein. Dann aber – existierte das Gesicht!

Man sagte von Denzinger, dass ihn so leicht nichts aus der Ruhe bringen könne. Oft genug hatte er es bewiesen, wenn es Menschenleben zu retten galt und er mit dem Skalpell in der Hand vor unerwarteten Situationen stand, die in Sekundenschnelle kühne Entschlüsse erforderten. Jetzt jedoch hatte ihn qualvolles Grübeln, fruchtloses Imkreisedenken in einen Zustand der Rat– und Hilflosigkeit versetzt, der ihn aufs Höchste beunruhigte.

Er schloss erschöpft die Augen und lauschte auf die Geräusche, die von der Straße her ins Zimmer drangen. Autoreifen summten über den Asphalt, eine Straßenbahn kreischte in der Kurve, irgendwo Lachen, Schritte, der Pfiff einer Lokomotive, und über allem dumpfes Rauschen wie ferne Meeresbrandung – die Symphonie der Großstadt.

Plötzlich konzentrierte Denzinger sein Gehör auf das Zimmer. Hatten nicht eben die Dielen geknarrt? Ganz leise, unter vorsichtigen Schritten? Denzinger wollte aufspringen, aber er fand nicht die Kraft dazu, er lag wie gelähmt. Nicht einmal die Augen vermochte er zu öffnen,

Ein Gefühl des Grauens beschlich ihn: Das Gesicht war da! Es musste dicht vor ihm sein, ihn anstarren. Ein eisiger Hauch streifte ihn, und er vernahm eine flüsternde Stimme. Nein, zwei Stimmen waren es. Die andere gehörte ihm selbst. Mit angehaltenem Atem versuchte er, einem seltsamen Dialog zu folgen.

„Es ist entsetzlich, so hilflos zu sein“, kam es aus dem Munde des geheimnisvollen Gesichts. „Du willst dich erheben und kannst es nicht. Du willst dem entfliehen, was dir bevorsteht, aber du kannst es nicht. Ja, du bist hilflos.“

Denzinger stöhnte und lauschte der eigenen Stimme. „Was willst du von mir?“

„Das fragst du auch noch? Mein Leben will ich!“

„Ich habe es dir nicht genommen.“

„Bist du dessen ganz sicher?“

„N–nein.“

„Siehst du!“

„Was soll nun werden?“

„Du wirst mir dein Leben geben.“

„Niemals!“

„Dann werde ich es mir nehmen. Bist du etwa nicht in meiner Schuld?“

„Schuld wird nicht durch Schuld getilgt.“

„Du wirst fortan meine Nähe spüren. Ich werde dich an deine Schuld mahnen, wo du auch sein magst. Bis zum letzten Atemzug! Bis …“

„Schweig! Du – existierst gar nicht …“ „Nicht mehr, willst du sagen. Siehst du nicht, dass du irrst?“ „Wenn ich mich auch irrte – du kennst mich nicht und kannst mich nicht verfolgen.“

„Und das Köfferchen? Hast du es vergessen?“

„Das – Köfferchen! Du weißt …?“

„Vielleicht.“

„Unmöglich!“

Denzinger schnellte hoch, tappte nach dem Schalter der nahen Tischlampe und sah sich geblendet um. Was denn? Das Fenster hatte er doch vorhin geschlossen. Jetzt aber war es zu einem kleinen Spalt geöffnet! Der Wind bauschte die Vorhänge, ein kühler Luftzug fuhr durch den Raum.

Zögernd näherte sich Denzinger dem Fenster, stieß es weit auf und beugte sich hinaus. Rundum war nur glatte Fassade, kein Vorsprung, kein Balkon. Er schloss das Fenster sorgfältig und griff zum Telefon. „Hallo, Portier? Hier Denzinger. Hat jemand nach mir gefragt? … Nein? … Weisen Sie jeden ab, der mich zu sprechen wünscht. Ich will nicht gestört werden. Auf keinen Fall!“

Denzinger blieb am Fenster stehen und blickte sinnend auf die Straße hinab. Was dort unten vor sich ging, bemerkte er nicht. Seine Gedanken schweiften in die Ferne, kehrten zurück in die Vergangenheit, aus deren Schatten das Gesicht emporgetaucht war. Dieses Gesicht!

 

Gegen vierundzwanzig Uhr näherte sich ein Auto in langsamer Fahrt dem Hotel. Susanne kehrte mit Trattenburg von der Oper zurück. Sie saß neben ihm. Er hielt das Lenkrad mit seiner Hand, während er eine Zigarette rauchte. Beide blickten auf das hellerleuchtete Gebäude. Vor der breiten Fassade hingen lange Fahnen, deutsche, sowjetische, britische, französische. Ein kräftiger Nachtwind zerrte an ihnen. Beim Portal stand eine angeregte Gesellschaft, die sich unter Lachen und lauten Zurufen verabschiedete.

„Wir werden noch in die Bar hineinschauen. Es ist zu früh“, sagte Trattenburg.

Susanne sah ihn fragend an. „Wozu ist es zu früh?“

Lächelnd wandte er sich ihr zu. „Es ist noch zu früh, um diesen schönen Abend schon zu beschließen. Meinen Sie nicht auch?“

Sie wiegte den Kopf. „Ursprünglich war zwischen uns nur von einer Opernkarte die Rede.“

„Ja, ursprünglich. Aber in allem liegt der Keim zu weiterer Entwicklung.“

„Bezieht sich das auch auf Theaterbekanntschaften?“

„Im Allgemeinen nicht unbedingt, im Besonderen aber ja.“

„Und das Besondere, meinen Sie, ist in unserem Falle gegeben?“

„Ich weiß es“, antwortete er und sah ihr in die Augen.

Trattenburgs Auto war noch etwa zwanzig Meter vom Hotel entfernt, als ein Mann aus der Drehtür trat und sich an der fröhlichen Gruppe vorbeischob, die dort noch immer Hüte schwenkte und Hände schüttelte. Der Mann trug einen Mantel, dessen Kragen hochgeschlagen war. Eine Kopfbedeckung hatte er nicht. Er schaute die Straße entlang, als suche er jemand, und wandte sich dann einem Nebengebäude des Hotels zu.

Susanne beugte sich überrascht vor. „Das ist doch mein Vater! Sehen Sie nur, er geht zur Garage.“

Trattenburg lenkte den Wagen an die Bordschwelle und hielt an. „Vielleicht wurde nach ihm telefoniert. Irgendeine unaufschiebbare Angelegenheit“, sagte er ruhig.

„Ich bitte Sie, es ist Mitternacht! Wer sollte ihn jetzt anrufen? Merkwürdig, wirklich sehr merkwürdig!“ Sie tastete zum Türgriff, wollte aussteigen, um dem Vater nachzueilen.

Trattenburg zog ihre Hand sanft zurück. „Nicht die Nerven verlieren!' Wahrscheinlich kommt er sogleich wieder. Bitte, bleiben Sie!“

„Und wenn er wegfährt?“

Die Augen unverwandt auf die Garage gerichtet, sagte Trattenburg: „Sollte Ihr Vater wegfahren, dann könnten wir ja einmal indiskret sein.“

„Wie meinen Sie das?“

„Wir werden ihm einfach folgen. Einverstanden?“

„Ich kümmere mich sonst nie um die Angelegenheiten meines Vaters“, erklärte sie unschlüssig. „Aber unter diesen sonderbaren Umständen … Es wäre wohl das Beste. Man kann ja nicht wissen … Er war schon am Nachmittag so seltsam.“

In diesem Augenblick verließ eine große dunkle Limousine die Garage und fuhr in schnellem Tempo davon.

„Es ist Papa!“, rief Susanne.

Trattenburg drückte den Gashebel nieder. Sein kleiner flinker Wagen folgte den roten Schlusslichtern, die gerade hinter der nächsten Ecke verschwanden.

Nach wenigen Minuten überquerten sie den breiten Platz vor dem Hauptbahnhof. Dann ging es nordwärts weiter. Die Straßen wurden stiller, dunkler.

„Wir sind schon am Stadtrand“, stellte Trattenburg fest, Susanne schüttelte den Kopf. „Mein Gott, was hat Papa nur vor?“

„Hier geht es zur Autobahn.“

„Wir sollten umkehren. Sie können doch nicht …“

„Machen Sie sich um mich keine Sorgen“, unterbrach er sie lachend. „Es war ja meine Idee, Ihrem Herrn Papa nachzuspionieren. Aber wenn Sie nicht wollen …“

„Ich möchte schon …“ Sie presste die Hände an den Mund und flüsterte: „Es ist unbegreiflich, einfach unbegreiflich!“

Mit unverminderter Geschwindigkeit schossen die Lichter der Limousine auf eine Abzweigung zu, verschwanden für Sekunden, glühten im Dunkel der Nacht wieder auf.

„Fernstraße. Richtung Berlin“, murmelte Trattenburg und beschleunigte die Fahrt, denn die roten Punkte dort vorn drohten zu enteilen. „Ein tüchtiger Autofahrer, der Herr Professor. Alle Achtung!“

Susanne schaute auf das Tachometer. Es zeigte achtzig Stundenkilometer an. „Zwei Leidenschaften hat Papa“, sagte sie. „Die eine ist sein Beruf, die andere das Autofahren, sein Ausgleichssport. Ach, Sie kennen Papa nicht. Er ist einfach wundervoll. Alle lieben und schätzen ihn, seine Mitarbeiter, die Studenten, die Patienten. Als wir kürzlich seinen fünfzigsten Geburtstag feierten, wurde er mit Glückwünschen und Ehrungen nur so überschüttet. Trotz alledem bleibt er ein schlichter, wahrer Mensch und darin liegt letztlich gewiss das Geheimnis seines Erfolges. ,Ein guter Arzt zu sein‘, pflegt er seinen Studenten zu sagen, ,das erfordert mehr als ernstes Studium, nämlich bedingungslose Opferbereitschaft und tiefes Mitgefühl. Sind Sie dazu nicht fähig oder bereit, dann ersparen Sie sich und mir die Arbeit!' Das ist typisch Papa.“

Susanne hatte mit so viel Begeisterung gesprochen, dass ihre Wangen glühten. Trattenburg ergriff ihre Hand und drückte sie an die Lippen. „Sie sind genauso wundervoll wie Ihr Papa und noch dazu sein bester Anwalt.“

Sie errötete. „Oh, Papa braucht keinen Anwalt. Seine guten Taten sprechen für ihn.“

„Hoffentlich.“

„Bezweifeln Sie das?“, fragte sie verwundert.

„Die guten Taten gewiss nicht“, entgegnete er. „Aber könnte es nicht sein, dass Ihr Vater trotz seiner guten Taten – oder gerade deswegen – Feinde hat? Wahre Humanität wird von gewissen Kreisen nicht allzu hoch geschätzt und oft als unbequem empfunden.“

„Das ist wahr; aber Papa macht sich daraus gar nichts.“

„Um so besser! Sie auch nicht?“

„Niemals!“

„Ganz der Papa“, sagte Trattenburg lächelnd.

Die Wagen hatten die Dübener Heide hinter sich gelassen und rasten auf Wittenberg zu.

„Wenn die Reise noch ein Weilchen so weitergebt, dann können wir den versäumten Cocktail zum Abschluss dieses Abends in Berlin nachholen“, meinte Trattenburg.

„Wir wollen es aufgeben“, erwiderte sie nachdenklich. „Vielleicht hat Papa mir eine Nachricht hinterlassen. Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.“

„Angst?“

„Nein. Wovor sollte ich mich ängstigen?“

„Nun, vor diesem nächtlichen Abenteuer, dessen Ausgang nicht abzusehen ist – und vielleicht vor dem Alleinsein mit einem fremden Mann.“

„Mit Ihnen?“ Sie lachte. „So fremd sind Sie mir ja nicht mehr.“

 „Glauben Sie? Ach, Sie kennen die Männer schlecht.“

„Kennen Sie die Frauen besser?“

Jetzt musste er lachen, „Bitte, tun Sie mir nichts! Ich tue Ihnen auch nichts. Ein Vorschlag: Fürchten wir uns ein bisschen voreinander.“

„Einverstanden.“

„Sehr einsichtsvoll von Ihnen, Susanne.“

Sie schaute ihn kampflustig an. „Das war aber nicht ausgemacht!“

„Was meinen Sie?“

„Das mit dem Vornamen.“

„Es gehört unbedingt zu unserem Abkommen. Als wichtige Voraussetzung sozusagen.“

„Ach so!“

Er musterte sie schmunzelnd. „Schon etwas Angst?“

„Ja, ein bissel schon.“

„Ist es sehr unangenehm?“

„Eigentlich nicht.“

Vor die Lichtkegel der Scheinwerfer legten sich Nebelschleier. Das bleiche Band der Straße verlor sich in einem wogenden grauen Meer. Noch schimmerten die Lichter von Denzingers Wagen hindurch.

„Dort ist die Elbbrücke. Wir müssen Ihrem Vater jetzt dicht auf den Fersen bleiben, damit wir ihn in den Straßen von Wittenberg nicht verlieren.“

Der breite Strom glitzerte im Mondschein. Die Lichter der alten Lutherstadt tauchten aus dem Dunst hervor. Die Limousine bog in eine Seitenstraße ein.

Trattenburg bremste den Wagen. „Hat sich Ihr Vater nun verfahren oder will er gar nicht nach Berlin?“

„Verlieren wir keine Zeit!“, drängte Susanne.

Denzinger schien keinesfalls den Weg verfehlt zu haben, mit erstaunlicher Sicherheit strebte er einem bestimmten Ziel zu. ‘Wittenberg blieb zurück. Noch ein paar kleine nachtstille Ortschaften wurden passiert. Dann durchschnitt die Landstraße schnurgerade einen dichten Wald.

Trattenburg blendete die Scheinwerfer ab. In dieser einsamen Gegend wäre es Denzinger aufgefallen, dass ihm ein Wagen folgte.

„Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass er sich verirrt hat“, sagte Susanne und schüttelte sich fröstelnd. „Sehen Sie nur, er fährt ganz langsam und wird sicher gleich umkehren. Er darf mich nicht erkennen.“

Ohne ein Wort zu erwidern, behielt Trattenburg die Limousine im Auge. Plötzlich riss er das Lenkrad herum und brachte den Wagen vor einem Waldpfad zum Stehen. Denzinger hatte nämlich sein Auto angehalten und die Lichter gelöscht.

Susanne und Trattenburg stiegen aus, um das Fahrzeug zu beobachten, das sich in etwa zweihundert Meter Entfernung wie ein dunkler Fleck vom Rande der mondbeschienenen Straße abhob. Der Wind hatte zugenommen; er trieb zerfetztes Gewölk über den Himmel und beugte die Wipfel der knarrenden Bäume. Aus einem Nebenweg hallte das scharfe Tackern eines Motorrades.

„Gehen Sie in den Wagen, Susanne“, sagte Trattenburg, als er bemerkte, dass sic zitterte. „Sie werden sich erkälten.“

„Ich friere nicht.“

„Sofort steigen Sie ein!“

„Da! Papa geht zum Wald.“

„Kein Grund zur Aufregung. Vielleicht zwingt ihn eine kleine Panne zu kurzem Aufenthalt. Also bitte, hinein in den Wagen!“ Ungern folgte sie seiner energischen Aufforderung.

Einige Minuten vergingen. Denzinger erschien seltsamerweise nicht wieder.

„Ich werde einmal nachschauen, was da los ist.“ Trattenburg griff zu seinem Mantel.

„Dann komme ich mit“, erklärte Susanne.

„Sie bleiben im Wagen! Wollen Sie mit Ihren leichten Schuhen etwa durch den Wald stapfen?“

„Natürlich begleite ich Sie!“

„Nein, Sie bleiben! Ich werde sogleich zurückkommen, Warten Sie mal …“ Er lief zum Kofferraum, kramte hastig herum und reichte ihr dann einen schweren Schraubenschlüssel. „So, da haben Sie eine Waffe, wenn Sie das beruhigt“, sagte er lachend.

„Und der zweite Schraubenschlüssel?“

„Den nehme ich mit.“

„Um Gottes willen, wozu?“

„Nur eine kleine Vorsichtsmaßnahme. Man weiß ja nicht, was dort geschieht.“

„Aber mein Vater wird doch nicht …“

Trattenburg war schon zwischen den Bäumen verschwunden.

Lähmende Angst packte Susanne. Etwas Dunkles, Drohendes schien sich ihr aus den Tiefen des nächtlichen Waldes zu nähern, unentrinnbar und grauenhaft. Sie stellte das Radio ein, um sich abzulenken. Aber es half nichts. Mit bebender Hand schaltete sie den Apparat ab, und um sie war nur wieder das monotone Rauschen der Baumkronen.

 

Denzinger blieb keuchend stehen. Der Weg durch das dichte Unterholz war beschwerlich und es ging hügelauf, hügelab. Er hob den Kopf, lauschte. Das Geknatter des Motorrades war jäh verstummt. Hatte jemand seinen Wagen entdeckt? Das Geräusch war ja aber von der anderen Seite hergekommen, vom Dorf jenseits des Waldes.

Er drang weiter vor, doch immer wieder hielt er inne, blickte um sich, schien sich des Weges nicht recht sicher zu sein. Sobald der Mond hinter einer Wolke verschwand und seine milchigen Strahlenbänder zwischen den schwärzlichen Baumstämmen erloschen, benutzte Denzinger eine elektrische Stablampe, während er mit einem kurzen Spaten die Äste des verwucherten, dornigen Strauchwerks auseinanderschlug.

So gelangte er nach einigem Herumirren schließlich zu einer kleinen steinigen Schlucht. Sie war offensichtlich das Ziel seiner nächtlichen Wanderung. Er wischte sich schwer atmend den Schweiß von der Stirn, ließ sich aber keine Zeit, sondern suchte zwischen Geröll und Gebüsch umher. Ein größerer Stein erregte seine besondere Aufmerksamkeit. Er legte Spaten und Lampe beiseite, wälzte den Stein vom Platz. Seine Hände wurden von Lehm und schmierigem Grün beschmutzt. Er beachtete es nicht. In fieberhafter Eile griff er zum Spaten und begann zu graben.

Plötzlich verharrte er regungslos. War da nicht ein Stein gefallen? Es hatte sich angehört, als habe jemand einen unbedachten Schritt getan. Das Geräusch wiederholte sich jedoch nicht. Ganz still war es rundum. In der Nähe tropfte Wasser aus dem Gestein. Gleichmäßig fielen die Tropfen und klatschten in eine Pfütze. Denzinger schüttelte sich, ihn fror. Er grub weiter. Knirschend stieß der Spaten in das Erdreich.

Abermals unterbrach Denzinger die Arbeit. Das Blut brauste in den Ohren, und das Herz schlug ihm bis zum Halse. Lag es an der ungewohnten Anstrengung – oder an dem beklemmenden Gefühl, das ihn nicht mehr losließ? Er dachte wieder an das Motorrad. War jemand in seiner Nähe? Regte sich dort hinter den Bäumen nicht ein Schatten? Denzinger spürte jetzt in aller Deutlichkeit, dass ihn von irgendwoher ein starrer, zwingender Blick traf. Er ergriff die Lampe und wandte sich langsam um.

Ein Ast knackte. Denzinger hob die Hand mit dem Spaten, als erwarte er einen Angriff. Aber nichts geschah, gar nichts. Ein Käuzchen schrie klagend in lautlosem Flug und vom Dorf her mischte sich das Geheul eines Hundes in das sanfte Rauschen der Kiefern. Und dennoch war etwas da, was sich auf geheimnisvolle Weise verriet, wenn auch der atemlos Wartende es nicht sehen, hören oder sonst wie mit seinen Sinnen wahrnehmen konnte.

Eine große Wolke schob sich vor den Mond, es wurde stockfinster. Denzinger hielt die Lampe hoch. Ihr greller Lichtkreis wanderte von Baum zu Baum, glitt über den Boden, kroch eine Anhöhe hinauf und hinab, drang tiefer in die Schlucht ein, ohne etwas Ungewöhnliches zu erfassen. Aber während Denzingers Blick noch dem umherstreifenden Schein folgte, sagte ihm eine innere Stimme: Hinter dir ist es, genau hinter dir!