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Jan Flieger

Neuntöter

 

ISBN 978-3-96521-138-4 (E–Book)

 

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1987 beim Verlag Das Neue Berlin als Heft 259 der Blaulicht-Reihe

 

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Neuntöter

Morgen wird er es tun!

Reglos steht er im Schutz der dichten Büsche, starrt mit brennenden Augen zu den Mädchen. Sie sind wieder da, alle drei! Auch gestern, am Montag, sind sie an diesem kleinen Tümpel im Wald gewesen, und wie gestern bleibt die eine, die so hell lacht, nachmittags allein zurück.

Nackt liegt sie auf einer Decke, mal auf dem Rücken, mal auf dem Bauch, sonnt sich, liest, und ihr kleines Radio spielt. Ihr blondes Haar trägt sie hochgesteckt. Sie ist sehr zierlich, aber, doch wohl schon sechzehn. Ab und zu bespritzt sie sich mit dem Wasser des Tümpels,

Er weiß nicht, woher sie kommt, wer sie ist, aber das interessiert ihn auch nicht. Wichtig ist nur, dass sie da ist, allein und weitab von den Wegen, die durch den Wald führen, der am Rand der kleinen Stadt, an ihrer Südseite, beginnt.

Sein Blick gleitet über ihre Figur, ihre kleinen runden Brüste, und seine Erregung nimmt zu, sein Verlangen, sich auf sie zu werfen, ihren Körper unter sich zu spüren, um das zu tun, wovon er beinahe jede Nacht träumt.

Aber er muss sich beherrschen; die Nachbarn wissen, er ist in den Wald gegangen, und er hätte dann kein Alibi.

Morgen wird es geschehen, an dem letzten Tag, an dem er noch krankgeschrieben ist. Alles ist vorbereitet: Die neuen Sachen, Schuhe, Hemd und Hose, in der anderen Stadt gekauft, hat er nachts im Wald vergraben, ebenso die Schlinge, den Strick, das Messer, den Knebel. Im Gras verborgen liegt der Spaten.

Doch wenn sie nicht kommt?

Ruhig, denkt er, bleib ruhig, so wie dich alle kennen, in deiner Straße, in der Brigade. Niemand traut dir zu, was du planst. Das wird dein Schutz sein.

Und die Nachbarn geben dir ein Alibi.

Ja, morgen wirst du es tun. Genau um vierzehn Uhr verlässt du das Haus, ohne dass dich jemand sieht. Du schaltest das Radio an in deinem Zimmer, verschließt die Tür von innen, wie immer, wenn du ungestört sein willst. Durch das Fenster auf der Rückseite des Hauses gelangst du auf das Dach der Veranda, von dort in den Garten, und im Schutz der Böschung des Baches in den Wald.

Für die Nachbarn und die Tante bist du in deinem Zimmer und hörst Musik.

Du holst die Sachen aus dem Erdloch, wechselst Hemd und Hose und Schuhe, nimmst den Knebel, die Schlinge, den Strick, das Messer und schleichst zu dem Tümpel. Ehe sie aufschreien kann, hast du sie schon überwältigt.

Seine Erregung wird so stark, dass er nicht spürt, wie er die Fingernägel in die Handflächen gräbt.

Sollen sie ihn ruhig für dumm halten. Er ist klüger als sie alle!

Er läuft quer durch den Wald zur Stadt zurück, betritt das Haus der Tante – nicht durch den Hintereingang, sondern, für jedermann sichtbar, von vorn. Das gehört zu seinem Plan.

Er liegt im Dunkeln, findet keinen Schlaf. Seine Brust hebt und senkt sich heftig. Er hat erneut diese demütigenden Bilder vor Augen, die ihn nicht schlafen lassen: Er sieht sich in der Disco stehen, im dröhnenden Lärm. Er schaut den Tanzenden zu. Wieder und wieder hat er einen Korb bekommen. Die Mädchen stecken die Köpfe zusammen. Sie reden über ihn, kichern.

Er ist nicht der Typ, auf den Mädchen fliegen, das weiß er längst. Er ist ihnen zu klein, und sein Gesicht gefällt ihnen auch nicht, zumal er eine Brille trägt. Sie wollen ihn nicht. An jedem Discoabend macht er diese Erfahrung.

Er hasst sie dafür, und er stellt sich vor, Abend für Abend, wenn er in der Dunkelheit stundenlang wach liegt, eines dieser verdammten kichernden Mädchen so in seiner Gewalt zu haben wie die Katze, die er – damals in den Ferien bei Onkel Hans – in der Schlinge gefangen hatte.

So etwa müsste es sein ...

Die Katze hing, zappelnd und kreischend, an einer Pfote in der Luft. Und er schlug zu mit dem Stock, immer wieder. Er musste sie strafen! Strafen dafür, dass sie Vögel fing, die Meisen, die er so gerne fütterte.

Dieses fremde Mädchen am Tümpel im Wald wird das erste sein, das er bestraft, und noch vor seinem neunzehnten Geburtstag.

 

Er wirft sich herum im Bett; das Begehren wird übermächtig, die Qual unerfüllter Wünsche.

Wie viele Küsse, Umarmungen, Zärtlichkeiten ..., alles nur Träume. In der Wirklichkeit – nichts von all dem, nur Spott. Erst gehänselt von den Jungen seiner Klasse, dann von den Arbeitskollegen. Warum gelingt es den anderen, eine Freundin zu gewinnen, warum nicht ihm? Sobald er einem Mädchen gegenübersteht, schlägt er die Augen nieder, findet keine Worte, beginnt zu stottern, schweigt.

Die Sehnsucht aber bleibt, die Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach dem Körper einer Frau, ihren Küssen.