Impressum

Christiane Baumann

Die toten Mädchen vom Dreesch

Nora Grafs zweiter Fall – Schwerin-Krimi

 

ISBN 978-3-95655-944-0 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-943-3 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto der Autorin: Sylvana Warsakis

Lektorat: Dr. Volkhard Peter

 

Mein Dank für Hinweise und Zuspruch gilt Ulrike, Bettina und Jan.

Kriminalhauptkommissar Michael Schubbe von der Schweriner Polizeiinspektion danke ich für Antworten auf alle meine Fragen.

 

Alle handelnden Personen und ihre Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Manche Örtlichkeiten und Gegebenheiten sind im Buch anders als im wirklichen Leben.

 

© 2018 EDITION digital
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1   Erste Woche, Nacht zu Donnerstag

Nora Graf wachte mitten in der Nacht auf, froh, ihrem Albtraum entkommen zu sein. Sie rätselte ein paar Sekunden, wo sie war. Obwohl sie es deutlich fühlen konnte: Sie lag allein in Toms überbreitem Bett. Seiner Spielwiese. Wie viele Frauen mochten sich schon auf seiner Matratze getummelt haben? In eine von ihnen war er sicher verliebt gewesen. Verheiratet war er nie gewesen und hatte keine Kinder. Warum nicht? Tom sah gut aus, war sportlich und wild auf Sex. Und er konnte charmant sein. Außerdem gehörten ihm die blauesten Augen, die es unter Schwerins Sonne gab.

Nora drehte sich auf die Seite. Wie sehr sich ihr Leben innerhalb weniger Monate verändert hatte. Der Schock ihrer Strafversetzung aus einer Mordkommission der Berliner Polizei war überwunden und sie hatte sich in Schwerin eingewöhnt. Seit vier Wochen war sie Mieterin einer kleinen Wohnung in der Schelfstadt. Ihr Mann Robert und Tochter Daphne lebten weiter in Berlin und nahmen es inzwischen hin, auch mehrere Wochen von Nora getrennt zu sein. Den wahren Grund, warum Nora die Wochenenden immer öfter in Schwerin verbrachte, ahnten beide nicht.

Dass sie ausgerechnet mit einem Kollegen eine Liebelei hatte, noch dazu mit einem jüngeren, kam ihr manchmal vor wie eine Zeitbombe, die ihr demnächst um die Ohren fliegen würde. Doch Nora verbat sich jeden Gedanken an die Zukunft. Sie wollte die Zweisamkeit mit Tom genießen, solange sie dauerte. In der Ehe hatte sie in den letzten Jahren vieles vermisst, vor allem die körperliche Nähe und Leidenschaft. Mit Tom erlebte sie beides neu und auf eine besonders intensive Weise. Es würde ihr sehr schwer fallen, darauf zu verzichten. Aber irgendwann musste sie Robert die Affäre gestehen. Und was dann? Wieder einmal konnte Nora sich selbst keine Antwort geben. Plagte sie deshalb dieser blöde Traum? Sie irrte nachts in Berlin auf dem Bahnhof Ostkreuz herum auf der Suche nach dem richtigen Bahnsteig, nach dem Zug, den sie erreichen musste, um nach Hause zu kommen, zu Robert und Daphne. War der Traum ein Zeichen? Wollte er ihr sagen, dass sie die Orientierung in ihrem Leben verloren hatte, den Weg zu ihrem eigentlichen Zuhause nicht mehr fand?

 

Die Schlafzimmertür wurde leise geöffnet, und Tom kroch ins Bett zurück. Er drückte sich an Noras nackten Rücken. Sie erschauerte; wie kalt er geworden war. „Du warst lange weg.“

„Sehnsucht?“ Er fuhr sacht über ihre Haut. „Oder denkst du etwa an diesen Typen?“

„An wen?“

„Diesen nackten Kerl! Spukt der dir im Kopf herum?“

„Blödsinn.“

„Wenn ich diesen Mistkerl erwische“, plusterte Tom sich auf, „du hättest ihn verhaften sollen. War schließlich Erregung öffentlichen Ärgernisses. Verhaften! Auf der Stelle.“

Tom war eifersüchtig, wie süß. Als Nora am späten Abend die paar Meter vom Parkplatz zu Toms Wohnblock ging, rannte ein Nackedei im Affenzahn an ihr vorüber. Kaum, dass sie sein Gesicht sehen konnte, bevor die Dunkelheit ihn verschluckte. Oder hatte er sich umgedreht und sie angegrinst? Langes kräftiges blondes Haar und eine leichte Nikotinfahne blieben ihr in Erinnerung. „Ich verhafte niemanden, nur weil er seine Klamotten vergessen hat, Tom. Stell dir vor, er musste vor dem tollwütigen Ehemann aus dem Schlafzimmerfenster flüchten oder was Ähnliches.“

„Wenn jeder Polizist die Staatsgewalt so lässig vertritt wie du, dann gute Nacht.“

„Kannst dich bei meinem Chef über mich beschweren.“

„Danke für den Tipp.“ Er begann, ihren Bauch zu massieren, drehte sie auf den Rücken, und seine Hand glitt zwischen ihre Schenkel. Er streichelte sie, und Nora ließ sich von seiner Leidenschaft mitreißen. Es war schon fast gespenstisch, wie genau er wusste, was sie sich wünschte oder was sie brauchte. Sie stöhnte laut auf und vergaß alles um sich herum. Tom warf die Bettdecke auf den Boden, und ihre Körper vereinten sich. Erschöpft blieben sie danach liegen, er mit dem Kopf auf ihrer Brust. Zärtlich kratzte ihre Hand über seinen Rücken. „Es war wunderschön, Tom. Nun schlafen wir, ja?“

„Wenn’s sein muss.“ Tom deckte Nora sorgfältig zu, küsste sie, und wenig später waren beide eingeschlafen.

 

Was Nora in dieser Nacht ein zweites Mal hochfahren ließ, war kein Albtraum. Sie hatte sich erschrocken, aber worüber? Tom schnarchte leise neben ihr. Nora schaute auf den Wecker: vier Minuten nach vier. Ihr Mund war trocken, ein Schluck Wasser würde helfen. Bevor der Schlaf sie wieder zu überwältigen drohte, gab Nora sich einen Ruck. Auf Zehenspitzen schlich sie aus dem Zimmer. In Toms Wohnung kannte sie sich selbst im Dunkeln aus wie in ihrer eigenen. Es ging über den Flur geradewegs in die Küche. Das Glas Wasser trank sie in einem Zug leer.

Auf dem Rückweg packte Nora ein beunruhigendes Gefühl, und sie schwankte, ob sie ihm nachgehen sollte. Meist war Schlimmes geschehen, wenn sie diese ungute Beklommenheit überkam. Das letzte Mal geschah das vor einem halben Jahr, als sie in der Lübecker Straße eine Leiche aufspürte. Aber bei Tom? Was sollte hier Schreckliches passiert sein? Tom schlief friedlich im Bett, und sie würde sich gleich an ihn kuscheln. Ein unbekannter Geruch in der Luft hielt sie zurück. Ein fremdes Parfüm. Eine Sinnestäuschung? Nora brauchte Gewissheit, dass alles in Ordnung war und knipste das Licht im Flur an. Sie hörte einen markerschütternden Schrei.

War sie es, hatte sie geschrien? Nora sah, was sie aus der Fassung gebracht hatte. Unmittelbar vor ihr auf dem Boden ein menschlicher Körper, fast vollständig eingerollt in eine Wolldecke! Nach den Umrissen und den teilweise sichtbaren langen dunkelbraunen Haaren war das eine Frau!

Ein Satz nach hinten, ein Griff an die Hüfte nach ihrer Waffe – das war alles eins. Nora war nackt und schutzlos und vor ihr eine verletzte oder tote Frau! Im nächsten Augenblick war Tom im Flur, nackt wie sie. Entgeistert starrte er auf das Bündel am Boden.

Oh Gott, seine unbegreifliche Furcht vor Toten! Bisher war eher beiläufig zwischen ihnen die Rede davon gewesen. Jetzt wurde Toms Leichenangst ganz greifbar und offensichtlich für Nora. Doch um ihn würde sie sich später kümmern; vielleicht konnten sie der Frau noch helfen. Nora näherte sich dem reglosen Körper. Mit den Fingerspitzen hob sie die Decke an. Aber das war ja keine erwachsene Frau, das war beinahe noch ein Mädchen! Nora fühlte nach dem Puls, nichts. Keine Atmung. Eine Mädchenleiche in Toms Wohnung!

„Und? Ist sie tot?“, krächzte Tom.

„Ja, tot. Keine Leichenstarre; sie ist erst vor kurzer Zeit umgebracht worden. Kennst du sie?“

Mit ungelenken steifen Schritten näherte sich Tom. Ein Sekundenblick genügte ihm. Er schüttelte heftig den Kopf, schaltete den Rückwärtsgang ein und presste sich an die Wand. Er richtete seine blauen Augen auf Nora. Flehende Augen. „Eine Leiche, Nora, eine Leiche bei mir im Flur“, stammelte er, „ich will, dass sie verschwindet. Die muss weg, weg, weg!“

Ein abwegiger Gedanke durchzuckte Nora. Tom hatte eine Weile das Bett verlassen. War er solange auf Toilette? „Hast du was damit zu tun, Tom?“

„Bist du verrückt? Ich?! Denkst du, dass ich sie getötet habe, Nora? Ich, also ich, ein Mörder?“

„Beruhige dich. Lass uns nachsehen, ob jemand im Bad oder Wohnzimmer ist, Tom. Schaffst du das?“

Tom fasste sich ein Herz, holte ein Messer aus der Küche, checkte die Räume und stellte sich wieder dicht zu Nora. „Niemand da. Nur wir, Nora. Und sie.“

„Okay. Ziehen wir uns an und rufen die Kollegen.“

„Warte! Ich will wissen, wie die Leiche hier reinkam.“ An der Wohnungstür entdeckte Tom Spuren gewaltsamen Eindringens. War kein Problem für ihn, denn er arbeitete beim Einbruchsdezernat. „Geräuschlos kann das nicht abgegangen sein. Und wir haben es vertrieft, Nora. Das glaubt uns keiner.“ Er fluchte. „Schiet, verdammter! Wie wollen wir das erklären?“

„Wir sagen die Wahrheit, Tom. Was sonst! Wir haben nichts bemerkt, weil wir sehr intensiv miteinander beschäftigt waren. Wie auch immer, zuerst die Meldung.“ Nora wunderte sich, wie nüchtern sie klang. Als wäre es das Normalste der Welt, bei Tom ein totes Mädchen zu finden. Vor ihren Augen sah sie Chef Hansen, wie er Toms Bude auf den Kopf stellen ließ. Was würden sie ihm erzählen? Sie schliefen miteinander, während höchstwahrscheinlich jemand in die Wohnung einbrach, um dort die Leiche einer jungen Frau abzulegen? Hörte sich das glaubwürdig an?

„Einen Moment“, bat Tom.

„Wozu denn! Wir haben keine Minute zu verlieren. Hansen muss her! Sofort!“

„Ja, ja, sicher. Aber ich, ich muss nachdenken.“

„Worüber?“

 Er druckste herum. „Können wir das Mädchen irgendwo anders hinbringen?“

„Bist du wahnsinnig? Die Leiche wegschaffen? Spuren vernichten? Ohne mich, Tom. Du bist selbst Polizist und weißt, wie idiotisch das wäre. Es bleibt alles, wie es ist“, fügte sie barsch hinzu.

Nora kleidete sich hastig an, Tom dagegen machte keine Anstalten, es ihr gleich zu tun. „Los jetzt“, drängte sie ihn und schmiss ihm Hemd und Hose hin. Erst nach einigem Zureden stieg Tom in seine Klamotten. Bevor Nora ihren Chef informieren konnte, überraschte Tom sie mit einem neuen Vorschlag: „Fahr nach Hause, ich rufe an und sage, dass ich in der Nacht allein gewesen bin.“

„Das ist absolut irre! Schalt mal deinen Kopf ein! Die Kollegen werden sehr schnell feststellen, dass ich bei dir war. Hier sind überall meine Spuren. Und Hansen ahnt eh längst was von uns. Wozu das Theater. Ich bleibe!“

„Du willst doch am Fall mitarbeiten, oder?“

„Was ich will, spielt keine Rolle. Ich werde meinen Chef nicht anlügen. Und wenn ich abhaue, vergrößere ich deine und meine Schwierigkeiten.“

„Ärger kriegen wir so oder so.“ Sein Gesicht war bleicher als gewöhnlich, in seinen Augen ein unbekanntes Flackern. „Du wirst tun, was ich sage!“, fuhr er sie an.

„Das werde ich schön bleiben lassen. Das ist eine dumme Idee, Tom. Benutze endlich deinen Verstand!“

Kaum zu glauben, was Tom von sich gab. Sie waren wichtige Zeugen in diesem Fall, das musste ihm bewusst sein. Wieso redete er einen derartigen Schwachsinn! Wegen seiner übermächtigen Angst vor Leichen? Brachte das tote Mädchen ihn völlig durcheinander? Nora wollte ihn berühren, doch er stieß sie von sich. „Ich brauche hier keine oberschlaue Mordermittlerin. Ich rufe Hansen an! Mach ein einziges Mal, was ich dir sage. Du fährst nach Hause, basta!“

Sie wusste, dass Tom hartnäckig sein konnte, aber derart unerbittlich hatte sie ihn nie zuvor erlebt. Er schaffte es tatsächlich, dass sie eilig alles zusammensammelte, was ihr gehörte; sie stopfte auch das benutzte Laken in ihre kleine Reisetasche und ließ Tom allein zurück.

 

Wütend, weil sie sich hatte rausschmeißen lassen, warf Nora die Tasche in den Kofferraum ihres Clio. Sie fuhr das Auto ein Stück von Toms Wohnblock in der Stauffenberg-Straße weg. Nora wollte außerhalb der Polizeiabsperrung bleiben, die errichtet werden würde. Sie ärgerte sich über Tom und über sich selbst. Es war ein großer Fehler, den Fundort der Leiche verlassen zu haben. Wenn Tom wieder klar im Kopf war, würde er es genauso sehen. Nora jedenfalls war fest entschlossen, Hansens Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Er müsste sie in wenigen Minuten anrufen, wenn Tom, wie versprochen, den ungewöhnlichen Fund gleich gemeldet hatte. Nach drei Minuten klingelte ihr Handy.

„Wir haben eine weibliche Leiche, Frau Kollegin.“ Und betont langsam und überdeutlich: „Speziell daran ist, die Tote liegt in der Wohnung von Thomas Weller.“

„Chef, ich muss Ihnen mitteilen, dass ich heute Nacht bei ...“

„Stopp!“, bellte ein kurzatmiger Hansen in ihr Ohr. „Wo immer Sie sind, Sie fahren nach Hause und bleiben dort. Verhalten Sie sich ruhig und kein Kontakt mit irgendwem! Wir reden morgen. Ich habe mich jetzt um Ihren Freund Weller zu kümmern. Gute Nacht.“

 

Widerstrebend hielt sich Nora an Hansens Weisung und fuhr zu sich in die Schelfstraße. Dass sie sich von Tom hatte wegschicken lassen ... Unverzeihlich! Sie wollte bei den Kollegen sein, beim Beantworten der Fragen helfen, die sich stellten. Wer war diese junge Frau, wer hatte sie getötet, und wieso lag sie in Toms Flur?

Die Eltern der Toten lebten ihren normalen Alltag, ohne im Geringsten zu ahnen, dass ihre Tochter umgebracht worden war. Nora hatte selbst eine Tochter und konnte ein wenig erfühlen, welches Leid der Familie bevorstand.

2   Donnerstag

Früh um sieben war Nora auf der Dienststelle. Berthold Hansen stand vor seinem Büro im Gespräch mit Holger Klein, einem engen Mitarbeiter. Beide waren überdurchschnittlich groß; im Alter dagegen unterschieden sie sich beachtlich: Hansen Anfang fünfzig und Holger in den Dreißigern. Hansen war korpulent und wirkte behäbig. Ein Eindruck, der trog. Er konnte seine Massen noch sehr behänd bewegen, wenn er denn wollte oder musste. Holger Klein war schlaksig und immer in Bewegung. Seine ständige Unruhe ging Nora auf die Nerven, wie seine ewigen Befürchtungen, übergangen oder nicht ernst genommen zu werden. Sie mochte ihn trotzdem, besonders sein lockiges schwarzes Haar, und manchmal sogar seine Naivität.

Holger war ein Kumpel von Tom. Möglich, dass Hansen ihn deswegen von den Ermittlungen ausschließen würde. Während Nora überlegte, wen von den beiden sie wegen Tom ansprechen sollte, löste sich Holger von Hansen und steuerte zielstrebig auf sie zu.

„Guten Morgen, Frau Graf“, grüßte er förmlich, statt ihr wie sonst ein ‚Tach‘ oder ‚Moin‘ hinzuwerfen.

„Morgen, wo ist Thomas Weller? Ich kann ihn nicht erreichen.“

Holger verblüffte ihre Direktheit. „Äh ja, der ist, also Hansen wird ihn gleich noch mal ausführlich befragen. Er persönlich.“

Aus seiner enttäuschten Miene schloss Nora, dass er diese Aufgabe gern übernommen hätte. „Ist logisch, dass es der Chef selbst macht. Sie sind ja mit Thomas Weller befreundet.“

„Und Sie leider auch“, entgegnete er. „Diese schreckliche Geschichte ausgerechnet bei Tom!“

„Ja, ausgerechnet. Schlimmer ist, dass eine junge Frau ermordet wurde. Ist sie identifiziert?“

„Nein, sie hatte keinen Ausweis oder Handy oder etwas Persönliches bei sich. Dem ersten Anschein nach wurde die Frau von hinten erschlagen. Die Obduktion läuft.“ Er rückte an Nora ran und senkte seine Stimme. „Tom redet sich um Kopf und Kragen.“

„Wie das?“

„Es klingt etwas verrückt, was er zum Ablauf der Nacht und zum Auffinden der Leiche sagt. Unklar, ob er wirklich keine Ahnung hat oder sich nur dumm stellt. Außer der Leiche wurden frische Spuren einer anderen weiblichen Person in seiner Wohnung gefunden. Idiotischerweise streitet Tom jeden aktuellen Frauenbesuch ab.“ Holger berührte Nora zum ersten Mal, seit sie zusammen arbeiteten, sacht am Arm. Seine nächsten Worte raunte er verschwörerisch: „Aber Sie werden ihm doch sicher helfen.“ Sie signalisierte ihm mit einem Kopfnicken, dass sie genau das vorhatte.

 

Hansen wischte sich gerade den Schweiß vom Gesicht, als Nora sein Büro betrat. Gleich darauf glänzte seine Stirn wieder. Für Nora ein Zeichen, dass ihr Chef unter Stress stand. Ermittlungen in einem Mordfall, in den ein Polizist verwickelt war, waren heikel und wurden von allen Seiten argwöhnisch beobachtet.

Wie üblich, wenn sie unter sich waren, duzten Hansen und Nora sich. Erst seit kurzem wussten beide, dass sie Cousin und Cousine waren. Vor den Kollegen verschwiegen sie ihr verwandtschaftliches Verhältnis, um möglichen Tratsch zu verhindern.

Nora begann ohne Umschweife. „Meine Aussage zu gestern Nacht, Berthold. Ich war bei Thomas Weller. Und ich habe die Leiche im Flur entdeckt. Die Tote ist mir unbekannt.“

Hansen steckte sein feuchtes Taschentuch weg und schaute sie stumm mit mürrischem Blick an.

„Die frischen Spuren einer weiblichen Person, die ihr bei Tom gefunden habt, waren von mir, Bert. Ich war gestern Nacht bei ihm. Das wollte ich dir sagen, bevor du mich nach Hause geschickt hast.“

„Bravo! Bin ich etwa schuld, dass du dich vorher von einem Leichenfundort verdrückt hast?!“

„Meine Entscheidung, mein Fehler.“

Hansen glaubte was anderes. „Der Weller wollte, dass du abhaust, stimmt’s? Behauptet stur, er wäre allein gewesen in der Nacht. Warum lügt er?“

„Tom wird schon beim Anblick einer Leiche panisch. Ich nehme an, das weißt du. Und dann die Steigerung – ein Mordopfer in seinen eigenen vier Wänden. Er ist total durchgedreht. Das hat mich einen Moment aus der Fassung gebracht, und ich habe mich davon jagen lassen. Bin übrigens in der Nähe geblieben, hab mit dem Auto ein paar Meter weiter unten in der Straße geparkt und wäre in zwei Minuten wieder zurück bei Tom gewesen. Berthold, gib Tom etwas Zeit. Er wird sich besinnen und dann alles wahrheitsgemäß berichten.“

„Das hoffe ich für ihn. Wer von euch beiden war zuerst bei der Toten?“

„Ich, sagte ich doch.“

„Wann?“

„Fünf, sechs Minuten nach vier.“

„Wieso diese präzise Zeitangabe?“

„Als ich aufwachte, hab ich auf den Wecker geguckt. Es war vier Minuten nach vier. Solche Zahl merkt man sich. Ich hatte Durst und bin in die Küche. Auf dem Rückweg roch ich im Flur ein fremdes Parfüm. Ich habe das Licht eingeschaltet und sah einen in einer Decke eingewickelten Körper vor mir liegen.“

„Heftiger Schock, was?“

„Ja. Ist schon was anderes als zu einem fremden Tatort gerufen zu werden.“

„Tut mir leid für dich. Sag, hast du was an der Leiche verändert?“

„Nein. Hab nur geprüft, ob sie tot ist.“

„Und du bist sicher, dass du sie nicht kennst?“

„Absolut. Ich kenne kaum jemanden privat in der Stadt. Bin ja erst ein gutes halbes Jahr hier.“

„Genug Zeit, um dein ganzes Privatleben umzuschmeißen“, nörgelte er.

„Was geht das dich an?“

Er murrte Unverständliches. „Aber wegen Weller sitzt du jetzt mit in der Tinte.“

„Meine Beziehung zu Tom ist für dich ein rotes Tuch“, regte Nora sich auf, „lass sie aus dem Fall raus, ja!“

„Mal sehen. Was anderes. Beim Weller wurde eingebrochen. Sein Türschloss ist alt und war leicht zu knacken, trotzdem, es muss Geräusche gegeben haben. Hast du was mitgekriegt?“

„Nein. Wie geht es Tom?“

„Kein Kommentar. Falls du einen Schlüssel von Toms Bude hast, her damit.“

„Kein Schlüssel.“

„Ist dir sonst was aufgefallen in der Nacht?“

„Nein, die eine Leiche hat mir gereicht.“ Nora stutzte. Plötzlich war eine Erinnerung da. „Ist wahrscheinlich ohne Bedeutung. Auf dem letzten Stück zu Toms Platte lief ein Nacktflitzer an mir vorbei.“

„Was ist denn bei euch auf dem Dreesch alles los! Kannst du den Mann beschreiben?“

„Es war dunkel, und er war nackt, Bert.“

„Sonst irgendwas Besonderes an ihm?“

Nora zuckte mit den Achseln. „Sein Haar. Es war sehr blond, sehr kräftig und ziemlich lang.“

„Würdest du ihn wiedererkennen?“

„Keine Ahnung. Es ging alles sehr schnell. Du überlegst, ob er was mit dem Verbrechen zu tun haben könnte?“

„Ist doch logisch, oder?“

„Das wäre schon merkwürdig, Berthold. Ein Nackter … das war bestimmt ein Spaß.“

„Das behalten wir trotzdem im Auge. Also, das war‘s für den Augenblick. Vorrang hat, den Weller noch mal auszuquetschen. Was dich betrifft: Du stehst um zwei bei mir auf der Matte, dann reden wir ausführlicher. Bis dahin kein Kontakt zu den ermittelnden Kollegen. Oder schon mit jemandem gequatscht?“

„Kurz mit Holger Klein. Er hat mir gesagt, dass die Obduktion läuft.“

Hansen nickte und wandte sich den Unterlagen auf seinem Schreibtisch zu. „Ach, ich vermisse den Bericht zu der bescheuerten Katze.“

„Du redest vom Todesfall Amalia Dorn in Raben Steinfeld? Wenn überhaupt, ist ein bescheuerter Kater darin verwickelt.“

„Egal, wie. Wird Zeit für eindeutige Aussagen, ob Katzenunfall oder Mordanschlag.“

„Ich dachte, der Tod der jungen Frau ist jetzt wichtiger?“

„Für dich hat Amalia Dorn Priorität, aus den anderen Ermittlungen bist du selbstverständlich raus.“

Protest war zwecklos, sagte Nora sich. „Wie du willst. Die KTU-Ergebnisse zur Dorn fehlen noch. Deshalb ist mir zu vieles unklar. Und ob ich heute in der Lage bin, vernünftig zu arbeiten …“

„Ich würde dir gern frei geben, aber das Gespräch um zwei ist wichtig.“

„Bin pünktlich. Leg mich ein Stündchen aufs Ohr, und fahre danach nach Raben Steinfeld. Kann ich Antje mitnehmen?“

„Antje war beim Weller-Einsatz dabei, und sie kann schwer den Mund halten. Nimm einen Schutzpolizisten.“ Ihm schien etwas einzufallen. „Eigentlich müsste ich Antje vom Fall abziehen, denn sie ist mit dem Weller per du. Und es geht das Gerücht, sie hatten mal was miteinander.“

Ja, dachte Nora, ich hab’s kapiert. Der Weller ist durch alle Betten gehopst.

„Wenn ich es mir recht überlege, müsste auch Holger andere Aufgaben übernehmen. Die beiden sind befreundet.“ Mitleidheischend fuhr Hansen fort: „Wer bleibt? Soll ich alles alleine erledigen?“

„Mit der Freundschaft zwischen Tom und Holger ist es nicht weit her. Sie beschränkt sich auf gemeinsames Biertrinken. Holger wird Distanz halten und professionell sein.“

„Ha! Seit wann bist du sein Fürsprecher?“

„Von Anfang an“, behauptete Nora, „er ist sehr engagiert.“

„Du meinst, karrieregeil.“

„Das hast du gesagt. Was ist nun mit Antje? Kann sie mit? Schon allein wegen dem Kater. Ich hatte nie ein Haustier.“

„Du wirst doch mit einem Kater fertig werden. Als ich Kind war, hatten wir mehrere Katzen. Damals in Parchim.“

„Hat dich je eine angegriffen, als du klein warst?“

Hansen strich mit beiden Händen über seine Glatze. „Hat sich keine getraut. Wieso fragst du?“

„Laut Aussage der Nachbarin von Amalia Dorn, der Frau Meier, ist der Kater von einem oberen Küchenschrank der Dorn ins Gesicht gesprungen, als die auf der Leiter stand und deshalb der tödliche Sturz.“

„Das wäre dann ein tragischer Unfall.“

„Wir werden sehen, Berthold.“

3

Zu Hause holte Nora Schlaf nach und fuhr anschließend allein nach Raben Steinfeld. In Gedanken war sie oft bei Tom, der gerade von Hansen in die Mangel genommen wurde. Sie war überzeugt, dass Hansen Tom gegenüber voreingenommen war. Das mochte an ihrer Beziehung mit ihm liegen, aber wahrscheinlich war mehr zwischen beiden Männern vorgefallen. In dem Punkt tappte Nora im Dunklen.

War damals ziemlich schnell gegangen zwischen Tom und ihr. Es gefiel und schmeichelte ihr, dass er sich für sie interessierte, unbedingt mit ihr ausgehen wollte. Nach einem gemeinsamen Abendessen geschah es. Bei einer Nacht sollte es bleiben, hatte sie gedacht. Ähnliches war ihr vorher ein paar seltene Male in ihrer Ehe passiert. Doch Tom wollte mehr und sie konnte nicht widerstehen. Seit einem halben Jahr ging das so. Ihr Mann Robert war in den zweieinhalb Jahrzehnten ihrer Ehe öfter als sie fremdgegangen. Aber das war keine Entschuldigung. Nora verglich ihre private Situation mit einem Knäuel Wolle, an dem von allen Seiten gezerrt wurde und das sich immer mehr verhedderte. Kein Ausweg in Sicht.

 

Nora stand in der nach frischer Farbe riechenden Küche von Amalia Dorn. Die Witwe war achtundsechzig Jahre alt geworden. Vor zweiTagen, am Dienstag, stürzte sie bei Putzarbeiten von einer Leiter auf den harten, gefliesten Küchenboden. Genickbruch; sie war auf der Stelle tot. Das Unglück war zwischen 11. 30 und 12. 30 Uhr geschehen. Auf den ersten Blick war es ein Haushaltsunfall. Auf dem Küchenboden neben und auf der Leiche Keramikscherben, die vermutlich von Bierkrügen stammten. Humpen, vom lange verstorbenen Ehemann Werner Dorn gesammelt und gewöhnlich die Zierde der Hängeschränke. Bevor Amalia mit den Reinigungsarbeiten begann, waren von ihr sämtliche Krüge auf dem Küchentisch in Sicherheit gebracht worden. Nora kamen die Putzarbeiten zwei Wochen nach der Renovierung seltsam vor. Man reinigte den Raum gewöhnlich, wenn man fertig gemalert hatte. Oder war Frau Dorn putzsüchtig gewesen?

 

Nachbarin Christa Meier hatte die Leiche von Amalia Dorn gefunden. Die Siebzigjährige lenkte die Aufmerksamkeit der Kripo auf Amalias Kater Ramses, der ihrer Meinung nach für den Tod seines Frauchens verantwortlich war. Als Amalia auf der Leiter stand, müsse er ihr von einem Hängeschrank direkt ins Gesicht gesprungen sein. Deshalb habe Amalia das Gleichgewicht verloren, mit fataler Folge. Ramses sei im Haus gewesen, als sie die Tote entdeckte. Er sei wie von Sinnen gewesen, äußerst aggressiv, und sie habe ihn aus der Wohnung gescheucht, und seitdem sei er verschwunden. Frau Meier beteuerte, oft beobachtet zu haben, wie er auf die oberen Schränke sprang, dort herumtollte und irgendwie wieder auf dem Boden landete.

Nora hatte den Kater bisher nicht zu Gesicht bekommen. Es war ihr fast lieber so. Sohn und Tochter von Amalia Dorn, ihre Erben, wollten, dass der Kater ins Tierheim kam. Sohn Norman war Chirurg und lebte mit Familie in Norwegen; Tochter Tina war Anwältin und bewohnte mit Ehemann Konrad Jahn, ebenfalls Anwalt, und zwei Söhnen ein Haus in der Schloßgartenallee in Schwerin. Sie hätte Ramses bei sich aufgenommen, aber wie sollte das funktionieren mit einem großen Hund daheim, der auf jede Katze losging?

Seit Noras letzter Besichtigung des Tatorts hatte sich in der Küche kaum was verändert. Nur die Leiter war aufgehoben und an eine Wand gelehnt, und die Keramikscherben vom Leichnam und dem Fußboden waren zur Untersuchung in der KTU. Nora wollte ganz sicher sein, dass die Scherben tatsächlich von Bierkrügen stammten, und sie wollte wissen, von wie vielen.

Die Decke des am Fenster stehenden Küchentisches war an der vorderen Seite ein Stück Richtung Boden heruntergezogen. Das legte die Vermutung nahe, Amalia habe an ihr im Fallen Halt gesucht. Hinten auf dem Tisch standen die unversehrten Bierkrüge.

Die Kälte im Haus empfand Nora heute besonders stark. Deshalb behielt sie ihre dicke Jacke an und wärmte die Hände in den Taschen. In jeder steckte eine Kastanie vom vergangenen Herbst, mit der sie herumspielte. Seit ihrer Kindheit mochte sie die anfangs glatte und später leicht verschrumpelte Oberfläche der Kastanien und sprach ihnen eine schützende, magische Kraft zu. Manchmal hatte ihr dieser Glaube tatsächlich in schwierigen realen Situationen geholfen. Darauf hoffte sie auch jetzt; nach der vertrackten Nacht mit der Leiche bei Tom.

 

Im Wohnzimmer fielen Nora die vielen verschiedenen Souvenirs ins Auge, die zweifelsfrei aus Ägypten auf Amalia Dorns Tischchen und in ihren Schränkchen gelandet waren. Offenbar verband das Ehepaar Dorn mit jenem Land eine besondere Beziehung; deshalb ‚Ramses‘ als Name des Stubentigers.

Ein großer Garten umschloss das Haus der Dorns von allen Seiten. Nora öffnete die Terrassentür einen Spalt, zwängte sich so hindurch, dass möglichst wenig kalte Luft ins Zimmer dringen konnte. Es war ein windstiller Tag, der Himmel strahlend blau, und die Märzsonne schien ungewöhnlich intensiv. Erste Krokusse steckten ihre zarten Köpfchen aus der Erde. In zwei Wochen war Ostern.

 

Ein Geräusch forderte Noras Aufmerksamkeit. Sie bemerkte, dass die Terrassentür um eine Kleinigkeit weiter offenstand. Nora schloss die Tür hinter sich und ging in die Küche. Zwischen den Bierkrügen auf dem Tisch saß ein Kater mit grünlich-beigen Augen. Wahrscheinlich war es ein schönes Tier. Ausgewachsen, mit dichtem rötlichem Fell und eleganter Körperhaltung. Das musste er sein, der angebliche Unfallverursacher oder Mörderkater. Nora erkannte ihn von Fotos, die in allen Zimmern zu finden waren: Ramses solo oder Amalia oder ihre Kinder oder Enkel mit ihm in allen erdenklichen Lebenslagen. Und stets friedlich miteinander.

Ramses neigte seinen dicken Kopf minimal, und Nora begrüßte ihn leise: „Da bist du ja.“ Sie war beeindruckt und verunsichert zugleich. Nie zuvor in ihrem Leben war sie als Stadtkind mit einem Tier – größer als eine Fliege oder Spinne – allein in einem Haus, einer Wohnung, einem Raum gewesen. Die Verantwortung, die sie auf einmal für den Kater spürte, bereitete ihr Unbehagen.

Ramses zeigte einen Buckel, schlängelte sich um die Krüge herum und sprang auf die Fliesen. Er miaute herzerweichend und strich in geringem Abstand um Noras Beine herum. Sie rief ihre Partnerin Antje Siggelkow an, die mit dem Dorn-Fall vertraut war. „Der Stubentiger ist aufgetaucht. Ich werde wohl die Tochter von Amalia Dorn anrufen müssen, damit die ihn ins Tierheim bringt.“

„Um Gottes Willen!“, protestierte Antje. „Der Arme hat gerade sein Frauchen verloren. Wenn er in ein Heim kommt …“

„Ist ja gut“, beruhigte Nora, „ich habe auch ein Herz für Tiere, leider keine Ahnung von Katzen. Also, was tun? Er jammert. Und er, ja er leckt sich zwischendurch. Sehr eigenartig.“

„Der hat sicher Hunger. Wenn Sie Futter entdecken, geben Sie ihm davon. Und Ramses bitte fotografieren.“

War sie etwa zum Spaß hier? „Mir wäre lieber, Sie würden sich um das Tier kümmern, Kollegin. Wie viel frisst er denn?“

„Je nachdem, wie groß oder alt er ist und wann er zuletzt was gefressen hat.“

„Woher soll ich das wissen. Antje, ich brauche einen Anhaltspunkt. Ich hatte nie ein Haustier.“

„Ja, dann. Wenn Ramses seit Dienstag nichts gefressen hat, zwei Tage, ist der Hunger groß. Heißt, ein Napf voll mindestens. Wenn er was bei Nachbarn geschnorrt oder selbst was gefangen hat, ist der Hunger kleiner.“

„Was soll er gefangen haben?“

„Einen Vogel oder eine Maus vielleicht?“

„Okay. Was Neues zur Toten von heute Nacht?“

Die Nachfrage stürzte Antje Siggelkow in Gewissensbisse. Sie war Hansens Liebling und arbeitete möglichst exakt nach Vorschrift. Einerseits durfte sie keine Ermittlungsergebnisse zum neuen Fall weitergeben, andererseits war Nora als Hauptkommissarin ihre unmittelbare Vorgesetzte. „Die junge Tote?“, wiederholte Antje zögernd, „die wird obduziert.“

Das war keine Neuigkeit. Nora suchte nach einem Abschluss des Gesprächs. „Werde ich mal für den Kater was zum Fressen suchen; wozu ist man bei der Kripo. Und keine Angst, Antje, das Heim ist erst mal aufgeschoben. Wir sehen uns später.“

In einem Küchenschrank entdeckte sie einen beachtlichen Vorrat an Katzenfutter. Ramses gab jegliche Zurückhaltung auf, maunzte herzerweichend und stupste Nora in einem fort an. Sie füllte seinen Napf randvoll, fotografierte, wie er sich über das Futter hermachte, und schickte die Fotos auf Antjes Handy. Als Antwort erhielt sie postwendend drei grinsende Smileys.

 

Noras Handy meldete sich. Eine aufgeregte Frauenstimme teilte mit, dass sich jemand in Amalias Haus aufhalte, das Polizeisiegel sei aufgebrochen und die Terrassentür geöffnet worden. Ob Frau Kommissarin gleich käme?

„Bin schon da.“ Nora trat aus der Haustür und stand der Nachbarin Christa Meier gegenüber. „Wenn alle Leute so aufmerksam wären wie Sie, hätte das Verbrechen keine Chance.“

Frau Meier lächelte verunsichert. „Ich wollte nur helfen.“

„Sehr vorbildlich. Kommen Sie rein. Können wir uns ein Weilchen unterhalten. Mir sind noch ein paar Details unklar.“

Frau Meier bewohnte mit ihrem Ehemann Reinhard das Nachbarhaus. Das Paar war locker mit Amalia befreundet, ab und zu lud man sich zum Essen ein, schenkte sich wechselseitig selbst gezogenes Obst und Gemüse und passte bei Reisen auf Haus und Garten auf. Seit dem Tod von Werner Dorn half Reinhard der Witwe bei kleineren Reparaturen, wie sie in einem Einfamilienhaus von Zeit zu Zeit anfielen.

Nora führte Frau Meier in die Küche. Amalias Nachbarin blieb erschrocken stehen, sowie sie den Kater erblickte. Vorwurfsvoll sah sie die Kommissarin an. „Sie füttern den! Seinetwegen ist Amalia tot!“

„Also, ich finde ihn reizend. Er hat ein wunderschönes Fell und scheint mir ein besonders liebes Tier zu sein. Kann gut verstehen, dass Frau Dorn in ihn vernarrt war.“

Christa Meier kämpfte mit ihrem Unmut. „Na ja, Amalia hat Ramses verehrt wie einen ägyptischen Gott. Einen verzauberten Gott. Die mit ihrem Ägyptenfimmel. Sie war total verrückt nach dem Vieh. Er durfte sogar in ihrem Bett schlafen. Wie unhygienisch. Der schleppt doch sonst was an Keimen mit sich rum.“ Unwillkürlich wich sie vor Ramses zurück, der hoheitsvoll an beiden Frauen vorbei Richtung Terrasse stolzierte.

„Der ist jedenfalls gesund, keine sichtbare Verletzung“, sagte Nora.

„Wieso sollte er verletzt sein?“

„Nun ja, beim Sturz von Frau Dorn könnte er sich was getan haben.“

„Sie haben wohl keine Ahnung von Katzen? Die haben sieben Leben, und dieses Vieh hat mindestens eins mehr. Nein, nein, der springt überall rauf und kommt gesund und munter wieder runter. Der hat Routine.“

„Haben Sie was gegen ihn?“

Ramses stand nun vor der geschlossenen Terrassentür, und Nora beeilte sich, sie für ihn zu öffnen.

Frau Meier schüttelte missbilligend den Kopf. „Sie lassen ihn laufen!“

„Ja, was soll ich Ihrer Meinung nach mit ihm anstellen?“

„Der gehört eingeschläfert, ist gefährlich für alle Mitmenschen. Er ist verantwortlich für Amalias Tod!“

„Ernsthaft?“

„Nur er und Amalia waren in der Küche, als es passierte. Außerdem hatte sie diese Kratzer im Gesicht. Er ist auf sie rauf und dann …“ Eine unbestimmte Geste folgte.

„Hört sich an, als wären Sie dabei gewesen.“

„Nein, nein, aber so muss es gewesen sein. Er ist schuld.“

Laut Obduktionsbericht waren alle Katzenkratzer an Amalia alt, doch das behielt Nora für sich. „Frau Meier, bis zum Beweis des Gegenteils gilt selbst für den Kater die Unschuldsvermutung. Wieso sind Sie eigentlich am Dienstag mit dem Ersatzschlüssel in Frau Dorns Haus? Ohne vorher zu klingeln?“

„Amalia hat mir erzählt, dass sie Dienstag die Küche putzen wollte. Nachdem auf mein Klingeln alles still blieb, habe ich aufgeschlossen. Ich dachte mir, sie steht gerade oben auf der Leiter.“

„Ungewöhnlich diese Putzarbeiten kurz nach der Renovierung. Haben Sie eine Erklärung dafür?“

„Amalia hatte vor, die Malerarbeiten allein zu schaffen, erkältete sich aber stark und nahm deshalb unser Hilfeangebot an. Als alles fertig war, hat sie nur das Allernötigste aufgeräumt und sauber gemacht.“

„Wo ist der Ersatzschlüssel jetzt?“

„Den haben Ihre Kollegen mir abgenommen.“

Nora nickte. „Wann haben Sie die tote Amalia gefunden?“

„Viertel nach eins ungefähr. Was habe ich mich erschrocken! Ich träume von diesem Anblick, glauben Sie mir!“

„Was wollten Sie von Frau Dorn? Beim Putzen helfen?“

„Nein, sie fragen, ob sie mit uns essen will. Gemüsesuppe. Amalia kochte ja selten richtig für sich allein. Ach, da fällt mir ein, bei uns gibt es heute Kohlrouladen. Wenn Sie möchten, würden wir ausnahmsweise mal früher essen. Ist kein Problem für uns.“

„Sind die Rouladen denn schon fertig?“

„Die habe ich gestern Abend erledigt. Aufgewärmt schmecken sie noch besser. Weiß eigentlich jeder.“

„Sie haben Frau Dorn öfter mal zum Essen eingeladen. Würden Sie Amalia als Freundin bezeichnen?“

„Ich bin ehrlich. Die Antwort ist nein. Wir sind Nachbarinnen, da hilft man sich, das versteht sich von selbst. Mehr war nicht.“

„Danke für Ihre Zeit und für die Essenseinladung, sehr nett. Ach, wer wird denn nun Ramses betreuen und ihn füttern? Können Sie das übernehmen?“

Frau Meier wies dieses Ansinnen brüsk von sich. „Damit der uns auch Unglück bringt? Außerdem hat mein Reinhard eine Katzenallergie!“

4

Ungeduldig wartete Nora in ihrem Büro auf den Termin um zwei Uhr, zu dem Hansen sie bestellt hatte. Wenn die Arbeit der Spurensicherung in Toms Wohnung erledigt war und die Obduktionsergebnisse vorlagen – wäre das Schlimmste für Tom und sie vorbei. Ihrer beider Unschuld am Tod des Mädchens hoffentlich erwiesen. Doch vorerst mussten sie sich in Geduld üben und Vertrauen in die Arbeit der Kollegen haben.

 

Um sich abzulenken, blätterte Nora ihre Notizen zum Fall Dorn durch. Außer dem Haus in Raben Steinfeld besaß Amalia kein weiteres Sach- oder Geldvermögen. Sie war beliebt bei den Nachbarn. Seit dem Tod des Ehemannes lebte sie zurückgezogen, hatte keine Männergeschichten und ein enges Verhältnis zu ihren Kindern und Enkeln. Weder bei Sohn oder Tochter noch im Bekanntenkreis war bisher ein Mordmotiv zu finden.

Die Tatortfotos zeigten Amalia Dorn in Rückenlage auf dem gefliesten Küchenboden, beide Arme über dem Kopf ausgestreckt. Wieso über dem Kopf? Falls Amalia im Fallen nach der Decke des Küchentisches gegriffen hatte, um sich festzuhalten, dann müssten die Arme eher zur Körpermitte liegen.

Auf Brustkorb und Gesicht von Amalia Tonscherben. Vermutlich von herabgefallenen Bierkrügen. Ließen sich damit die vorgefundenen Gesichtsverletzungen erklären? Bei der geringen Fallhöhe vom Tisch?

Die Scherben waren farbig. Stammten die von einem größeren Krug oder von mehreren kleinen oder von ganz woanders her? Der vorliegende Bericht der KTU hatte diese Fragen bisher unzureichend beantwortet. Nora rief dort an und erfuhr, dass der Mordfall ‚Teppichleiche‘ Priorität hätte und die Kollegen damit total ausgelastet wären.

„Welche ‚Teppichleiche‘?“, fragte Nora zurück. War da was an ihr vorbei gegangen?

„Na, die beim Weller.“

„Diese Leiche war in einer Wolldecke.“

„Woher wissen Sie das, Kollegin Graf?“

Nora redete sich raus, sie hätte das über Funk gehört. Sie bekam nach einigem Drängen ein halbherziges Versprechen, dass die Tonscherben baldmöglichst zusammengesetzt und untersucht würden.

 

Um vierzehn Uhr saß Nora Hansen und Holger Klein gegenüber. Hansen schaltete das Aufnahmegerät ein, stellte die Fragen, und Holger zog eine betont neutrale Miene und schwieg. Nora hoffte, dass es dabei blieb. Auf keinen Fall wollte sie dem jüngeren Kollegen Rede und Antwort stehen müssen. War ihr unangenehm genug, dass der von ihrem Intimleben erfuhr.

Nach einer Weile fasste der Chef zusammen: „Sie, Frau Graf, sind vier Minuten nach vier vergangene Nacht im Schlafzimmer von Thomas Weller aufgewacht. Ohne das Licht einzuschalten, haben Sie sich in die Küche vorgetastet. Dort haben Sie ein Glas Wasser getrunken. Auf dem Rückweg überkam Sie im dunklen Flur ein komisches Gefühl. Letzteres kennen wir ja.“ Er schaute bedeutungsvoll zu Holger, und der reagierte mit einem mokanten Lächeln. Nora verdrehte die Augen, weil sie Hansens Bemerkung unpassend fand. Schließlich hatte er in der Vergangenheit von ihrer ausgesprochen guten Spürnase profitiert.

„Was geschah dann im Flur?“, fragte Hansen.

„Ich habe das Licht eingeschaltet, weil ich ein unbekanntes Parfüm wahrnahm. Da sah ich ein Bündel mit einer weiblichen Person in einer Wolldecke liegen. Ich war schockiert und habe spontan laut aufgeschrien …“

„Moment! Wo war Thomas Weller zu dem Zeitpunkt?“

„Im Schlafzimmer. Gleich nach meinem Schrei war er bei mir im Flur. Angesichts der Toten wurde er panisch, fast handlungsunfähig. Ich hatte mich inzwischen gefasst und geprüft, ob Lebenszeichen festzustellen waren. Die Person war definitiv tot. Tom hat sie nicht berührt.“

„Sind Sie sicher, dass Thomas Weller aus dem Schlafraum kam?“

„Ja, hundertprozentig.“

„Und die Stunden vor dem Leichenfund war er in Ihrem, äh in seinem Bett mit Ihnen zusammen?“

„Ja.“

„Absolut sicher?“

Das nächste ‚Ja‘ blieb Nora im Halse stecken. Tom war irgendwann aufgestanden und längere Zeit weggeblieben. Er war ausgekühlt, als er sich danach im Bett an sie drückte. Hatte er so lange auf der Toilette rumgesessen?

Sie räusperte sich. „Ja, also, Tom hat einmal vor vier das Schlafzimmer verlassen.“ Holger fing an, nervös mit den Fingern der rechten Hand auf den Tisch zu trommeln.

„Aha“, machte Hansen vieldeutig.

„Was heißt aha, Chef, er war wahrscheinlich auf Toilette.“

„Um welche Uhrzeit war er wie lange außerhalb des Schlafzimmers?“

„Vermutlich ist er gegen zwei aufgestanden. Wann er wieder ins Bett gekommen ist, müssen Sie ihn selber fragen.“ Sie stutzte kurz. „Jetzt geht mir ein Licht auf. Sie wollen unterstellen, dass Thomas Weller – während ich in seinem Bett bin – von der Straße eine Frau in die Wohnung schleppt, sie dort umbringt und dass er sich nach der Tat wieder zu mir legt? Und tut, als wäre alles normal? Und die Leiche lässt er im Flur? Das wäre der größte Blödsinn, der mir je zu Ohren gekommen wäre.“

„Mal sachte, ja! Was Blödsinn ist, entscheide immer noch ich.“

Nora platzte der Kragen. „Für Thomas Weller ist es unerträglich, in der Nähe einer toten Person zu sein. Das sollten Sie beide wissen. Selbst eine Leiche anfassen und auf irgendeine Weise manipulieren, dürfte für ihn absolutes Tabu sein.“ Und zu Holger. „Sie kennen doch Tom und seine Leichenphobie!“

Holger wollte etwas entgegnen, aber Hansen verbot ihm mit einem Blick den Mund und polterte los: „Wie passend! Seine angebliche Leichenangst, die kommt wie gerufen. Sowas kann man auch vorgaukeln. Frau Graf, Ihrer Schilderung zufolge war Thomas Weller einmal vor vier Uhr außerhalb des Schlafraumes. Allein. Haben Sie ihn gefragt, was er getan hat in der Zeit?“

„Nein. Wie gesagt, ich nahm an, er wäre zur Toilette. Vielleicht hat er sich dort an einem Buch festgelesen. Wenn Tom schon mal liest, dann ausschließlich auf dem Klo.“

 

Ein Teil von Noras Missstimmung nach der Befragung durch Hansen verflog beim Anblick ihrer Partnerin. Antje strahlte eine Energie und Lebenslust aus, die Nora jeden Tag aufs Neue faszinierte und die sich ein kleines bisschen auf sie übertrug. Heute funktionierte der Zauber weniger, und Nora ging mit einem miesepetrigen Gesicht auf sie zu. Antje griff zu ihrer Allzweckwaffe gegen schlechte Laune: Kuchen. Den bekam sie kostenlos von ihrer Mutter, die in einer Konditorei arbeitete.

„Mohnkuchen ist genau das Richtige für Sie. Und ein Heißgetränk. Das haben Sie bitter nötig.“ Sie besorgte zum Kuchen Kaffee, und Nora konnte nicht widerstehen. Der Kuchen schmeckte ausgezeichnet, obwohl er von gestern war.

Antje schaute von ihrem Schreibtisch aus besorgt zu Nora hinüber. „Wie fühlen Sie sich nach dieser schrecklichen Nacht?“

„Leer und kaputt. Aber es muss weitergehen. Der Fall Dorn liegt mir auf der Seele.“

„Wie ist die Lage? Mord oder Unfall?“

„Die KT hat es noch nicht geschafft, die Tonscherben auf der Leiche von Amalia Dorn zusammenzusetzen und zu analysieren. Und solange das offen ist, kann ich keine zuverlässige Aussage treffen.“

„Und was sagt Ihr Bauchgefühl?“

„Das ist genauso kaputt wie ich und schläft. Spaß beiseite. Ich bin irritiert. Ist mehr als blöd, von der Leiter zu fallen und zu sterben.“

„Ganz meine Meinung. Übrigens, an Ihrer Hose sind jede Menge Haare. Liebesbeweis von Ramses.“

Nora inspizierte ihre Hosenbeine; tatsächlich waren sie am unteren Rand mit rötlichen Katzenhaaren verziert. Antje hielt ihr eine Kleberolle hin. „Altbewährtes Hausmittel.“

„Danke. Wie habe ich früher nur ohne Sie überlebt.“

„Wie geht es Ramses?“

„Keine Sorge. Ein paar Tage können wir beide ihn irgendwie betreuen, denke ich. Dann muss eine Dauerlösung her, um das Tierheim zu vermeiden. Mal überlegt, ob Sie ihn nehmen können?“

„Ich? Der ist Freiläufer und gewohnt, draußen rum zu laufen. Ohne Garten geht das nicht. Meine kleine Wohnung ist mitten in der Stadt.“ Antje wandte sich ihrem Laptop zu.

Nora war dankbar, dass ihre Kollegin keine neugierigen Fragen zu den Vorgängen der letzten Nacht stellte.

 

Wenige Minuten später betrat Nora erneut Hansens Büro. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass er allein war, schloss sie sorgfältig die Tür hinter sich. Hansen saß mit verkniffener Miene vor seinem Bildschirm und tippte mit dem rechten Zeigefinger ab und zu auf der Tastatur herum. Nora wusste, dass ihr Cousin die Arbeit am Computer hasste.

„Berthold? Kannst du mir sagen, was mit Tom ist?“

Hansen fluchte. „Mist, verdammter! Wer hat sich diese Scheißdinger ausgedacht!“

Zertrümmern

„Ihr beiden wart mit wichtigeren Dingen beschäftigt und sozusagen abwesend.“

Nora reichte es mit der Vertraulichkeit; sie lenkte das Gespräch wieder auf sicheres Gebiet. „Sag mir, was zur Leiche bekannt ist.“

„Genug ausgeplaudert.“

Die Bürotür wurde aufgestoßen, und eine Kollegin fragte mit ungewöhnlich tiefer Stimme: „Störe ich?“

Hansen und Nora antworteten gleichzeitig mit ‚nein‘ und ‚ja‘. Kollegin Gesine Romer sah erstaunt von einem zum anderen und verzog sich.