Impressum

Rudi Benzien

Das bayerische Jahr

Fragment einer Kindheit in Deutschland

Roman

 

ISBN 978-3-95655-971-6 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Die zitierten Wehrmachtsberichte wurden dem „Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht 1944 - 1945, Teilband 2“ entnommen.

Das Buch erschien erstmals 1998 im Verlag Alt-Friedrichsfelde 73, Berlin

 

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10. Februar 1945

Aus dem Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht

HEERESGRUPPE MITTE: BEI SAYBUSCH GESPANNTE LAGE. DER GEGNER DRANG IN DEN OSTTEIL VON LIEGNITZ EIN: BEI BRIEG KAM ER NICHT WEITER VOR. DIE 20. PZ. = DIV. GEWANN GELÄNDE IN RICHTUNG GROTTKAU. NÖRDLICH BRESLAU STIESS ER BIS AN DEN BOBER VOR UND SETZTE MIT SCHWACHEN KRÄFTEN AN DREI STELLEN ÜBER. DIE DIV. "GROSSDEUTSCHLAND" MUSSTE ZURÜCKWEICHEN, WAHRTE ABER DEN ZUSAMMENHALT. DER FEIND KAM BIS PRIMKENAU. VON KÜSTRIN WIRD DIE 21.PZ.=DIV. HERUNTERGEZOGEN. AN DER WEICHSEL NUR GERINGE TÄTIGKEIT…

 

Peter stand an der Tafel. Gleich musste das Klingelzeichen den Beginn des Unterrichts einläuten.

Peter musste sich auf die Zehenspitzen stellen, damit er den oberen Rand der Tafel erreichen konnte, um das Datum in die rechte Ecke schreiben zu können.

Mit dem Klingelzeichen betrat die Lehrerin das Klassenzimmer. Die Kinder schnellten aus ihren Bänken hoch, nahmen eine stramme Haltung an.

„Heil Hitler“, grüßte die Lehrerin. Achtundzwanzig Kinderärmchen reckten sich in die Höhe, mit ihren dünnen Stimmen beantworteten die Jungen und Mädchen den Gruß der Lehrerin. Bevor sie das übliche „Setzen“ sagen konnte, meldete sich Dieter Kranz, der Sohn des Dorfschmieds: „Fräulein Albrecht, dem Werner Krause sein Vater ist gefallen.“

Es war Brauch, dass vor Unterrichtsbeginn das Lied vom „Guten Kameraden“ gesungen wurde, wenn ein Angehöriger eines Schülers gefallen war.

Werner Krause durfte sich vor die Klasse stellen. Die Kinder sangen das Lied.

Werner war der Held des Tages. In der Pause suchten alle seine Nähe. Nach dem Unterricht blieben die Jungen im Klassenzimmer.

Rund um Werners Platz saßen sie auf den Schultischen. Jeder gab eine Kriegsgeschichte zum Besten. Sie prahlten mit den Heldentaten ihrer Väter. In den meisten Fällen entsprangen die Heldentaten der Fantasie der Jungen.

Peter ärgerte sich. Er konnte nichts erzählen. Sein Vater war nicht Soldat und alle in der Klasse wussten es. Er litt daran, dass sein Vater in Berlin in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitete und deshalb nicht eingezogen wurde. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sein Vater endlich Soldat werden sollte.

 

Am Nachmittag trafen sich Peter, Werner und Dieter am Ufer der Neiße, die das Dorf in zwei Ortsteile trennte, in Lodenau an diesem Ufer, in Zoblitz am anderen.

In den Büschen, die das Lodenauer Ufer überwucherten, hatten sie sich eine Höhle gebaut, die sie Bunker nannten; eine tiefe Kuhle, über die Bretter gelegt waren.

Werner erzählte von seinem Vater: „Wisst ihr, er war schwer verwundet. Doch bevor er den Heldentod starb, hat er noch zwölf Iwans erschossen. Ehrlich, sein Kamerad hat's uns geschrieben. Ich kann euch den Brief zeigen, wenn ihr es nicht glauben wollt.“

„Los, wir spielen Krieg. Ich bin Werners Vater, ihr beide seid Russen, ich schieße euch tot,“ schlug Dieter vor und hantierte dabei mit einem Knüppel wie mit einem Gewehr herum. Werner protestierte: „Ich bin mein Vater und ihr beide müsst Russen sein, sonst mache ich nicht mit.“

Sie einigten sich, dass jeder mal Werners Vater sein sollte und die beiden anderen erschießen dürfe.

Nach einer Weile wurden sie des Spiels überdrüssig, sie gaben es auf..

Sie liefen zur Brücke und spielten „Sprengen“. Dieter war ein russischer Panzer, wenn er auf der Brücke brummte, sprengten Werner und Peter die Brücke.

Auch an diesem Spiel verloren sie bald die Lust.

Von der Zoblitzer Seite näherte sich ein grotesker Zug. Die Jungen kannten diesen Anblick, doch übte er immer wieder einen besonderen Reiz auf sie aus.

Seit Wochen zogen fast täglich Flüchtlingstrecks durch das Dorf.

Das erste Fuhrwerk hatte die drei Jungen erreicht. Zwei Ochsen zogen den Kastenwagen, der mit einer Plane überspannt war. Vorn, auf dem Bock, saßen eine Frau und zwei Kinder.

Neben dem Wagen ging ein Mann und trieb die Zugtiere an. Die Tiere boten einen jämmerlichen Anblick. Sie hatten kaum noch Fleisch auf den Knochen. An einigen Stellen sah es so aus, als würden die Knochen gleich das Fell durchstoßen. Die Hufe waren völlig zerfetzt, als bestünden sie aus Lumpen.

Auf die drei Jungen, die am Straßenrand hockten, machte der Zug einen abenteuerlichen Eindruck. Jeder von ihnen wünschte sich, auf einen dieser Wagen steigen zu dürfen und mit in die unbekannte Ferne zu fahren.

„Ob die bis Amerika fahren?“, fragte Dieter.

„Quatsch, solange halten doch die Ochsen nicht mehr durch“, stellte Werner fest.

Peter begann laut zu lachen: „Ihr seid ganz schön blöd. Bis Amerika können die überhaupt nicht kommen, da müssten sie nämlich mit ihren Ochsen über das Meer schwimmen.“

Hinter dem letzten Fuhrwerk gingen sie ins Dorf.

„Hoffentlich müssen wir hier auch bald los. Mann, das wäre eine Sache! Keine Schule, den ganzen Tag mit dem Wagen rumkutschieren …“, schwärmte Dieter.

Peter, der mit seiner Mutter aus Berlin gekommen, um hier vor den Bomben Schutz zu finden, kamen Bedenken.

„Wir haben aber keinen Wagen und auch kein Pferd. Und Wegeners, wo wir wohnen, die haben mal gerade einen Handwagen“, sagte er und sah betrübt vor sich hin.

„Wenns weiter nichts ist“, sagte Dieter großspurig, „dann steigt ihr eben mit auf unseren Wagen.“

Peter freute sich über Dieters Angebot.

Die Jungen trennten sich und gingen nach Hause.

Peter stieg über den Gartenzaun, stapfte durch den verschneiten Garten. Er lief mehrmals im Kreise und freute sich über die Schneckenspur, die dabei entstand. Er zog eine gerade Spur von der Schnecke zur Haustür. Geräuschvoll stieg er die Treppe zur ersten Etage hoch.

Als er das Zimmer betrat, fand er seine Mutter am Tisch sitzend. Sie hielt ihren Kopf zwischen den Händen und ihre Schultern zuckten: Sie weinte.

Peter war ratlos. Er konnte sich nicht erinnern, seine Mutter je weinend gesehen zu haben.

Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Am liebsten hätte er unbemerkt das Zimmer wieder verlassen.

Was mag denn bloß passiert sein? fragte sich Peter.

Auf Zehenspitzen schlich er sich am Tisch vorbei zum Fenster. Er sah einen Brief auf der Tischplatte liegen. Das muss wohl der Grund sein, dass sie weint, vermutete er. Seine Mutter schien seine Anwesenheit noch immer nicht bemerkt zu haben.

Von der Straße herauf klangen die Geräusche einer marschierenden Soldatenkolonne durch das geschlossene Fenster. Die Soldaten sangen: „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein und, das heißt Erika …“

Der Soldatentrupp nahm Peters ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er beneidete Werner, dessen Vater gefallen war und sein Vater war nicht mal Soldat.

Peters Mutter hob den Kopf, bemerkte ihren Sohn, der wie gebannt durch die Fensterscheibe starrte.

Sie ging zum Fenster, legte ihre Hand auf seine Schulter.

Peter sah in ihr Gesicht. So traurige Augen hatte er bei ihr noch nicht gesehen.

Ihm fiel ein, schon einmal einen traurigen Blick gesehen zu haben. Er erinnerte sich:

Das war bei seinem Onkel in Mecklenburg gewesen. Die Hündin seines Onkels hatte Junge gehabt, fünf Stück. Der Knecht hatte sie nacheinander an die Wand geworfen und anschließend verscharrt. Die Hündin stand vor dem Korb, in dem ihre Jungen gelegen hatten, sie suchte sie und fand sie nicht. Traurigere Augen hatte er nie vorher gesehen.

Damals hatte er überlegt, wie er die jungen Hunde hätte rächen können …

Er sah in die Augen seiner Mutter und begann zu weinen. Sie drückte ihn an sich …

Peter nahm sich vor, dem einen tüchtigen Streich zu spielen, der daran schuld hatte, dass seine Mutter weinte. Gern hätte er gewusst, was eigentlich geschehen war, damit er seine Racheaktion einleiten konnte.

Seine Mutter zeigte mit der Hand auf den Brief, der auf dem Tisch lag und sagte: „Der Brief ist von Papi, er schreibt, dass er nun Soldat wird.“

Weiter sagte sie nichts, aber sie weinte wieder.

In Peter jubelte es; endlich war sein Vater Soldat. Aber in dem Brief musste noch irgendwas anderes stehen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Mutter deshalb weinte, weil der Vater nun endlich Soldat werden durfte.

Sein Freudentaumel ließ ihn die Rachegedanken vergessen, die er gerade noch gehegt hatte. Am liebsten wäre er auf der Stelle zu Dieter und Werner gerannt, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen.

Morgen in der Schule werden sie schon Augen machen, tröstete er sich.

 

Am Abend kam Besuch. Frau Merse, auch sie stammte aus Berlin und wohnte mit ihrer Tochter Bärbel bei einem Bauern im Dorf. Bärbel ging mit Peter in die gleiche Klasse.

Er mochte sie nicht. Immer war sie traurig, lachen sah man sie selten. Und außerdem war sie ein Klatschweib, fand Peter. Einmal, er hatte den anderen beweisen wollen, was für ein mutiger Kerl er war, war er auf das dünne Eis der Neiße gegangen und hatte, obwohl es fortwährend knackte, den ganzen Fluss überquert. Bärbel hatte diese Geschichte Peters Mutter erzählt. Eine Woche lang hatte er dafür Stubenarrest bekommen.

Die beiden Frauen saßen am Tisch, unterhielten sich leise. Peter lag im Bett und tat, als schliefe er.

Seine Mutter erzählte von dem Brief. Peter lauschte, in der Hoffnung, nun zu erfahren, weshalb sie geweint hatte.

Die Frauen redeten sehr leise, er musste sich anstrengen, um alles zu verstehen.

„Jetzt, wo alles fast zu Ende ist, da holen sie ihn noch. Ein Wahnsinn ist das. Sie sollten endlich aufhören mit den Massenmorden. Es hat schon genug Elend gebracht“, hörte er seine Mutter sagen.

„Du solltest nicht so schwarz sehen. Der Krieg dauert nicht mehr lange, ehe dein Mann zur Front kommt, ist er vielleicht schon vorbei. Ich denke, wir werden in den nächsten Tagen das Dorf verlassen müssen, es geht dem Ende zu, glaub' mir“, redete Frau Merse auf Peters Mutter ein.

Die Gedanken in Peters Kopf gingen durcheinander: Was sagten die Frauen? Der Krieg sei bald aus? In der Schule erzählte Fräulein Albrecht etwas ganz anderes.

Langsam zerflossen seine Gedanken. Er stellte sich seinen Vater in Uniform neben einem Artillerie-Geschütz vor. Ein solches Foto hatte ihm mal Werner gezeigt.

Zufrieden schlief er ein.

11. Februar 1945

Aus dem Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht

HEERESGRUPPE MITTE: BEI SEIBUSCH FORTGANG DER KÄMPFE. BEI BIELITZ, BEI PLESS EINE VERBESSERUNG DER HKL. BEI GROTTKAU STIESS DIE 20. PZ. = DIV. BIS ZUR ODER VOR. SIE WIRD JETZT ZUSAMMEN MIT DER 8. UND DER 20. PZ. -DIV. UNTER DEM GEN. =KDO. XXXXVIII. PZ. -KORPS ZUM STOSS NACH NORDWESTEN ANGESETZT: AUS DEM BRÜCKENKOPF BRIEG - OHLAU KAM DER FEIND BIS 15 KM SÜDLICH BRESLAU HERAN. VON NORDEN STIESS ER NACH SÜDWESTEN; JEDOCH BESTEHT NOCH EINE KLEINE LANDBRÜCKE. IN LIEGNITZ UND OSTWÄRTS BUNZLAU IM RAUM BIS GLOGAU KEINE WESENTLICHE VERÄNDERUNG. DAS KORPS "GROSS-DEUTSCHLAND” KÄMPFT SICH WEITER ZURÜCK. DRUCK DES FEINDES GEGEN SPROTTAU. FRANKFURT WURDE VON STALIN-ORGELN BESCHOSSEN …

 

Endlich fühlte sich Peter seinen Freunden gegenüber gleichwertig. Wenn jetzt die Jungen mit den angeblichen Heldentaten ihrer Väter prahlten, konnte er meistens eine Geschichte erzählen, die die der anderen weit in den Schatten stellte. Mit der neuen Situation war er mehr als zufrieden. Ganz komplett war sein Glück jedoch nicht. Seit sein Vater Soldat war, hatte sich seine Mutter verändert. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte sie die Frontberichte im Radio, in denen immer öfter Namen auftauchten von Orten, die nicht mehr weit von Lodenau entfernt waren. Lachen sah er sie nur noch selten.

Peter überlegte, wie er ihr die Sorgen ausreden könnte, die sie sich um seinen Vater machte. Es fiel ihm nichts ein.

 

Abends ging seine Mutter jetzt immer in die Papierfabrik, die am Ufer der Neiße lag.

Die Flüchtlingstrecks, die im Dorf übernachteten, wurden in der Kantine der Fabrik verpflegt. Peters Mutter half bei der Essenausgabe.

Peter ging meistens mit zur Papierfabrik. Schnell fand er unter Kindern der Treckleute Spielgefährten. Das weiträumige Werksgelände bot mit seinen vielen Schlupfwinkeln ein ideales Spielgelände.

Er hatte einige Papierballen nebeneinandergerollt und große Pappen darüber gelegt. Das ganze ergab eine geräumige Höhle. Von seinen Freunden im Dorf wusste keiner von der Existenz dieses Schlupfwinkels.

Abends lud sich Peter immer ein paar von den Flüchtlingskindern in seine Höhle ein und ließ sich von ihnen von ihrer Flucht erzählen. Weil die Trecks am folgenden Morgen wieder weiterzogen, blieb seine Höhle lange Peters Geheimnis.

Eines Abends, als sie mit der Arbeit in der Papierfabrik fertig war, ging die Mutter mit ihm an den Fluss. Es war schon spät. Obwohl es eine sternklare Nacht war, herrschte Dunkelheit. Düster und drohend lag das Ostufer der Neiße vor ihnen. Es war beängstigend still, nur der Fluss gab ab und zu gurgelnde Laute von sich.

Eine Weile stand Peters Mutter regungslos und blickte auf das schwarze Wasser des Flusses. Peter fand das Stehen am Fluss langweilig, die unheimliche Stille bedrückte ihn. Er wäre lieber nach Hause gegangen.

Übergangslos veränderte sich die Stimmung: Von irgendwo, weit hinter dem Wald am anderen Ufer des Flusses, drang ein dumpfes Grollen heran. Das Grollen wurde lauter. Am Himmel über dem Wald zeigte sich ein roter, flackernder Feuerschein. Peter drückte sich ängstlich an seine Mutter, wandte sein Gesicht von dem beängstigenden Bild ab. Er hielt sich die Ohren zu, um nicht das dumpfe Grollen hören zu müssen.

„Wir werden wohl bald hier weg müssen, der Krieg kommt jeden Tag näher“, sagte die Mutter und Peter beruhigte es, ihre Stimme zu hören.

Sie gingen durch das Dorf und obwohl es schon spät war, brannte in allen Häusern noch das Licht.

 

Peter verbrachte eine unruhige Nacht. Eine unheimliche Furcht saß in ihm. Er zog sich die Bettdecke über den Kopf, um den Feuerschein nicht sehen zu müssen, der das Stück Himmel vor dem Fenster rot färbte. Noch lange drang das dumpfe Grollen in seine Ohren.

 

Die Leute im Dorf gingen mit missmutigen Gesichtern umher. Alle erwarteten stündlich den Räumungsbefehl.

Das Dorf war Sammelplatz für versprengte Truppenteile geworden. Die Soldaten, die glaubten, dem Inferno entkommen zu sein, wurden hier zu neuen Kampfeinheiten zusammengestellt.

Auf dem Ostufer des Flusses wurden Auffangstellungen ausgehoben. Alle Erwachsenen, Männer wie Frauen, wurden zu den Schanzarbeiten herangezogen.

Die Brücke war von Pionieren für die Sprengung vorbereitet worden.

Das alles waren Gründe genug, um den Gerüchten von der unmittelbar bevorstehenden Räumung des Dorfes neue Nahrung zu geben. Keiner glaubte mehr daran, dass die Front zum Stehen gebracht werden konnte.

Die Flüchtlingstrecks, die jetzt durch das Dorf zogen, kamen aus Ortschaften, die nur noch vierzig bis fünfzig Kilometer von Lodenau entfernt waren.

Von den Sorgen und Ängsten der Erwachsenen blieben die Kinder fast unberührt. Für sie gab es überall Neues zu entdecken.

Als Peter und Dieter morgens zur Schule gingen, sahen sie schon von Weitem, dass sich etwas verändert hatte.

Von den Wänden des Schulhauses und vom Dach leuchteten große, weiße Kreise mit einem roten Kreuz in der Mitte: Die Schule war Notlazarett geworden.

Auf dem Schulhof erklärte der Direktor den Schülern: „Für einige Tage wird der Unterricht ausfallen. Unsere verwundeten Soldaten brauchen die Klassenräume. In ein paar Tagen, wenn der Feind zurückgeschlagen ist, wird der Unterricht wieder aufgenommen.“

Einige Kinder brachen in Jubelgeschrei aus, weil der Unterricht ausfiel. Der strafende Blick des Direktors ließ sie schnell verstummen.

Die meisten Kinder liefen eilig nach Hause, um die Neuigkeit den Müttern mitzuteilen.

 

Peter und Dieter trieben sich in der Nähe der Schule herum. Sie beobachteten, was sich auf dem Schulhof abspielte.

In kurzen Abständen fuhren Lastwagen, die mit einem roten Kreuz gekennzeichnet waren, auf den Schulhof. Ihnen entstiegen Soldaten mit durchgebluteten Verbänden. Schwerverwundete wurden auf Tragen in das Schulhaus getragen.

Dieter sagte: „Los, Peter, komm, wir steigen hinten durch den Zaun, da können wir alles besser sehen.“

Peter verspürte keine Lust dazu. Beim Anblick der Verwundeten empfand er das gleiche unangenehme Gefühl, das er gespürt hatte, als er den Himmel hinter der Neiße brennen sah und das schaurige Donnergrollen gehört hatte.

Vom Dorf her drang das Gedröhn von schweren Panzermotoren herüber.

Die Jungen rannten zur Straße. Eine Panzerkolonne kam die Dorfstraße herunter, hielt auf die Brücke zu.

Die Jungen vergaßen die Verwundeten und alles, was sie gerade auf dem Schulhof gesehen hatten, winkten den Panzersoldaten zu. Die Männer auf den rasselnden Ungeheuern winkten zurück. Lärmend fuhren die Panzer über die Brücke und machten am anderen Ufer zwischen den Kiefern halt.

Peter und Dieter liefen zum Rastplatz hin. Neugierig besahen sie sich die Ungetüme. Die Besatzungen kletterten von ihren Panzern und gingen mit ihren Kochgeschirren zur Feldküche.

Die Jungen folgten ihnen. „Na, ihr Hosenmätze, wollt ihr auch einen tüchtigen Soldatenschlag haben?“, fragte der Koch.

Dieter nickte.

Schnell waren zwei Kochgeschirrdeckel zur Hand, der Koch füllte sie mit Kartoffeln und Gulasch. Die beiden Jungen folgten den Soldaten, die ihnen die Kochgeschirrdeckel geliehen hatten. Sie ließen sich im Windschatten eines Panzers nieder.

Es wurde eine turbulente Mahlzeit. Die Soldaten machten sich lustig darüber, weil sie kein Besteck zum Essen hatten und sich mit der Zunge die Kartoffeln und das Fleisch aus dem Deckel angelten.

Peter spürte ein Brennen überall im Mund und im Hals. Der Koch hatte beim Gulasch nicht mit scharfen Gewürzen gespart. Er unterdrückte den Hustenreiz, weil er fürchtete, dass die Soldaten dann wieder lachen würden, aber er konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen aus den Augen liefen. Er war froh, als endlich sein Kochgeschirrdeckel leer war.

Die Soldaten steckten sich Zigaretten an. Einer zog eine Mundharmonika aus der Brusttasche seiner Panzerfahrerkombination und begann zu spielen. Er spielte Kinderlieder, Soldatenlieder und Stücke, die die Jungen nicht kannten. Zu einer Melodie, die traurig klang, sang ein Soldat:

„Es steht ein Soldat am Wolgastrand, hält Wache für sein Vaterland …“

Peter musste wieder an die Verwundeten mit den durchbluteten Verbänden denken.

„Warst du schon mal verwundet?“, fragte er den Mundharmonikaspieler, der jünger als die anderen Soldaten war. Der hörte auf zu spielen, sah den Jungen an. „Mal bloß nicht den Teufel an die Wand, Bengel“, sagte er. Hastig führte er die Mundharmonika an seine Lippen, spielte betont lustig: „Mein Mädchen hat einen Rosenmund …“

Der Befehl „Aufsitzen” beendete die Rast, die Soldaten sprangen auf die Panzer, verschwanden durch die Luken des Panzerturms ins Innere.

Heulend wurden die Motoren gestartet, eine blaue, nach Diesel stinkende Wolke breitete sich aus. Mit Gedröhn verschwand die Kolonne hinter der nächsten Kurve.

 

„Mann, wenn wir Werner erzählen, dass wir bei den Panzersoldaten waren, dann wird er sich die Platze ärgern“, sagte Dieter.

Nach dem scharf gewürzten Gulasch befiel Peter ein heftiges Durstgefühl, Dieter erging es nicht anders. Sie machten sich auf den Weg nach Hause, um ihren Durst zu löschen.

Vor dem Bürgermeisteramt sah Peter eine Menschenansammlung. Die Leute standen dicht gedrängt vor einem Plakat. Wer es gelesen hatte, wandte sich wortlos um und ging davon. Auf dem Plakat war zu lesen, dass jedem die Todesstrafe drohe, der das Gerücht von der bevorstehenden Räumung des Dorfes verbreite.

Peter war enttäuscht. Die Hoffnung, dass sie auch bald mit dem Treck loszögen, sah er schwinden.

Auf dem Weg nach Hause sah er noch vier von diesen Plakaten hängen und immer standen schweigende Menschen davor.

Peter verstand die Reaktion der Dorfbewohner nicht; tagelang fürchteten sie, das Dorf verlassen zu müssen, jetzt, wo sie es schriftlich hatten, dass sie bleiben konnten, standen sie mit brummigen Gesichtern herum und schwiegen.

Wenn einer Grund zum Ärgern hat, dann ich, fand Peter. Missmutig setzte er seinen Weg nach Hause fort.

Seine Mutter war nicht im Zimmer. Er setzte sich ans Fenster, sah uninteressiert hinaus. Alles ist langweilig, die Schule wird auch bald wieder anfangen, nie werden wir auf die Wagen steigen und auf die Reise gehen, spann er seinen trüben Gedankenfaden weiter.

Er sah sich im Zimmer um. Der Platz, an dem sonst seine Schulmappe lag, war leer.

Er hatte sie auf der Lichtung hinter dem Fluss bei der Feldküche der Panzerleute liegen lassen. Dieters Mappe musste auch noch dort sein.

Eilig lief er aus dem Haus. Erst auf der Brücke hielt er an. Er wurde angehalten. Ein Soldat mit einer Maschinenpistole unter dem Arm packte ihn am Kragen.

„He, du rast ja, als wäre der Teufel hinter dir her. Hier ist die Welt zu Ende. Zivilpersonen dürfen die Brücke nicht mehr betreten, das andere Ufer ist zum Frontgebiet erklärt worden“, sagte der Soldat.

Hastig erzählte Peter von seiner vergessenen Schulmappe. „Dann hau schnell ab, aber in fünf Minuten bist du wieder zurück. Wenn nicht, ziehe ich dir die Ohren lang, dass du wie ein Esel aussiehst.“ Der Soldat gab ihm einen Klaps, schob ihn auf die Brücke.

Peter fand die beiden Mappen genau an der Stelle, wo sie sie liegengelassen hatten.

Außer Atem, mit den beiden Mappen, kam er wieder bei dem Brückenposten an, wo schon Dieter auf ihn wartete.

Der Posten war von Leuten umringt, die auf der anderen Flussseite Verwandte oder Bekannte besuchen wollten. Er verweigerte ihnen den Zutritt zur Brücke.

„Befehl vom Kampfkommandanten, Zivilisten dürfen die Brücke nicht passieren“, und vertraulich setze er hinzu, „in der kommenden Nacht werden die Stellungen auf der anderen Seite von unseren Truppen bezogen.“

Murrend gingen die Leute zurück ins Dorf.

Unschlüssig, was sie machen sollten, standen Peter und Dieter an der Brücke.

Es war kalt geworden. Kraftlos stand die Sonne am fahlen Himmel. Es roch nach Schnee. Vom Fluss her wehte ein eisiger Wind.

Peter überlegte, ob er Dieter seine Höhle auf dem Fabrikhof zeigen sollte. Noch war sie sein Geheimnis. Bevor er einen Entschluss fassen konnte, trat ein Ereignis ein, das die Aufmerksamkeit der Jungen auf sich zog.

Auf der anderen Seite des Flusses fielen einige Schüsse.

Ein offener Personenwagen jagte mit hoher Geschwindigkeit über die Brücke, bremste scharf vor dem Brückenposten.

Auf der Motorhaube des Wagens war ein Lautsprecher montiert. Die Insassen des Autos trugen grau-grüne Uniformmäntel, von ihren schwarzen Kragenspiegeln grinsten silberne Totenköpfe.

Ein lautes Brummen und Knacken drang aus dem Lautsprecher. Eine gellende Stimme übertönte alle anderen Geräusche.

„Alle Zivilpersonen räumen sofort die Straße. Türen und Fenster sind verschlossen zu halten. Für zwanzig Minuten besteht für das gesamte Ortsgebiet totale Ausgangssperre!“

Der Wagen setzte sich in Bewegung und verbreitete an anderen Stellen des Dorfes seinen Befehl.

Peter und Dieter rannten in eine Scheune, die am Straßenrand lag. Die Jungen schlugen die Tür hinter sich zu, krochen ins Stroh, beobachteten durch eine Ritze in der Scheunenwand die Straße. Sie hatten ein weites Blickfeld.

Die Straße war menschenleer, es herrschte eine bedrohliche Stille.

Dieter flüsterte: „Sicher werden sie die neuen Wunderwaffen zur Front schaffen. Die darf natürlich keiner zu sehen kriegen.“

„Quatsch“, sagte Peter, „der Wagen kam doch von der anderen Seite, also von der Front. Es muss was anderes sein.“

Auf der Dorfstraße blieb alles ruhig, nur auf dem Schulhof, auf den sie blicken konnten, war Bewegung.

„Vielleicht kommen gefangene Russen durchs Dorf“, sagte Dieter.

Vom Fluss her kamen Laute. Die Jungen drückten ihre Gesichter an die Ritze.

Hinter der Brücke waren viele Gestalten zu erkennen und dazwischen ein paar große Möbelwagen. Noch war alles zu weit entfernt, um Genaueres erkennen zu können.

Aufgeregt starrten die Jungen durch die schadhafte Scheunenwand.

Dieter schlug vor Ungeduld mit seinen Beinen ins Stroh. Unerwartet gackerte laut ein aufgescheuchtes Huhn. Die Jungen erschraken. „Altes Mistvieh“, schimpfte Dieter und warf eine Handvoll Stroh nach der aufgescheuchten Henne. Inzwischen hatte die Spitze der Kolonne die Scheune erreicht.

Männer in gestreiften Anzügen und Kitteln zogen über das Kopfsteinpflaster der Dorfstraße. Grau waren ihre Gesichter, dünn und ausgemergelt ihre Körper.

Peter hatte plötzlich das Gefühl, als wäre der Himmel eine graue, schmutzige Decke, die sich immer tiefer herabsenkte.

Immer sechs Gestreifte gingen nebeneinander. Das Klappern ihrer Holzschuhe zerbrach die Stille nicht, sondern vertiefte sie. Neben dem Zug gingen SS-Leute mit umgehängten Maschinenpistolen. Der erste Möbelwagen kam näher, er wurde von sechzig Gestreiften gezogen. Von jedem der Männer ging ein Strick zur Vorderfront des Möbelwagens. Die Oberkörper vor Anstrengung weit nach vorn gebeugt, zogen die vom Marsch entkräfteten Männer die schweren Wagen über das holprige Pflaster der Dorfstraße.

„Warum spannen die denn keine Pferde davor, diese Idioten?“, flüsterte Dieter aufgeregt. Peter sagte nichts. Das, was er sah, ließ ihm seine Kehle trocken werden, er spürte ein Würgen im Hals. Er konnte auch nichts denken. Er sah nur …

Der erste Möbelwagen war an der Scheune vorüber, die Jungen sahen seine Hinterfront. Einer der beiden Türflügel wurde aufgestoßen, im hohen Bogen flog eine leere Schnapsflasche heraus. Sie traf einen der Gestreiften, der hinter dem Wagen ging, am Kopf. Er sank zu Boden.

Ein SS-Mann schrie den Gefallenen an: „Du dreckige Judensau, mach, dass du hochkommst, sonst mach' ich dir Beine. Sei froh, dass wir noch im Dorf sind, sonst hätte ich dir schon eins auf den Pelz gebrannt …“

Das Würgen in Peters Hals wurde stärker, er schluckte, er hatte Mühe, seine Tränen zurückzuhalten.

Zwei Gestreifte halfen dem Misshandelten beim Aufstehen, sie stützten ihn beim Gehen.

Aus dem Möbelwagen drang Gelächter. Die Tür wurde wieder zugezogen.

Es folgten noch sechs Möbelwagen, zwischen denen jeweils dreihundert Gestreifte marschierten. Den Schluss dieses Zuges bildete ein mit Tarnfarbe gestrichener VW- Kübelwagen mit aufmontiertem Maschinengewehr.

Langsam verschwand der Zug aus dem Blickfeld der Jungen.

Sie blieben noch eine Weile wortlos im Stroh liegen. Erst als die Straße sich wieder belebte, verließen sie ihren Schlupfwinkel.

Einsam und unbeachtet hingen die Plakate des Kommandanten am schwarzen Brett vor dem Bürgermeisteramt und an den Bäumen am Straßenrand.

13. Februar 1945

Aus dem Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht

HEERESGRUPPE MITTE: BEI SORAU WURDE DER FEIND ABGERIEGELT. ES BESTEHT DIE BESORGNIS, DASS DIE 3 OOO WAGGONS KOHLE, DIE BISHER NOCH AUS DEM GEBIET VON KARWIN (OSTWÄRTS MÄHRISCH-OSTRAU) ABGEFAHREN WERDEN KONNTEN, MIT DER ZEIT WEGFALLEN KÖNNTEN.

DIE HEERESGRUPPE WIRD AUF DIE WICHTIGKEIT DER WEITERVERTEIDIGUNG DIESES RAUMES HINGEWIESEN, SÜDOSTWÄRTS VON BRESLAU SETZTE DER FEIND WIEDER STARKE KRÄFTE EIN; WURDE JEDOCH ABGEWIESEN. DIE LANDBRÜCKE IST NOCH FEST IN EIGENER HAND. NORDWESTLICH BRESLAU STIESS DIE 8. UND 10. PZ. =DIV. VOR. DOCH GELANG ES DEM GEGNER, IN JAUER EINZUDRINGEN. SÜDWESTLICH LIEGNITZ WURDE DIE 10. PZ. =DIV. GEGEN SCHWÄCHERE KRÄFTE DES FEINDES, DIE VORDRÄNGTEN, EINGESETZT. SÜDLICH GLOGAU GEWANN DER FEIND GELÄNDE. DAS KORPS „GROSS= DEUTSCHLAND“ IM WEITEREN ABSETZEN IN RICHTUNG SPROTTAU. GLOGAU IST ABGESCHNITTEN. LANDUNG VON VERSORGUNGSFLUGZEUGEN AUF EINEM SEE IST NOCH MÖGLICH; SIE WIRD VON DEN BERLINER SEEN AUS EINGELEITET. NÖRDLICH SAGAN GELANGTE DER GEGNER ÜBER DEN BOBER.

 

Es war schon dunkel, als Peter nach Hause kam.

Überall im Zimmer lagen Kleidungsstücke herum, auf den Betten, auf dem Tisch, auf dem Fußboden.

Die Mutter sah seinen fragenden Blick.

„Alles können wir nicht mitnehmen“, sagte sie, „wir werden nur das Nötigste einpacken, vor allem die warmen Sachen. Geh doch bitte auf den Boden und bring mir den großen Koffer.“ Peter fragte sich, ob sie denn nicht die Plakate gelesen hatte.

„Wir müssen doch gar nicht fort, Mama. Auf den großen Plakaten steht es doch. Warum willst du denn den Koffer packen?“

„Du hast recht, heute brauchen wir noch nicht fort. Aber wer weiß, was morgen sein wird? Im Dorf sagen alle, dass es bald losgeht“, sagte die Mutter.

Peter war mit dieser Antwort zufrieden. Es gab also doch noch Hoffnung, dass es bald losgehen würde.

 

Der Koffer war gepackt, die Mutter schloss ihn, schob ihn unters Bett. Sie nahm Peters Schulmappe vom Fensterbrett, nahm Bücher und Hefte heraus und legte Strümpfe, Handtücher und Essbesteck hinein. Es blieb noch freier Raum.

„Du kannst dir überlegen, was du dir mitnehmen willst. Ein Buch vielleicht oder Spielzeug. Aber es darf nicht mehr sein, als jetzt noch in die Schulmappe passt.“

„Gehen wir heute nicht zur Papierfabrik?“, fragte Peter.

„Es kommen keine Trecks mehr“, sagte die Mutter.

 

Peter überlegte einen Augenblick lang, womit er den noch freien Raum in seiner Schulmappe füllen sollte. Ihm fiel nichts ein. In Gedanken reihte er die Ereignisse des Tages nacheinander auf: Der Appell auf dem Schulhof, das Essen mit den Panzersoldaten, der Zug der Gestreiften durch das Dorf …

„Hast du auch die Gestreiften und die Möbelwagen gesehen?“, fragte er seine Mutter.

Sie nickte. Sie fürchtete sich vor weiteren Fragen. Die Wahrheit konnte sie nicht sagen, lügen wollte sie nicht.

Peter fühlte, dass seine Mutter über die Ereignisse des Nachmittags nicht reden wollte.

„Was haben die getan? Wo kommen sie her? Wo bringt man sie hin?“, fragte er.

„Das weiß ich auch nicht … Aber nun geh dich waschen, wir wollen dann essen“, sagte sie und vermied es, ihrem Sohn in die Augen zu sehen.

Peter fragte nicht weiter.

 

In der Nacht wurde der Geschützdonner so stark, dass zeitweise die Fensterscheiben vibrierten. Der Feuerschein ferner Brände drang bis ins Zimmer. Von der Dorfstraße drang Motorengetöse herauf. Lastwagen- und Panzerkolonnen fuhren in Richtung Front. Eilig zusammengestellte Einheiten wurden zur Hauptkampflinie gebracht, um den schnellen Vormarsch der Russen zu stoppen.

Peter lag wach, versuchte die vielen Geräusche auseinande zuhalten und zu deuten.

Immer wieder drängten sich die Bilder des Nachmittags in den Vordergrund: Die von Menschen gezogenen Möbelwagen, die Wachposten der SS und immer wieder der Gestreifte, der, von der Flasche getroffen, umsank …

Unruhig wälzte sich Peter in seinem Bett. Erst gegen Morgen schlief er ein.

 

Am Morgen glich Lodenau einem Heerlager.

Die Straßen des Dorfes waren mit Kriegsfahrzeugen aller Art vollgestopft, in den Scheunen kampierten erschöpfte Soldaten, die Räume der Schule reichten nicht mehr aus, um die Verwundeten, die in der Nacht von der sich nähernden Front gebracht wurden, aufzunehmen. Im Schloss hatte sich irgendein Stab niedergelassen. Vorsichtshalber blieben die LKW beladen stehen, um, wenn es sein musste, schnell weiterfliehen zu können.

Matthias, der alte Totengräber, konnte seine Arbeit auf dem Friedhof allein nicht mehr bewältigen. Die Verwundeten, die in der Nacht gestorben waren, wurden zu viert in die Gruben gelegt.

Das Dorf war voller Unruhe.

 

Gern wäre Peter durch das Dorf gestrolcht. Seine Mutter hatte es ihm verboten.

Missmutig strich er im Hof umher, warf seinen Kaninchen Heu in die Buchten. Er überlegte, was mit den Tieren werden sollte, wenn sie fort mussten. Schade, dachte er, in diesem Frühjahr hätte die graue Zippe garantiert Junge bekommen.

Er ging zum Gartenzaun, sah die Straße hinunter.

Langsam näherte sich ein Lastwagen. Hinter dem Führerhaus sah er sechs Stahlhelme. Das Auto kam näher: Sechs Soldaten saßen in steifer Haltung neben einem Sarg, der mit einer Fahne zugedeckt war. Der Lastwagen bog von der Straße ab, fuhr zum Friedhof.

 

Es lag etwas Ungewohntes in der Luft. Man konnte es riechen. Rauchig war es, Brandgeruch.

Es war aber ein anderer Geruch, als der, der im Herbst durch das Dorf zog, wenn das Kartoffelkraut auf den Feldern verbrannt wurde.

Nirgends war Rauch zu sehen, doch Peters Nase nahm ihn wahr.

Den Rauch vom Kartoffelkraut konnte man sogar schmecken, erinnerte sich Peter.

Der Geruch, den er jetzt wahrnahm, schmeckte nicht, er kratzte in Nase und Hals, er gehörte zum nächtlichen Feuerschein und dem Donnern ferner Granateinschläge.

 

Die Gartentür wurde aufgestoßen. Peter wandte sich um: Er sah zwei Männer in schwarzen Uniformen mit SS-Runen am Kragen. Sie trugen Stahlhelme, die Sturmriemen saßen fest unter dem Kinn.

„He, du, ist jemand im Haus, deine Mutter oder sonst wer?“, fragte barsch der eine.

„Meine Mutter ist oben und unten wird Frau Wegener sein …“, sagte Peter leise.

„Kannst die Kiemen ruhig weiter auseinander machen. Ein deutscher Junge spricht laut und deutlich, zack, zack“, sagte der SS-Mann.

Sie gingen ins Haus.

Peter rannte hoch zu seiner Mutter.

Kaum hatte er ihr erzählt, was für merkwürdige Gäste im Haus waren, bummerte es gegen die Zimmertür.

Ohne auf ein „Herein“ zu warten, trat der SS-Mann in den Raum, dessen Bekanntschaft er schon unten im Hof gemacht hatte.

„Bis morgen mittag zwölf Uhr müssen Sie das Dorf verlassen haben. Wenn Sie keinen haben, der Sie mit dem Wagen mitnimmt, müssen Sie mit der Bahn fahren.“ Er drehte sich auf dem Absatz um, verließ das Zimmer und ging polternd die Treppe hinunter.

„Dann werden wir also mit der Bahn fahren“, sagte die Mutter und Peter wunderte sich, dass sie es so ruhig sagte.

Die Mutter nahm den Bettensack aus dem Kleiderschrank, stopfte die Kopfkissen hinein.

Die Tür ging auf, die Wirtsfrau kam herein, setzte sich auf das Bett und redete aufgeregt los: „Wie wird das alles nur ausgehen? Wir müssen doch den Krieg gewinnen. Der Führer hat doch noch seine Wunderwaffen. Was glauben Sie, gewinnen wir den Krieg? Sie müssten das doch wissen, ihr Mann ist doch an der Front …“

Während die dicke Frau, ohne Luft zu holen, redete, wackelte das große Parteiabzeichen, das auf der Kragenecke ihrer weißen Bluse befestigt war, hin und her.

„Mein Mann hat lange nicht geschrieben“, das war alles, was Peters Mutter zum Geschwätz der dicken Frau sagte.

Peter wunderte sich, dass nun, wo es endlich losgehen sollte, er sich nicht besonders darüber freute.

Lustlos half er seiner Mutter beim Packen.

Sie hatte den großen Koffer noch einmal ausgepackt und alles Entbehrliche aussortiert. Es blieb noch viel freier Raum.

„Wer weiß, wie lange wir unterwegs sein werden, da wird es gut sein, wenn wir den Platz, der jetzt noch im Koffer ist, mit Proviant voll packen“, sagte sie.

„Darf ich zu Dieter gehen?“, fragte Peter.

Seine Mutter erlaubte es ihm.

 

Dorfbewohner waren nicht auf der Straße zu sehen, überall wimmelte es von Soldaten.

Vor der Schmiede, in der Dieters Vater noch das Schmiedefeuer schürte, stand ein Panzer. Zwei Soldaten, in ölverschmierten Kombinationen, machten sich an der einen Kette zu schaffen.

Von Dieter war weit und breit nichts zu sehen. Peter suchte im Hof und im Haus. Endlich fand er ihn hinter der Scheune. Neben der Tür zum Hühnerstall saß er auf einem Hauklotz und Peter kam es so vor, als würde sein Freund weinen.

Als Dieter Peter bemerkte, tat er so, als sei ihm etwas ins Auge geflogen.

„Waren sie bei euch auch schon?“, fragte Peter.

„Ja, bei uns waren sie auch“, sagte Dieter und es klang böse.

„Dann sei doch froh, morgen geht es los und du heulst.“

Dieter wurde wütend: „Du Berliner Eckenscheißer, ich habe überhaupt nicht geheult."

Er wischte sich wieder über die Augen und fuhr fort: „Sie haben unserem Großvater eins über den Schädel gegeben, Hunde, die.“ Nun gab er sich keine Mühe mehr, seine Tränen zurückzuhalten.

Peter war es peinlich, seinen Freund weinen zu sehen.

„Du, Dieter, ich hab' ein Geheimnis. Soll ich es dir verraten?“

„Was sollst du schon für ein Geheimnis haben, Angeber. Hast vielleicht eine tote Maus versteckt“, sagte Dieter, aber seine höhnende Antwort verriet Interesse.

„Los, komm mit, ich zeige dir was."

Peter schob Dieter vom Hauklotz.

Sie gingen zur Papierfabrik. Dieters Neugier stieg. Er war überrascht, als sie vor Peters Höhle standen. Er betrachtete das Bauwerk von allen Seiten, sein Gutachten schmeichelte Peter.

„Erzähl mal, was sie mit deinem Großvater gemacht haben“, forderte Peter Dieter auf.

Aus dem, was Dieter erzählte, ergab sich dies:

Als die SS-Leute kamen, war nur der Großvater im Haus. Sie sagten zu ihm: „Na, Alter, bis morgen müsst ihr euren Krempel zusammengepackt haben und dann ab, durch die Mitte.“

Da hatte der Großvater gesagt: „Was soll's? Krieg ist jetzt überall. Ich bleibe auf meinem Hof. Wenn der Krieg vorbei ist, will's auch weitergehen. Wer soll den Acker bestellen? Brot braucht es immer.“

„Was, du alter Graupel, du willst für die Russen Brot backen", brüllte der SS-Mann.

Der Großvater drehte sich um, nahm die Pferdepeitsche von der Wand und wollte sie dem SS- Mann um die Ohren knallen.

Da gaben sie ihm eins mit dem Gewehrkolben über den Schädel.

Dieter, der das alles mit angesehen hatte, holte schnell seinen Vater aus der Schmiede. Der beruhigte die beiden. Fluchend gingen sie vom Hof.

 

In Peter stieg Wut hoch, als Dieter mit seiner Geschichte zu Ende war.

„Zwei Junge gegen einen Alten, feige Hunde sind das“, sagte er.

„Aber alle sind nicht so, die Panzersoldaten von gestern hätten das nicht gemacht", sagte Dieter.

Sie krochen in die Höhle. „Wenn sich unsere Soldaten zurückziehen müssen, dann zerstören sie immer alle wichtigen Bauwerke, damit der Feind keinen Nutzen davon hat“, sagte Dieter. Bevor sie das Fabrikgelände verließen, zerstörten sie mit wütendem Eifer die Höhle.

 

Am Abend gingen sie zu Klarek, einem Bauern, bei dem Peters Mutter ab und zu bei der Ernte und im Stall geholfen hatte.

Klarek hatte ein lahmes Bein, deshalb musste er nicht wie die anderen Männer seines Jahrgangs Soldat sein.

Mit seiner Frau und seiner Schwester lebte er in dem kleinen Bauernhaus in unmittelbarer Nähe des Flusses. Seine Schwester war von Geburt an stumm, sie brachte nur ein paar Laute heraus, die klangen wie „Nanudidanu“. Ihre Gesten und ihre Mimik, mit denen sie ihr „Nanudidanu“ begleitete, ließen ahnen, was sie meinte.

Auf Klareks Hof stand schon der beladene Pferdewagen bereit.

Am Vortag hatte der Bauer heimlich ein Schwein geschlachtet.

Sie saßen in der Küche. Die Fenster zum Hof hinaus waren mit Decken verhangen, damit kein Lichtschein nach draußen dringen konnte. Schweigend aßen sie. Die Stumme saß auf einem Schemel neben dem Herd, Tränen liefen ihr über die Wangen, ab und zu kam das unartikulierte „Nanudidanu“ aus ihrer Kehle.

Peter fühlte sich durch die Anwesenheit der Stummen bedrückt. Die Traurigkeit, die von ihr ausging, übertrug sich auf ihn.

Bevor Peter und seine Mutter das Haus der Klareks verließen, legte die Frau des Bauern ein paar in Zeitungspapier gewickelte Pakete auf den Küchentisch. „Für die Reise“, sagte sie, „Speck, Schinken und ein bisschen Wurst, damit ihr unterwegs nicht hungern müsst.“

An der Hoftür verabschiedeten sie sich. Und die Abschiedsworte klangen so endgültig, als wäre man sich sicher, sich niemals wiederzusehen. Sie waren schon an dem Tor, das vom Hof zur Straße führte, als die Bauersfrau nachgelaufen kam und Peter ein frisch gebackenes, großes, rundes Brot unter den Arm schob.

Auf der Dorfstraße herrschte Dunkelheit, unheimlich düster standen die Häuser links und rechts, nur der Himmel hinten über dem Fluss zeigte sein flackerndes Rot.

 

Von den Erwachsenen schlief in dieser Nacht keiner. Auch die Kinder wurden von der Unruhe erfasst. Überall herrschte Aufbruchsstimmung. Eilig wurde noch geschlachtet, Brot gebacken.

Auch Peters Mutter war die ganze Nacht damit beschäftigt, aus dem fetten Speck Schmalz auszulassen. Gegen Morgen standen sieben Büchsen mit dem erstarrten Schmalz auf dem Tisch. Im Koffer fanden sie Platz.

 

Beim Schmied war die ganze Nacht gestritten worden. Dieters Großvater weigerte sich, das Dorf zu verlassen.

„Ich bleibe“, hatte er gesagt, „und wenn's hier losgeht, gehe ich in den Wald. Wenn alles vorbei ist, komme ich wieder. Etwas anderes kommt nicht in Frage, basta! Geht ihr nur, treibt euch wie die herrenlosen Hunde auf der Landstraße rum. Der Krieg ist jetzt überall, da könnt ihr hinkrauchen, wo ihr wollt, er wird euch immer auf den Fersen bleiben …“

Alles Zureden half nicht, der Großvater ließ nicht mit sich handeln.

Viele aus dem Dorf wären lieber geblieben, die Furcht vor den drohenden Kämpfen und nicht zuletzt der Befehl der SS, ließen sie ihre Wagen beladen.

 

Klareks stumme Schwester war am Abend noch mal durch die Stallungen und durch alle Räume des Hauses gegangen, als wollte sie sich von allem verabschieden. Sie sagte unter Tränen zum Bauern und zur Bäuerin „nanudidanu“. Zuletzt ging sie in die Scheune.

Am Morgen kam sie nicht wie gewohnt aus ihrem Zimmer. Die Bäuerin wollte sie holen, sie fand das Bett unberührt vor.

Nach längerer Suche fand der Bauer seine Schwester: Sie hing an einem Balken in der Scheune.

 

In allen Häusern des Dorfes saßen in dieser Nacht die Angst und die Hoffnungslosigkeit mit an den Tischen.

*

Im Morgengrauen wurde der Treck auf der Chaussee nach Rothenburg zusammengestellt. Wagen nach Wagen traf ein. Das Ziel der Fahrt war allen unbekannt, nur die Richtung stand fest: Nach Westen, immer nach Westen …

Gegen Mittag stand der Zug noch immer an der gleichen Stelle, wo er sich morgens formiert hatte.

Ein feiner Nieselregen ging nieder, auf der gefrorenen Erde bildete sich eine Eisschicht.

Die Pferde begannen unruhig zu werden, Kinder weinten.

Dieter saß auf dem Wagen, in Decken gehüllt und dachte an seinen Großvater, der am Morgen verschwunden war.

Dieter fand dieses Warten darauf, dass sich der Treck endlich in Bewegung setzen würde, langweilig. Er beneidete seinen Freund Peter, der sicher schon im Zug saß.

 

Auf den Bahnhof von Lodenau herrschte Gedränge, wie es der Bahnsteig seit seinem Bestehen noch nicht erlebt hatte.

Frauen saßen auf Koffern und Säcken. Alte Männer schimpften auf die Kinder, die zwischen den Wartenden herumtobten.

Immer wieder richteten sich die Blicke der Leute auf dem Bahnsteig in die Richtung, aus der sie den Zug erwarteten.

Um neun Uhr hätte der Zug kommen sollen. Es wurde elf, zwölf, nichts geschah.

Der Bahnhofsvorsteher zuckte mit den Schultern, wenn er gefragt wurde.

Nieselregen und eisiger Wind ließen die Menschen erschauern.

Peter dachte an seinen Freund Dieter, der sicher schon längst mit dem Wagen durch die Gegend schaukelte. Er wünschte sich, sie wären auch mit dem Treck gefahren.

Peter trug einen Rucksack auf dem Rücken, vor die Brust hatte er die Schulmappe geschnallt. Seine Mutter hatte den großen Koffer und den Bettensack zum Bahnhof geschleppt.

Als sie von zu Hause aufgebrochen waren, hatte Peter geglaubt, soviel Gepäck wie sie mit auf die Reise nahmen, würden die anderen nicht haben.

Jetzt auf dem Bahnhof stellte er fest, dass andere viel mehr Gepäck bei sich hatten.

Sogar Waschwannen, vollgepackt mit Hausrat, schleppten einige mit.

Peter ging auf Erkundungstour. Er stieg über Kisten und Koffer, lugte durch die offene Tür des Dienstraumes. Der Bahnhofsvorsteher brüllte in einen Telefonhörer. „Hallo! Hallo! Meldet euch! Hört ihr denn nicht …“ Er schlug wütend auf die Gabel des Telefons.

„Na, endlich. Ja, habe verstanden; der Zug ist vor zwanzig Minuten aus Pribus abgefahren, die letzten drei Wagen sind mit Verwundeten belegt …“

Peter hörte nicht länger zu. Er rannte zu seiner Mutter und erzählte, was er erlauscht hatte. Dann sah Peter zwei Soldaten, die auf den Bahnsteigkante saßen. Aus ihrer Richtung drang Musik an sein Ohr. Er drängelte sich zu ihnen durch.

Neben den Schienen stand ein schwarzer Kasten mit verschiedenen Knöpfen, aus dem die Musik kam. Einer der Soldaten bemerkte Peters Interesse für den Empfänger. Er winkte ihn heran.

„Der wäre wohl was für dich“, sagte der Soldat. Peter nickte, blieb aber in einiger Entfernung stehen. Seit der Begegnung mit den SS-Soldaten, die Dieters Opa geschlagen hatten, hatte er das blinde Vertrauen zu allen Uniformierten verloren.

„Komm ruhig näher, sieh dir die Kiste genau an, die beißt nicht“, forderte der Soldat Peter auf.

Er ging näher, gern hätte er an den Knöpfen gedreht.

Aus dem Gerät kam die monotone Stimme eines Nachrichtensprechers. Es war die Rede davon, dass es den Truppen der Wehrmacht gelungen sei, den Vormarsch der Russen bei Zessendorf zu stoppen …

Der Soldat beugte sich zum Gerät herunter, drehte an den Knöpfen, bis Musik aus dem Lautsprecher kam.

„Das gefällt dir sicher besser. Nachrichten sind nichts für kleine Jungen, die verstehen ja wir nicht mal“, sagte der Soldat.

Die Musik gefiel Peter besser, aber von wegen, kleiner Junge …

„Bin ich vielleicht ein Baby“, sagte er.

„Lass man gut sein, so war das nicht gemeint.“ Der Soldat klopfte Peter auf die Schulter.

14. Februar 1945

Aus dem Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht

HEERESGRUPPE MITTE: ABWEHRERFOLG BEI DER ARMEEGRUPPE HEINRICI. VERBESSERUNG DER LAGE BEI SCHWARZWASSER: WESTLICH BRESLAU KONNTE DER GEGNER SEINE BEIDEN BRÜCKENKÖPFE VEREINIGEN. SÜDLICH DER BRÜCKE UND IM UMKREIS DER STADT WURDEN DIE ANGRIFFE ABGEWIESEN. VOM WESTEN EIGENER VORSTOSS. VOM FEINDE BESETZT WURDEN STRIEGAU UND JAUER SOWIE GOLDBERG, WO DER GEGNER VOM WESTEN EINDRANG. FERNER GELANG ES IHM, AN MEHREREN STELLEN DIE QUEIS ZU ÜBERSCHREITEN UND IN DEN WALD NÖRDLICH BUNZLAU EINZUDRINGEN. SPROTTAU IN DER HAND DES FEINDES, EBENSO SORAU, JEDOCH WURDE BEI SAGAN UND SOMMERFELD DER FEIND ABGEWIESEN. VON GLOGAU KEINE MELDUNG …

 

Aus der pribusser Richtung war der schrille Pfiff einer Lokomotive zu hören, zwischen den Kiefern stieg eine weiße Dampfwolke auf. Der Zug tauchte aus der Kurve auf, näherte sich mit hoher Geschwindigkeit dem Bahnhof.

Die Menschen nahmen ihr Gepäck auf, drängelten und schubsten, um sich gute Ausgangspositionen für die Erstürmung des Zuges zu schaffen.

Flüche wurden laut.

Peter hatte sich seine Gepäckstücke vor die Brust und auf den Rücken geschnallt, seine Mutter nahm Bettensack und Koffer auf. Sie hatten einen guten Platz dicht an der Bahnsteigkante.

Der Zug fuhr mit kaum gedrosselter Geschwindigkeit in den Bahnhof ein. Von der Lokomotive leuchteten große, weiße, Buchstaben: RÄDER MÜSSEN ROLLEN FÜR DEN SIEG!

Und diese Räder rollten gut. Der Zug steigerte sein Tempo, durchraste den Bahnhof, verschwand in der Ferne zwischen den Bäumen des Waldes.

Erst waren die Leute auf dem Bahnsteig verwundert und sprachlos. Alle starrten in die Richtung, in die der Zug verschwunden war.

Dann begann ein wildes Geschimpfe. Das Gepäck wurde wieder auf den Perron gestellt. „Wenn das nun der Letzte war“, murmelte ein alter Mann.

Peter ging wieder zu dem Soldaten.

„Wir werden wohl noch ein bisschen warten müssen. Dieser Zug war eben ein D-Zug, der hält auf kleinen Bahnhöfen nicht“, versuchte der Soldat zu scherzen.

Es regnete jetzt stärker, die Flüchtlinge drängten sich unter dem überdachten Teil des Bahnhofs zusammen.

Der Bahnhofsvorsteher wurde bedrängt, er sollte Auskunft geben, ob überhaupt noch ein Zug kommen würde. Die Wut der Leute richtete sich gegen den Mann mit der roten Mütze.

Am späten Nachmittag verstärkte sich der Kanonendonner aus östlicher Richtung, deutlich konnte man die einzelnen Einschläge hören. Hinter dem Wald zogen dicke Rauchschwaden gegen den grauen Himmel.

Die Stimmung der Wartenden sank immer mehr. Ihre Wut schlug um in Angst und Verzweiflung. Frauen weinten, die wenigen Männer fluchten.

Peters Herz begann schneller zu schlagen: Die Front war nicht mehr weit; manchmal war ihm, als würde er das Knattern von Maschinengewehren hören.

Wenn hier gekämpft wird und wir stehen hier noch immer herum …

Peter verdrängte diesen Gedanken. Er begann zu weinen.