Impressum

Günther Krupkat

Bazillus phantastikus

Utopische Erzählungen

 

Die Erzählungen wurden folgenden Anthologien entnommen:

Der Mann vom Anti, Verlag Das Neue Berlin 1976 (Bazillus phantastikus oder Die Nixe mit dem Hackebeil, Der Mann vom Anti)

Das Raumschiff, Verlag Neues Leben, Berlin 1977 (Das Duell)

Das Molekular–Café, Verlag Das Neue Berlin 1969 (Insel der Angst)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

ISBN 978-3-96521-153-7 (E–Book)

 

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Bazillus phantastikus oder Die Nixe mit dem Hackebeil

Adam lebte im Wohnturm vier. Er war dort als Mitarbeiter der zentralen Filmothek beschäftigt. Obwohl noch jung – kaum dreißigjährig – gewiss nicht unintelligent und von angenehmem Äußeren, schien er weder Freunde noch Freundinnen zu haben. Stets ging er nachdenklich seiner Wege und mied Kontakte mit den anderen Bewohnern trotz der vielfältigen Gelegenheiten, die gerade das Leben im Wohnturm dazu bot.

Wohntürme begann man damals überall zu bauen. Der Platz auf Erden war kostbar geworden, nachdem die Erdbevölkerung die 10 Milliarden-Grenze überschritten hatte, und die Turmbauweise erlaubte es, dass auf einem Quadratkilometer zehnmal mehr Menschen besser, bequemer und gesünder leben konnten als in den alten Städten mit ihrer riesigen horizontalen Ausdehnung.

Wohnturm vier hatte eine Höhe von 1500 Metern und 500 Ringe oder, wie man früher sagte, Etagen. Mit jedem dieser Ringe verjüngte sich das Bauwerk nach oben um die Breite der kleinen Gärten, die allen Wohnungen vorgelagert waren, so dass es eher einer Stufenpyramide glich, wenn man es von weitem sah.

Im Innern des Turms lagen Produktionsstätten, Versorgungs- und Kultureinrichtungen, Schulen, Kliniken, kurz alles, was für eine Stadt vonnöten ist. Und niemand brauchte für seine täglichen Wege mehr als zehn Minuten Zeit.

Ich wohnte im selben Ring wie Adam. Oft sah ich ihn, wenn er mit dem Expresslift zur Arbeit fuhr, von der Arbeit kam oder im Ringrestaurant seine Mahlzeiten einnahm.

Eines Tages ergab es sich, dass ich im Restaurant gerade noch einen Platz an Adams Tisch fand. Von meinem Erscheinen nahm er kaum Notiz. Nur dem Braten, den ich bestellt hatte, galt ein flüchtiger Blick deutlichen Widerwillens. Er aß vegetarisch.

Möglich, dass er die Abneigung gegen das Fleischgericht auf meine Person übertrug, jedenfalls schien er nicht geneigt, sich in ein Gespräch mit mir einzulassen. Ob ich die gesunde Mittelgebirgslage unseres Wohnrings lobte, die ständigen Umleitungen im Rollbahnverkehr beklagte oder ein neues Stück des Theaters im 203. Stock verriss, stets blieb er zurückhaltend, einsilbig.

Erst als ich mich seiner Tätigkeit bei der Filmothek entsann und beiläufig bemerkte, dass ich für meine Arbeit ein paar Buchfilme benötige, die jedoch nirgends aufzutreiben seien, hob er den Kopf und blinzelte mich forschend an.

„Wozu brauchen Sie die Buchfilme?“, fragte er. „Es sind Berichte zum Fall Bellatrix.“

Ich sagte ihm, dass ich ein Buch über diesen Orionstern vorbereite und dazu eben die erwähnten Berichte einsehen möchte. Unverständlich war mir allerdings, warum er in diesem Zusammenhang recht geheimnisvoll von einem „Fall“ sprach.

„Sie wissen also, dass eine Erkundungsrakete vor Jahren zur Bellatrix gestartet wurde“, stellte er grübelnd fest. „Ihre Besatzung bestand aus Biomaten.“

„Freilich. Die Rakete kam aber nicht weit“, ergänzte ich. „Nach ein paar Lichtwochen geriet sie außer Kurs und gilt seitdem als verschollen.“

„Verschollen?“ Er lächelte wie einer, der es besser weiß. Einen Moment schien er unsicher, ob er weitersprechen oder schweigen soll. Schließlich neigte er sich zu mir herüber. „Ich werde Ihnen einen Tipp für Ihr Buch geben!“

Natürlich war ich ganz Ohr. Er rückte näher und flüsterte: „Die Rakete wurde von einem Raumschiff der Bellatrixer gekapert. Sie hatten sich unserem Sonnensystem genähert. Rein zufällig, auf der Durchreise. Plötzlich orteten sie einen Flugkörper. Mit Recht misstrauisch – wer vermutet schon in dieser galaktischen Einöde noch einen bewohnten Planeten? beschlossen sie, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und da haben sie eben unsere Rakete erst mal …“ Seine Hand strich einnehmend über den Tisch, „Sie waren dann auf der Erde und haben sich das Treiben hier angesehen. Niemand hat es bemerkt, denn sie sind von Gestalt ganz menschenähnlich. Bald aber verließen sie den irdischen Raum. Manches wird ihnen bei uns nicht zugesagt haben, verglichen mit ihrer eigenen Welt.“

Er lehnte sich zurück und blickte mich abwartend an.

„Steht das etwa in den Berichten?“, fragte ich ungläubig.

„Nein“, antwortete er kurz.

Machte er sich mit der ernstesten Miene über mich lustig? Schon hatte ich eine Antwort bereit, die ihm zeigen würde, dass ich mich nicht hinters Licht führen lasse, als ich bedachte, was ich von ihm wollte, nämlich die bewussten Buchfilme.

„Ihre Fantasie ist bewundernswert“, sagte ich deshalb nur.

Dass ich dabei zweideutig lächelte, entging ihm nicht. Hektische Röte färbte sein hageres Gesicht. Er entgegnete scharf: „Die Fantasie ist das dritte Auge des Menschen, es reicht bis in fernste Fernen. Wer weiß das schon? Die meisten sind blind auf diesem Auge. Völlig blind!“

Er sprang auf und ging mit kurzem, frostigem Gruß.

Verdutzt und erschrocken über seine Heftigkeit, sah ich ihm nach. Von den Buchfilmen war nun nicht mehr die Rede gewesen.

Ein paar Tage später aber brachte er mir die Filme. Erfreut bedankte ich mich für diese Aufmerksamkeit. Wir kamen wieder ins Gespräch. Er schien einen guten Tag zu haben, ich erfuhr mehr von ihm.

Wie ich vermutet hatte, gab es niemand, zu dem er in näherer Beziehung stand. Ich fragte ihn, warum er sich nicht ein wenig unter den Töchtern des Wohnturms umsehe, das sei doch für einen recht ansehnlichen jungen Mann ganz natürlich.

Er winkte nur ab und als ich mir die Bemerkung nicht verkneifen konnte, ob er etwa auf eine Sternenjungfrau warte, traf mich ein unwilliger Blick.

Nach getaner Arbeit und nach dem Abendessen zog er sich meist in sein Kleinappartement zurück, saß bei schönem Wetter im Garten, bis der gestirnte Himmel über ihm stand.

Nächtelang las er. Geschichten von kosmischen Abenteuern. Mit glänzenden Augen erzählte er mir von den gedankenschnellen Raumflotten der „Guten Hirne“, vom Stern der ewigen Schönheit, von der Supersphäre der intelligenten Kristalle und von jenem Unglücklichen, der wegen nicht getilgter Schuld als Fliegender Holländer des Alls ruhelos durch die Unendlichkeit schifft.

Vielleicht hatte ich zu alldem kaum merklich den Kopf geschüttelt. Er verstummte plötzlich und ließ mich stehen. So geschah es noch öfter, wenn wir uns trafen. Er duldete nicht den geringsten Zweifel an seiner imaginären Welt, die für ihn Wirklichkeit war.

Lange Zeit sah ich ihn dann nicht. Ich glaubte schon, er habe eine andere Beschäftigung gefunden und den Wohnturm verlassen, als er mir zufällig wieder begegnete.

Fast hätte ich ihn nicht erkannt. Er schien gänzlich verändert. Hatte er sich früher nachlässig gekleidet, so verriet sein Anzug jetzt peinliche Sorgfalt. Er war auch voller geworden, auf dem Gesicht zeigte sich keine Spur mehr von träumerischer Versunkenheit.

„He, Adam!“, rief ich ihn an. „Ich sah Sie ja eine Ewigkeit nicht. Sind Sie fortgezogen, oder waren Sie verreist?“

Wir schüttelten uns die Hand. Wie kraftvoll er zupackte!

„Ich wohne jetzt im 305. Ring“, sagte er. „Mein Appartement war zu klein geworden. Und die Kinder brauchen nun auch Platz.“

„Kinder? Gratuliere, Adam! Wie ist denn das passiert?“

Er lachte. „Wie’s eben passiert.“

Ich fand aus dem Staunen nicht heraus. „Dazu gehört doch eine Frau. Etwa eine von den … Bellatrixern?“

„Beinahe“, verriet er mit pfiffigem Blinzeln.

„Adam, Sie wissen, ich bin sehr neugierig. Und in Ihrem Fall ganz besonders.“

Nach kurzem Überlegen zog er mich mit sich. „Sie haben doch Zeit? Ich muss nur noch das Fleisch dem Servo geben“ – er wies auf ein Paket, das er unter dem Arm trug –, „sonst wird der Bursche damit bis zum Abendessen wieder nicht fertig.“

„Sie und Fleisch? Ich denke, Sie sind Vegetarier.“

„Völlig umgekrempelt, wie? Na, Sie werden ja hören.“

Wir fuhren zum 305. Ring.

Und dann hörte ich von Adam, wie seine Wandlung sich vollzogen hatte.

 

Eines Abends musste er im 137.Ring etwas erledigen. Hier war er noch nie gewesen. Auf dem Rückweg verfehlte er die Richtung zum Lift und verlief sich in abgelegene Gänge.

Plötzlich erblickte er einen Laden. Eine Fleischerei!

Kein Anreiz für ihn, den Pflanzenköstler. Wenn er trotzdem stehenblieb, dann wegen der Fleischermamsell hinter dem Ladentisch.

Es war ein junges Mädchen, so schön, wie er noch nie eines gesehen hatte. Unsagbar zart und graziös, einem Traumwesen gleich, bewegte sie sich fast schwerelos zwischen Kalbshaxen und Würsten. Ihr Antlitz umrahmte kupferfarbenes Haar. Es funkelte wie Sternenlicht in klaren Winternächten und legte sich um einen Marmorhals vom Schimmer des bleichen Neptuns. So sah es Adam.

Gewiss, das schreckliche Fleischerhandwerk musste Menschen überlassen bleiben, bedachte er. Roboter dürften es wohl nicht ausüben, es hätte ihnen die Achtung vor dem Lebenden genommen, sie sozusagen demoralisiert. Wie aber kam dieses Geschöpf dazu?

Einem unerklärlichen Zwange folgend, betrat er den Laden. Es waren nur wenige Leute darin. Er beachtete sie nicht, starrte das Mädchen an.

Als er schließlich an der Reihe war, sah sie zu ihm auf. Welche Augen! Meergrün, unergründlich und lockend. Oder bloß fragend, seinen Kaufwunsch erwartend? Nein, sie blickte wie eine … natürlich, wie eine Nixe! Es gab solche männerbetörenden Wesen, sie lebten irgendwo in der Tiefe des Alls, erinnerte sich Adam. Er hatte es gelesen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Sollte dieses Mädchen …?

Er zwang sich zur Ruhe und konnte doch nur stammeln: „Bitte, ein Stück von … dem da.“

Die Nixe nickte, griff zum Beil und hieb ein Kotelett herunter. Wie die blitzende Schneide in den Knochen fuhr, war es Adam, als spüre er einen heftigen Schlag im Genick.

„Darf’s etwas mehr sein?“, fragte sie, auf das Beil gestützt.

Er vernahm nur verführerischen Gesang aus weiter Ferne, unwiderstehlichen Nixengesang.

Geduldig wartete sie, bis er aus dem Meergrün wieder aufgetaucht war. Zustimmend senkte er den Kopf. Das Päckchen mit dem schauderhaften Inhalt in der Hand, verließ er benommen den Laden.

In seiner Wohnung dachte er über das Erlebnis nach. Nixe mit einem Hackebeil – unfassbar, unmöglich! War alles Halluzination gewesen, das Mädchen, der Laden? Aber nein, da lag das Päckchen.