Impressum

Manfred Kubowsky

Hellblaue Blitze vor rotem Himmel

Briefroman aus der Zeit der Schlacht um Moskau (1941)

 

ISBN 978-3-95655-996-9 (Buch)

ISBN 978-3-95655-997-6 (E-Book)

 

Layout und Umschlaggestaltung: Manfred Kubowsky, Weimar

 

© 2019 EDITION digital

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1 Die Briefe. Ein Prolog

Sie wären fast vermodert, zusammen mit dem uniformierten, leblosen Körper des Soldaten. Nicht mehr liebevoll ans Herz gedrückt, sondern verfault, zerfallen in der blutgetränkten Erde vor Moskau.

Sicher hatte der tote Soldat die Rufe des deutschen Exil-Schriftstellers nicht gehört, der von der sowjetischen Seite aus mittels eines Megafons die Deutschen aufforderte, den sinnlosen Kampf zu beenden

Nun kniet der Autor vor ihm …

Er nimmt dem toten Gefreiten die Erkennungsmarke ab.

Der Soldat hat nichts dagegen …

Sanft zieht er dann die Hand aus dem Innern der Uniformjacke.

Die starre Hand umklammert ein Päckchen kleiner, hellblauer Feldpostbriefe.

Der Autor entnimmt die Briefe der starren Hand, ganz sachte, sanft, aber mit notwendiger Kraft. Der tote Soldat hat nichts dagegen …

Feldpostbriefe:

An den Gefreiten

Hans Treskatis

07862 D

Feldpost, keine normale Post. Das hat nichts mit dem Feld zu tun, das der Bauer bestellt. Hier geht es um das Feld der sogenannten Ehre.. .es ist das Feld, auf dem nur einer Ernte hält: der Tod.

Der tote deutsche Soldat wird begraben werden, irgendwie, man hofft es.

Der deutsche Schriftsteller in Filzstiefeln und wattiertem weißem Mantel schaut kurz in den ersten Brief.

Der tote Soldat hat auch dagegen nichts …

 

Geheimnisse. Süße Geheimnisse. Liebesbriefe, Sorgenbriefe aus Berlin. Die Briefe der fleißigen Schreiberin vom Pariser Platz.

 

Im Augenblick des Todes hatte Hans in die Uniformjacke gegriffen, die Briefe umklammert, vielleicht mit einem letzten hoffnungsvollen, sinnlosen Gedanken:

Eli, du und deine süßen, lieben Briefe, lasst mich nicht sterben für diesen Wahnsinn, lasst mich leben für euch, für dich, bitte …

Der Autor mit dem weißen Mantel konnte Hans und seine Kameraden nicht retten.

Aber er rettet die Briefe.

Verlässt das „Feld der Ehre“.

Verwahrt sie sorgfältig unter seinem Mantel. Nimmt sie mit nach Moskau.

 

Feldpostbriefe.

Hellblaues Schreibpapier und ebensolche Umschläge in kleinem Format, kauften die Lieben in der Heimat in den Schreibwarengeschäften. Konnten die Briefe portofrei an die Front schicken. Portofrei! Welch ein Vorzug! Nur leider wurden die meisten dieser portofreien Briefe zerfetzt oder verbrannt mit ihren Empfängern. Die an Hans Treskatis geschriebenen blieben erhalten.

2015, siebzig Jahre nach Kriegsende, als ich dieses Buch schrieb, sahen die Briefe noch wie neu aus. Auch heute, fast achtzig Jahre seit dem Beginn des 2. Weltkrieges, liegen die Briefe vor mir wie gerade geschrieben: saubere Blätter, eng bedeckt mit der klaren, steilen Handschrift der Elisabeth Hoernemann, der jungen Pianistin, die in Berlin am Pariser Platz wohnte, ziemlich nahe an Reichskanzlei und Führerbunker …

 

Hitler hatte eine Woche vor Beginn des Moskau-Feldzuges zu seinen Generälen gesagt:

Was ich von Ihnen verlange, ist nur eins: die Tür mit einem kräftigen Stoß einzutreten. Das Haus fällt dann ganz von allein zusammen!

 

So begann der Blitzkrieg.

Es ging tatsächlich alles recht schnell.

Stalin zog sich zurück. Sammelte Kräfte. Entwickelte Strategien. Nach einem halben Jahr hatte Hitler die Blitzkriegsschlacht verloren. Das Haus war nicht zusammengefallen. Die Deutschen zurückgeworfen. Zurückgelassen auf der blutgetränkten Erde: unzählige Gefallene, deutsche Soldaten, von Kugeln durchsiebt, von Granaten zerfetzt, von Panzern zermalmt, in Schnee und Eis begraben; manchmal ragten Teile von den Gefallenen heraus aus dem Eis, ein Arm, ein Fuß, bis „General Winter“ sie mit neuem, barmherzigen Schneefall bedeckte.

 

Der deutsche Schriftsteller Willi Bredel, gebürtiger Hamburger, ehemaliger Häftling im KZ Hamburg-Fuhlsbüttel, Pazifist, Emigrant, Frontagitator gegen den Krieg, rettet Elisabeths Briefe aus der Hand des toten Gefreiten …

Wieder in Moskau, liest er sie, ist erschüttert: Zweiundzwanzig Briefe, eng beschrieben, zwischen Juli und Oktober gesendet an ihren geliebten Hans an der Ostfront.

 

Die junge Berlinerin bangt um ihren Geliebten, spricht ihm Mut zu, ist überzeugt, sie werde ihn wiedersehen, ihn gesund in die Arme schließen; all das Schreckliche wird Vergangenheit sein und vergessen, auch jene furchtbaren Ereignisse in Berlin …

Ja, vom ersten bis zum letzten Brief schreibt sie nicht nur von ihrer Liebe und von einfachen Dingen des Tages, nicht nur von ihrer Angst und Sorge um ihren Liebsten; sie schreibt auch zunehmend offener über Dinge, die sie hier im „friedlichen Berlin“ erlebt: von Rationierung der Lebensmittel, von der Diskriminierung von Juden, der Häufung von Todesanzeigen in den Zeitungen, schreibt von Bekannten, die plötzlich einfach verschwunden sind, von beginnenden Bombenangriffen und angstvollem Ausharren in Luftschutzkellern …

Manchmal schreibt sie so offen in ihrer gewachsenen Verzweiflung, dass man sich wundert, dass die Briefe die Zensur passierten …

 

Nach der Kapitulation Nazideutschlands im Mai 1945 kehrt der Schriftsteller Willi Bredel zurück in die Heimat; er kommt über Rostock nach Mecklenburg-Vorpommern, mit ihm die Briefe.

 

Er gründet in Schwerin zusammen mit dem Pfarrer Karl Kleinschmidt und dem Grafiker Herbert Bartolomäus und anderen antifaschistischen Kulturschaffenden den „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“. In den folgenden Jahren sind seine Tage durch unglaubliche Arbeitsfülle gekennzeichnet; die Briefe geraten zunächst in Vergessenheit. Doch um 1950 herum recherchiert er intensiv, um eventuell Elisabeth und ihre Angehörigen zu finden, vergeblich.

 

Bredel geht später nach Berlin, wird Präsident der Akademie der Künste der DDR, gerät zunehmend in Widerspruch zur Doktrin der Ulbricht-Partei, regt sich oft sehr auf über Engstirnigkeit und Intoleranz auf, erleidet 1964 mit nur 62 Jahren einen tödlichen Herzinfarkt.

Seine schwedische Ehefrau May, nun Witwe, lebt jetzt allein in der großen Wohnung in der Berliner Ifflandstraße, umgeben von Bredels riesiger Bibliothek, in der irgendwo Elisabeths Briefe schlummern.

 

Fast dreißig Jahre später.

May ist in einem Pflegeheim, die Tochter muss die Wohnung auflösen. Ich werde gebeten, Bredels Bibliothek zu katalogisieren und nach Schwerin, der langjährigen Wirkungsstätte des Autors, zu schaffen. Am letzten Tage meiner Berliner Arbeit halte ich die Feldpostbriefe in der Hand. Ich frage die Tochter: Was soll damit geschehen?

Nimm sie an dich,

meint sie,

der Vater wollte etwas draus machen, ist nicht dazu gekommen; vielleicht gelingt es dir …!

 

Ich nehme die Briefe nach Schwerin mit. Lese sie, bin erschüttert. Lege sie weg. Andere, immer neue Aufgaben bewegen mich, unter anderem meine Arbeit im Kulturbund in Mecklenburg, dem ich später einige Jahre als Präsident vorstehe, bis zum Jahre 1990 …

Wieder vergeht viel Zeit, 25 Jahre!

Wieder mahnen, erinnern mich die Briefe, sie irgendwie zu veröffentlichen, doch erst 2015, nachdem meine Frau mich nach schwerer Krankheit verlassen hatte, nahm ich sie wieder zu Hand.

Ist es die Verzweiflung über den Verlust, ist es das wieder erwachte Trauma aus der zerbombten Berliner Kindheit, was mich nun treibt? Vielleicht auch das Wissen und Erleben, dass immer noch Gewalt und schreckliche Kriege diese Welt erschüttern?

 

Die steile Handschrift der Elisabeth Hoernemann muss in den Computer übertragen werden. So erfasse ich erneut die ganze Tragik zweier Liebender inmitten eines verbrecherischen Krieges. Die literarische Nachempfindung der Geschehnisse an der Moskauer Front ergibt sich fast wie von selbst.

Liebe, Hass, Angst, Verbrechen, Hoffnung, Glauben und Irrglauben; und doch immer wieder Hoffnung durch die Liebe …

 

Inzwischen sind 77 Jahre vergangen, seit die Briefe der eisstarren Hand eines toten deutschen Soldaten vor Moskau entnommen wurden.

Und in diesem Jahre, am 1. September, wird es 80 Jahre her sein, seit der Verbrecher Hitler den schlimmsten Krieg begann, den die Welt bisher gesehen hat.

So bin ich wieder erschüttert.

Bin auch froh, darüber geschrieben zu haben. Glaube, dass das Buch seine Leser finden wird. Hoffe auch, dass so etwas nie mehr geschieht, dass überhaupt alle Kriege aufhören.

 

Aber wer weiß das schon?

 

Februar 2019

2 Der Zug

Das laute Treiben seiner Abteilkameraden hatte ihn nicht aus seiner grüblerischen Versenkung reißen können. Er war vielmehr in eine Art Trancezustand verfallen, der ihn weder Hunger noch Durst noch die harten Stöße spüren ließ, die von den Schienenabsätzen herrührten, welche sich über die schlechte Federung des 3.-Klasse-Waggons bis in das Rückgrat fortsetzten. Wurde er angesprochen, so winkte er nur mit einer apathischen Handbewegung ab, und nachdem dies das dritte oder vierte Mal geschehen war, ließ man ihn in Ruhe.

 

Hans Treskatis war in Gedanken bei Elchen. Immerzu dachte er ihren Namen, den kein Fremder hätte verstehen können, denn sie war ja nur als Elisabeth bekannt. Wie vieles, so war auch dieser seltsame Name ihrer beider absolutes Geheimnis.

Blicklos sah er auf die vorbeiziehenden Felder und Wälder, er nahm nichts von dem wahr, was jetzt um ihn war, vielmehr drängte sich einzig Elchens Bild vor seine Augen, wie sie auf dem Schlesischen Bahnhof am Vormittag ein letztes Mal in seinen Armen gehangen hatte, schlaff, zitternd, wie zerrüttet von ihren Ängsten. Sah sie immer noch, wie sie mit dem anfahrenden Zug mitlief, schwankend, versuchend, immer schneller zu laufen, dass ihn Angst überkroch, es könnte zu einem Unfall kommen; die Arme hatte sie erhoben, die Hände zu ihm gestreckt, wie wenn sie ihn gewaltsam und im letzten Augenblick noch aus dem Zuge reißen wollte.

Hans, Geliebter, komm, komm heraus, herunter zu mir, ich will nicht, dass du getrennt bist von mir …

 

Mit jeder Sekunde, mit der stetigen Beschleunigung des Zuges, dem immer hastiger werdenden Zischen und Schnaufen der Lok wurde die Trennung größer, immer größer – Schreibe mir,

rief sie ihm mit letzter Kraft zu, schreibe, so schnell du kannst, schreibe, schreibe …

Hörst du, Liebster, um Himmels Willen, schreibe mir bloß gleich, schreibe mir, ja, hörst du!?

Dann war Hans für sie nicht mehr da, wie sie für ihn plötzlich, nach einer Kurve, in Dampf und Rauch verschwunden war …

Sie ahnte nicht, dass die Trennung endgültig war.

 

In Fürstenwalde hielt der Zug das erste Mal. Aus den Bahnhofslautsprechern schnarrte die Information, dass der Zug hier mindestens eine halbe Stunde Aufenthalt haben würde.

Es war um die Mittagszeit, die Zeiger der Bahnhofsuhren zeigten viertel nach zwölf, und, wie es sich am Morgen in Berlin schon angedeutet hatte, war der Tag wieder heiß geworden, die Sonne brannte ihr Feuer auf die Dächer der Waggons, auf die Soldaten, die Hitze erzeugte unangenehme Gerüche von Uniformtuch und Metall, von Schweiß und Stiefelleder. Das Sonnenfeuer trieb sie, wie ein späteres, noch schlimmeres Feuer, in die Deckung des Bahnhofes, in den Schatten, wo man im Kühlen rauchen und eine Flasche Schultheiß-Bier an dem Kiosk kaufen konnte. Hans begnügte sich mit Selterswasser. Er lehnte sich an das kühle Klinkergemäuer des Aufsichtshäuschens, durch dessen offenes Fenster Radiostimmen hinausdrangen.

Der Kommentator erinnerte ihn daran, dass heute der 7. August 1941 war. Eine Woche war seit Elchens zweiundzwanzigstem Geburtstag vergangen. Er hatte von seiner Ausbildungseinheit südlich von Berlin Ausgang erhalten und musste erst am nächsten Tage um zehn Uhr wieder in der Kaserne sein. So waren Elchen und er am frühen Abend zunächst zu Kempinski gegangen, er hatte sie eingeladen, denn er wusste, wie gern sie es hatte, wenn sie hin und wieder an seinem Arm als Dame ausgehen konnte, sie genoss es, wenn man ihnen nachschaute, bemerkte die Neugier der anderen aus den Augenwinkeln, lächelte vergnügt vor sich hin, ließ sich, zierlich und dennoch aufrecht am fein gedeckten Tisch sitzend, von dem sehr zuvorkommenden, sehr vornehmen Ober bedienen und mit Gnädige Frau anreden. Hans spöttelte manchmal ein wenig über sie, aber es gefiel ihm auch, dass sie sich in Gesellschaft bewegen konnte, dass sie bei anderen Menschen Eindruck hinterließ.

Natürlich hatten sie, es war sehr teuer bei Kempinski, ihre gastronomischen Wünsche etwas eingeschränkt. Hans konnte sich nicht mit den befrackten Herren der Hochfinanz, der Geschäftswelt, mit den herausgeputzten Offizieren vergleichen, die hier regelmäßig verkehrten. Und Elchen war nun mal auch nur eine kleine, angehende Pianistin und keine von den Divas, die man hier antreffen konnte.

Später hatten sie es sich in Elchens kleiner Wohnung am Pariser Platz, gleich nahe dem Brandenburger Tor, gemütlich gemacht, und gegen acht waren Thomas und Sybille noch gekommen, vier, oder waren es fünf Flaschen Champagner?, hatten sie leer gemacht, Sybille und Elchen waren von einem reizenden Schwips befallen, Hans flirtete mit beiden, aber schließlich waren die beiden gegangen und er hielt Elchen in seinen Armen, und sie versanken ineinander und hatten überhaupt nicht daran gedacht, das Geschirr und die leeren Flaschen im Wohnzimmer fortzuräumen. Ihre Liebe war tief und grenzenlos und voller jugendlicher Leidenschaft, und es gab keinen Krieg und keine Kaserne und keinen Führer für sie in diesen Augenblicken …

 

Der 7. August. Nun stand er hier in seinem Feldgrau und dem umfänglichen Marschgepäck, wie verloren, wie vergessen, und harrte der kommenden Dinge. Ob der Krieg gegen Russland so schnell vorbeigehen würde wie der Polenfeldzug?

Die Zeitungen und Radiosender propagierten den Blitzkrieg der Deutschen Wehrmacht.

Ja, der Krieg wird blitzschnell beendet sein. Ja, er wird nach kurzer Zeit, vielleicht nach zwei, drei Wochen wieder bei Elchen am Pariser Platz sein. Nein, Elchen muss sich nicht sorgen. Ihm wird nichts, gar nichts passieren. Vielleicht vergehen noch nicht einmal drei Wochen bis zu seiner glücklichen Heimkehr.

 

So waren die Gedanken von Hans Treskatis. Und der Völkische Beobachter hatte doch schließlich umfangreich berichtet von der wichtigen Besprechung, die der Führer am 4. August in Borissow, nördlich von Minsk, mit den Oberbefehlshabern der Armeen der Heeresgruppe Mitte abgehalten hatte.

In kürzester Frist wolle er in Moskau sein, das hatte der Führer verkündet. Der bisherige Verlauf des Feldzuges bestätigte doch, dass der Führer recht hatte. Minsk war ja schon beim schnellen Vorstoß der deutschen Armeen am 28. Juni gefallen, die geballten Panzerkräfte, unterstützt von der Luftwaffe, hatten die schwachen Widerstände kurzerhand gebrochen. Auf die Worte und Vorhersagen des Führers war Verlass. Die Russen waren gelaufen, gelaufen … und wie sie gelaufen waren!

 

Hans Treskatis überlegte, wie er Moskau erleben würde. Niemals hatte er erwartet, einmal in Moskau zu sein. Immerhin, Moskau, die Hauptstadt des Bolschewismus, der Kreml, Stalin würde wohl Reißaus nehmen und sich hinterm Ural in den Wäldern vergraben.

 

Aber besser als der Gedanke an Moskau gefiel ihm die Überlegung, dass er, wenn alles gut ginge, doch schon bald wieder bei Elchen in Berlin sein könnte, in den gemütlichen Zimmern am Pariser Platz, mit dem Blick zum Brandenburger Tor, bis hin zur Siegessäule. So gesehen ist ein kleiner Blitzkrieg ja gar nicht so schlecht, dachte er …

Er würde ehrenvoll heimkehren, bejubelt mit den anderen …; er würde stolz die Auszeichnungen an seiner Uniform zeigen …

 

Die knarrige Lautsprecherstimme forderte die Mannschaften auf, wieder die Waggons zu besteigen. Wenig später ratterte der Zug gegen Frankfurt, hier gab es keinen Aufenthalt, die Oder, der breite, in der Nachmittagssonne glänzende Strom wurde überquert, Stunden fuhren sie, gegen Osten, Bahnhöfe mit polnischen Ortsnamen tauchen auf, die zum Teil auch durch deutsche Bezeichnungen ersetzt worden waren.

Der Feldwebel seiner Einheit forderte sie auf, im Verpflegungswaggon Abendessen zu fassen. Hans ließ sich von den anderen mitziehen, wurde sogar ein wenig gesprächig, verzehrte schließlich im Abteil das schwarze Brot, die hart gekochten Eier und ein Stück Käse, trank Selters, später die Hälfte des Flachmannes mit dem Kognak. Der Zug raste nun durch die Tiefe polnischer Wälder, und die Monotonie der Achsenstöße und der Kognak ließen Müdigkeit über Hans kommen. Elchen, – wieder kreisten seine Gedanken um sie. Und dann: Blitzkrieg. Wieder heimwärts. Elchen …

Mit Hitler, den Nazis, der NSDAP hatte Hans eigentlich gar nichts im Sinn, grob das Ganze, eklig, bombastisch, dieses Säbelrasseln, diese plumpen Parolen. Aber, das waren seine geheimen Gedanken, seine sehr geheimen. Was sollte er machen? Er war doch ein Deutscher, Hitler nun einmal Reichskanzler und Führer. Führer, Führerschaft, Gefolgschaft, das alles war seine Welt, sein Wesen nicht. Kein deutsches Wesen, der Hans Treskatis, der Herr Ingenieur Treskatis. Kein Nazifreund, beileibe nicht.

 

Aber, ich bin Deutscher, dachte Hans, und ein Deutscher, das ist was ganz Besonderes, ja …

aber nein, Nazi war er nicht, eben nur Deutscher, und er wird dem Führer zu Ehren dienen, dem Führer, der ja nicht wissen muss, dass er die Nazis nicht mag.

Aber, das war geheim, das durfte keiner wissen, nur Elchen wusste es, und auf Elchen konnte er sich verlassen.

Krieg an sich war ihm auch zuwider. Wozu musste es überhaupt Krieg geben? Er hasste diese feldgraue Uniform, die Gerätschaften, den Karabiner, das Schießen. Ob er jemals jemanden würde erschießen können? Er wusste, es gab Befehle.

 

Nacht war es geworden. Der Zug raste durch das Land. Schwiebusch hatte die letzte Station geheißen. Nun ging es wohl auf Posen zu, das die Polen Poznan nannten. Polen war nun deutsch. Blitzkrieg. Moskau.

Krieg war etwas Scheußliches. Nichts für Hans. Wenn es nur wirklich ein Blitzkrieg werden würde. Nach Hause.

Die Waggons ratterten über polnische Gleise, polterten über Weichen und Schienenkreuzungen, und zuweilen klang es in den Ohren von Hans Treskatis schon wie Maschinengewehrfeuer, und er wusste nicht, ging das Feuer von ihm aus, traf er

die anderen, die Feinde, oder wurde er getroffen, warf ihn ein harter Schlag vor die Brust plötzlich um, aber es waren wiederum mehrere Weichen gewesen, und es war Nacht, und der Krieg, der da draußen getobt hatte, er war nicht zu sehen. Aber Hans fuhr in den Krieg.

Blitzschnell in den Blitzkrieg.

Elchen –

da waren wieder schlimme Gedanken, schmerzliche Gedanken an die Trennung, Waggongeratter und Kognak halfen ein wenig, erlösten ihn für kurze Zeit, aber mit jeder Sekunde, mit jeder Minute Zugfahrt würde er immer weiter von ihr entfernt sein, unerreichbar war sie schon …  Elchen.

Dann war er in seiner Abteilecke eingeschlafen.