Impressum

Erika und Jürgen Borchardt

Erde, Blut und Rote Rüben

Petermännchen als Prophet – Weissagung und Wirklichkeit

Die schönsten Sagen vom Schweriner Schlossgeist Petermännchen, Teil 2

 

ISBN 978-3-95655-888-7 (E–Book)

ISBN 978-3-95655-887-0 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung einer alten Ansichtskarte aus der Sammlung Bendlin

Illustrationen/Fotos: Historische Ansichtskarten aus der Sammlung von Andreas Bendlin, Bild Plenarsaal: Landtag M-V/Jens Büttner

 

© 2018 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

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Zu diesem Buch

Die Geschichten sind erstmals veröffentlichte historische Sagen-Geschichten. Petermännchen agiert in ihnen als Prophet, als Seher und Warner. Durch verschiedenfarbige Kleidung und wundersame Erscheinungen kündigt er dramatische Ereignisse an, vor allem im Leben der großherzoglichen Familie von Mecklenburg-Schwerin. Aber nicht allein dort.

Nach dem seltsamen Erscheinen des Schlossgeistes weiß niemand, was geschehen wird, wann und wem es geschieht. In einer der Geschichten lesen wir von einer Art der Weissagung, die so fremdartig und rätselhaft ist wie die berühmten Orakel der griechischen Antike. Wovor der Schlossgeist warnen wollte, erkennen die Menschen immer erst, wenn das Ereignis eingetreten ist.

Worin begründet sich Petermännchens prophetische Fähigkeit? Der Volkskundler Richard Wossidlo (1859 – 1939) und der Museologe Walter Josephi (1874 – 1945) meinten, es gäbe einen Zusammenhang der Sagen vom Petermännchen mit der Mythologie des slawischen Stammes der Obotriten, die seit dem 6. Jahrhundert in Westmecklenburg siedelten. Ursprünglich wäre der Schlossgeist eine (Licht)Gottheit dieses Stammes gewesen. Es gibt Auffassungen, die diesen Gedanken ignorieren oder ganz von der Hand weisen. Die Frage bedarf noch weiterer Untersuchung. Warum auch immer, in den vielen und ganz verschiedenartigen Sagen vom Schweriner Schlossgeist ist Petermännchen nicht allein ein Schalk, ein lohnender oder strafender Geist, sondern eben auch ein Prophet.

Die vorliegenden Geschichten sind eine Mischung aus Sage und historischer Realität. Aus den kurzen schriftlich vorliegenden Volksüberlieferungen ist lediglich das geheimnisvolle prophetische Auftreten des Schlossgeistes bekannt. Was dem rätselhaften Erscheinen dann in den Geschichten folgt, basiert auf Recherchen der Autoren über das historische Geschehen. Bei relativ eindeutigen „Vorhersagen“, etwa wenn Petermännchen in schwarzer oder roter Kleidung auftritt – Tod oder Krieg bzw. Feuer bedeutend, haben die Autoren das zeitlich naheliegendste dramatische reale Ereignis im Leben der Fürstenfamilie bzw. der handelnden Personen als Inhalt der Prophezeiung gewählt. Die Geschichten selbst und in der Wirklichkeit nicht nachweisbare Personen sind frei erfunden. Episch und dramatisch sind sie, nachdenklich und widerhakig.

Blut im Rinnstein (1870/71)

Erzählung über ein Menschenschicksal

Sagenort: Schwerin – altes Schloss (vor 1843), Alter Garten mit Siegessäule, Museumsgebäude

Bild

Das alte Schloss vor dem Umbau, der 1843 begann

Dies ist eine lange Geschichte.

Vor mehr als zweihundert Jahren nahm sie ihren Anfang, in einem kleinen Dorf nahe Schwerin.

„Marie“, fragte der Vater an einem Sonntagmorgen seine Tochter, „hast du deine Sachen bereitgelegt? Wir wollen gleich nach dem Frühstück los. Tante Liese hat es nicht gern, wenn wir erst zur Mittagszeit ankommen.“ Marie nickte nur. Natürlich hatte sie schon längst ihr Bündel gepackt. Viel war es ohnehin nicht, was sie mitnehmen wollte.

Sie war sehr aufgeregt. Die Eltern hatten seit dem Osterfest schon öfter mit dem Mädchen gesprochen. Sie müsste sich nun bald einen Dienst suchen. Tante Liese in Schwerin würde ihr behilflich sein, dort eine passende Stelle zu finden. Endlich waren sie mit dem Frühstück fertig und erhoben sich. Die Mutter umarmte ihre Tochter mit feuchten Augen. „Benimm dich anständig und mach mir keine Schande. Pass auf dich auf. Schwerin ist kein Dorf. Da ist schon so manches passiert.“ „Mutter, ich bin vierzehn!“ Der Vater sagte tröstend, während er sich seine gute braune Joppe anzog: „Tante Liese wird sich schon um das Kind kümmern. Und Schwerin ist nicht aus der Welt, kein halber Tag von hier.“ Noch einmal drückte die Mutter ihre Tochter. Marie nahm ihre Tränen beim Abschied gar nicht richtig wahr.

 

Marie war neugierig auf die große Stadt. Unvorstellbar, Tausende Menschen sollten da leben. Tausende Menschen! Wie viele mochten das wohl sein? Ihr Heimatdorf Pinnow war schon groß lebten hier fünfzig oder sechzig oder gar siebzig Leute? Marie konnte nur mit Mühe so weit zählen. Und nun erst Schwerin! Und das Schloss – goldene Türme sollte es haben, und Prinzen im Purpurmantel und mit einer glänzenden Krone aus Gold, und Prinzessinnen mit einem funkelnden Stirnreif und im weißen Kleid mit blauen Borten, und die fuhren in goldenen Kutschen durch die riesige Märchenstadt und lachten und winkten. Und immer standen Leute am Straßenrand und jubelten ihnen zu. Ach, was würde es schön sein, dort zu arbeiten. So schwärmte und träumte und fantasierte das Mädchen, den ganzen weiten Weg lang.

Der Vater schritt voran und sinnierte auch für sich hin. Er gab die Jüngste nicht gern aus dem Haus. Er weinte nur nicht, wie die Mutter es getan hatte.

Marie aber hüpfte und tanzte im Gehen vor Entzücken. Ob man sie im Schloss wohl anstellte, als Zimmermädchen gar? Allein, nun wurde ihr auch ein wenig bange. Sie dachte an das Petermännchen, das im Pinnower Berg und auch im Schloss von Schwerin spuken sollte. Die Leute erzählten ja viel von ihm, Schönes und Schreckliches. Ohrfeigen hätte es im Schloss verteilt, ohnmächtig konnte man davon werden! Marie hatte zu Hause zwar öfter erlebt, wie ihre Brüder eins hinter die Löffel und auf den Hosenboden kriegten, sie selber hatte noch kein böses Wort erfahren. Aber wie jeder andere Mensch mochte sie weder harte Worte noch Schläge. Ja, sie hatte sogar Angst, vor solchen Worten schon, und vor Schlägen erst! Und dann vielleicht auch noch von einer Spukgestalt! Die bestimmt unsichtbar wäre. Mir nichts, dir nichts kriegst du eins hinter die Ohren, weißt gar nicht woher und wofür. Als sie sich das beim Gehen so ausmalte, oh, wie grauste es dem Mädchen. Ob sie den Vater und die Tante bitten sollte, vielleicht lieber bei einem Schneider in die Lehre gehen zu dürfen? Indes, manchem hätte der Schlossgeist auch einen besonderen Lohn gegeben, hieß es. Wenn sie nun doch lieber im Schloss diente? Aber wer weiß, ob ihr das Petermännchen überhaupt erscheinen würde.

 

Furchtsam und neugierig und hoffnungsfroh in einem war das Mädchen. Und tatsächlich sollte sie einst mit dem Schlossgeist zu tun haben. Aber ganz, ganz anders, als Marie sich das vorstellte. Was ihr geschehen würde, konnte sie einfach nicht ahnen.

 

Bei der Tante blieb der Vater nur eine kurze Zeit. Was zu bereden war, war rasch getan, der Gang zum Schloss war seit längerem verabredet. Der Vater trank zwei Becher Wasser, aß ein paar Pellkartoffeln mit Salz bestreut und machte sich gleich danach auf den Rückweg. Wenn er zu Hause war, würde der Abend anbrechen.

Die wundersame Stadt

Am Nachmittag spazierte Tante Liese mit Marie durch die Stadt. Einige Straßen waren jetzt, nach der Schneeschmelze, meist noch recht morastig, nicht viel besser als in Pinnow. Hier in der Stadt hatten sie aber beiderseits Regenrinnen, die führten zu größeren Gräben. Irgendwie roch es so seltsam, gar nicht wie klare Frühlingsluft eigentlich riechen müsste. Bald schon sah Marie, woher der Wind wehte. Des Öfteren lagen Misthaufen am Straßenrand. Also so etwas gab es ja in Pinnow nun nicht, da waren sie immer hinter den Häusern! Aber es kam schlimmer. Am Fließgraben roch es nicht nur unappetitlich, Unrat lag am Rand, Scherben und Sträucher, Knochen und Stücke von Gedärm, Fischgräten und verdorbene Essensreste, Kehricht und Fellstücke, selbst Kadaver von Ratten, und manches davon schwamm auch auf dem Wasser. Hier ahnte Marie, wie viel Menschen in so einer Stadt lebten. Im Dorf nahm man solchen Unrat gar nicht wahr. Bei der Faulen Grube stank es gar ganz unsäglich, nicht auszumachen, wonach eigentlich. War es verwesender Fisch, war es Schweinejauche? Oder ein Gemisch von beidem, von noch viel mehr? Marie sagte nichts. Am Mühlentor nahe der Grafenmühle erzählte die Tante von dem Soldaten, der hier einst im Graben ertrunken war. Zu ertrinken, oh Gott, das war für Marie eine furchtbare Vorstellung. In solch einem Wasser bloß liegen zu müssen, erschien ihr schon unerträglich. Die Tante bemerkte das Erschrecken, und sie erklärte dem Mädchen, jetzt ganz stolz, seit dem grausigen Tod des Soldaten hätte man begonnen, die Gräben besser zu sichern, die tiefen Regenrinnen an den gepflasterten Straßen würden sogar schon überwölbt. Rinnsteine hießen die kleinen Kanäle. Die Regenrinnen in ihrer Straße wären ja schon mit Planken abgedeckt. Marie war sehr still geworden.

 

Beim Abendessen sprachen sie über den folgenden Tag, danach plauderten sie über die Verwandten und über dies und jenes. Marie blieb recht einsilbig. Schließlich erzählte die Tante Geschichten, die im Schloss und in der Stadt im Schwange waren. Die neueste handelte von einem Soldaten von der Schlosswache. Er wäre von seinen Kameraden mit grünen und blauen Flecken am Leib gesehen worden, niemand wüsste woher. Danach befragt, hätte er behauptet, dass er mit dem Petermännchen gerungen hätte. Um es zu erlösen. So ein dummes Zeug, meinte die Tante, mit dem Petermännchen ringen, um es zu erlösen. Was sich die Leute aber auch einfallen lassen! Eigentlich soll er gar kein schlechter Kerl gewesen sein, und ein Raufbold schon gar nicht, wüssten die Leute. Er sei am gleichen Tag gefangen genommen worden und danach spurlos verschwunden. Hatten sie ihm im Schloss doch geglaubt? Und hatten sie Angst davor, dass Petermännchen erlöst wird? Dann sollte ja die Burginsel mitsamt dem Schloss im See versinken. Ob sie ihn nach Holland verkauft haben? Auf ein Schiff nach Amerika gesteckt? Niemand wusste was Genaues. Seltsam, nicht wahr. Ob das wirklich etwas mit dem Schlossgeist zu tun hat? Die Tante war sich unschlüssig. Marie wusste ganz und gar nicht, was sie von all dem halten sollte. Furcht stieg wieder in ihr auf.

Unruhig legte sie sich schlafen, löschte die Kerze, wälzte sich hin und her. Alles war so anders. Einmal vernahm sie ein Geräusch. Kratzte da was an der Haustür? Im Halbschlaf nahm sie wahr, wie die Tante den Nachttopf unter dem Bett hervorholte, sich kurz darauf hockte und dann den Inhalt durchs Fenster auf die Straße schüttete. Den Nachttopf schob sie wieder unters Bett. Marie wunderte sich ein wenig, das machte man in Pinnow auch anders. Aber jetzt schlief sie irgendwie beruhigt ein.

 

Am folgenden Tag bürstete Marie wohl zehnmal ihr Haar und flocht sich einen dicken Zopf. Fast genau so oft putzte sie auch ihre Schuhe. Dann gingen sie endlich los. Endlich, endlich zum Schloss. Ihr pochte das Herz, den ganzen langen Weg. Und wieder erschien ihr im Geiste all das, was sie aus den Märchen über Prinzen und Prinzessinnen in ihren prachtvollen Schlössern wusste.

Das Schloss hatte keine goldenen Türme. Und Prinzen und Prinzessinnen in goldenen Kutschen begegneten Marie und der Tante auch nicht. Das Schloss war kalt und alt und zugig, und alt und runzlig war die Prinzessin, die darin mit ihren alten Dienern und Dienerinnen lebte. Alle freuten sich über das junge Ding, für das die Tante um Anstellung bat. Marie wurde genommen. Zum Jubeln war ihr nicht zumute.

Sie sollte als Zimmermädchen arbeiten. Dafür bekam sie eine besondere Kleidung, ein ganz neues hellbraunes Kleid mit grüner Borte, eine weiße Bluse und eine grüne Schürze, und dazu auch noch eine neue schneeweiße Haube! Marie kam aus dem Staunen nicht heraus. Jetzt freute sie sich doch, ja, sie war selig; bislang hatte sie nur die abgelegtBettcvheen Kleider ihrer Schwestern getragen. Als sie alles angezogen hatte, fühlte sie sich darin fast selbst wie eine Prinzessin.

Die Hausarbeit war das Mädchen gewohnt, nach kurzer Zeit schon durfte sie die Zimmer der Hofdamen sauber halten, sie lüftete, fegte und wischte, putzte und polierte, schüttelte die Betten auf und zog sie glatt, wechselte die Bettwäsche, ordnete die Kleiderschränke. Wenn die Sonne schien, sang sie ein Liedchen, wenn es regnete auch. Sie erfreute sich bei einem Blick aus dem Fenster am frischen Grün. Die alten Hofdamen sahen dem neuen Zimmermädchen gern zu, auch die alte Frau, die Prinzessin genannt wurde. Marie wollte immer noch nicht glauben, dass sie eine Prinzessin war.

Das unverhoffte Glück

Marie kam ins heiratsfähige Alter, fand einen guten Mann, liebte ihn herzlich und bald waren die beiden von einer fröhlichen Kinderschar umgeben.

Die alte Prinzessin starb, Marie diente weiter im Schloss. Ihre Kinder wurden erwachsen und bekamen auch Kinder, das Zimmermädchen Marie wurde Großmutter. Die große Stadt war ihr zur Heimat geworden, sie war inzwischen viel, viel größer. Die Misthaufen an den Straßen verschwanden, der Fließgraben war überwölbt und nun eine Straße, ohne den furchtbaren Unrat, wie sie ihn anfangs aushalten musste.

Und der Großherzog hatte begonnen, das Schloss umbauen zu lassen. Jetzt wuchs hier das Märchenschloss, von dem Großmutter Marie als Mädchen geträumt hatte. Und in diesem Schloss wurde ihr ein unverhofftes Glück zuteil. Der Großherzog ließ im Glockenturm der Schlosskirche für das Petermännchen ein Zimmerchen einrichten, und das alte Zimmermädchen Marie war nur noch für dieses Zimmerchen zuständig. Darin standen ein Bettchen, ein kleiner Tisch und ein Stühlchen. Jeden Morgen betrat sie es mit jenem Bangen, das sie schon als Kind verspürt hatte. Aber wenn sie die Bettdecke aufschüttelte und den Fußboden wischte, verging ihr die Furcht. Einmal sah sie des Morgens eine kleine Kuhle auf dem Bett. Es sah aus, als hätte sich ein Kätzchen dort zusammengekuschelt und geschlafen. Und daneben lag eine kleine Silbermünze. Marie war darüber ziemlich erschrocken. Von einer der älteren unter den Kammerfrauen erfuhr sie, dass in solch einer Nacht das Petermännchen dort geschlafen hätte. Und die Silbermünze dürfte sie getrost behalten; die wäre sein Lohn für sie. „Er scheint dich sehr zu mögen“, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. Vielleicht glaubte sie, die Silbermünze wäre eine Zugabe, die der Großherzog Marie zukommen ließ. Weil sie schon so viele Jahre im Schloss diente.

Das Schloss war noch längst nicht fertig, da wurde Marie Urgroßmutter, sie musste nun überhaupt nicht mehr dienen. Das war ihr recht, sehr recht. Sie versorgte jetzt ihren kleinen Urenkel Johann. Mit ihm verwuchs Marie, wie wenn sie ihn selber zur Welt gebracht hätte. Und er war tatsächlich fast ihr Sohn. Sein Vater, ein Eisenbahner, die Mutter, Küchenhilfe in einem großen Hotel mit Restaurant, beide waren wenig zu Hause, der Junge – er wurde von Marie gewaschen und gewickelt, sie gab ihm seinen Brei, half ihm, den Fencheltee zu trinken, wenn er Bauchweh hatte, sie beruhigte ihn, wenn er sich beim Herumtollen eine Schramme zuzog und ein paar Blutstropfen am Knie hervorquollen und er darob ganz verschreckt schrie, sie erzählte ihm das lustige Märchen vom Zaunkönig, das er immer wieder hören wollte, erzählte Geschichten vom Petermännchen, ach, wie liebte er jene mit der Armspange, in der sich Eisen in Gold verwandelte. Sie erklärte ihm den Unterschied von Jungs und Mädchen, als er sich über diesen Unterschied wunderte. Ein paar Jahre später ging er häufig eigene Wege. Aber immer blieb er in ihrem Herzen.

 

Marie gehörte zu den wenigen Menschen, die ein hohes Alter und auch noch bei bester Gesundheit erreichten. Ihr ruhiges und bescheidenes Glück hätte andauern können, bis ans Ende ihrer Tage. Jäh wurde es, ohne ihr Zutun, zerstört.