Impressum

Dietmar Beetz

Der Alte und das Biest

Krimi-Etüden

 

ISBN 978-3-95655-951-8 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1998 im SPOTLESS-Verlag, Berlin.

 

2018 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: verlag@edition-digital.de

http://www.edition-digital.de

ABSCHIEDSVISITE

Wie die Ermittlungen ergaben, war Dr. Z. mit seinem Wagen, einem älteren Wartburg, gekommen und hatte das Fahrzeug auf dem noch markierten - einst für ihn reservierten - Streifen rechts neben dem Werktor geparkt. Erwiesen ist, dass er ausstieg, die Tür hinter sich zuschlug und ohne abzuschließen, auf die Pforte zuging. Und vermuten lässt sich, dass ihm dabei die Tatwaffe sanft an den Brustkorb schlug.

Er trug die Pistole wohl in der Innentasche seines Jacketts, wo später ein Brief der Treuhandgesellschaft und eine Ansichtskarte aus Stuttgart gefunden wurden und wo sich zudem, wie Herr S. zu Protokoll gab, beim Erscheinen an der Pforte eine Schachtel mit Herztabletten befand.

S., Willi, Pförtner vom Dienst, der, seinen Aussagen zufolge, über das „Auftauchen“ des Arztes erfreut und verwundert war. Das Gespräch, das sich anspann, ja, die gesamte Begegnung verlief angeblich „wie unter Kumpels“. Hier ein Rekonstruktionsversuch:

„Mensch, Doktor, wie kommt’s denn? Klappt’s nun doch mit der Niederlassung hier?“

Der Arzt musste schlucken. „Hier?“, fragte er und wies zu den Werkhallen, die grau und verödet im Licht des Vormittags lagen.

Daraufhin nickte der Pförtner, seufzte und schüttelte den Kopf. „Trotzdem, Doktor ... Nach all den Jahren!“

„Stimmt, Willi. Nach dreiundzwanzig Jahren, fünf Monaten, drei Tagen.“

Ein älterer Herr kam herein, schritt vorbei. Wallender Trenchcoat, Krawatte, hochgezogene Brauen ...

„Treuhand“, raunte der Pförtner. „Heute setzt er den Schlussstrich.“

„Da werd’ ich mal hinterhergeh’n“, sagte der Arzt gepresst, „ihm meine Aufwartung machen. Vorausgesetzt, du lässt mich hoch.“

„Aber Doktor!“

Er zögerte, zerstreut, wie es schien, und fügte dann so locker wie möglich hinzu: „Na ja, ohne gültigen Ausweis ...“

„Jetzt langt’s aber, Doktor! Den Ausweis - von Ihnen?!“

„Und die ‚Wachsamkeit’?“, erwiderte der Arzt mit belegter Stimme. „Keine Kontrolle wie früher manchmal? Wenn ich nun ...“

Er brach ab, denn der Pförtner machte sich an dem verschlossenen, einst zusätzlich versiegelten Wandschrank neben seinem Fenster zu schaffen. Demonstrativ öffnete er die Tür, nahm die Schlüssel der Sanitätsstelle von einem der Haken, reichte sie heraus. „Wenigstens etwas einfacher.“

Der Arzt rührte sich nicht, wirkte wieder „wie weggetreten“.

„Nehmen Sie schon, Doktor! Sie können sich ja revanchieren, mit einem Rezept. Meine Herztabletten ...“

Da holte er tief Luft, griff zu, starrte auf die Schlüssel in seiner Hand.

„Mit Rezepten ist nichts mehr. Ohne Niederlassung keine Zulassung, und ohne Zulassung ...“

Er verstummte, steckte die Schlüssel in die Innentasche des Jacketts, zog kurz entschlossen jene Herztabletten heraus und gab die angebrochene Schachtel dem Pförtner.

„Hier ... Weiter dreimal täglich! Und rechtzeitig für Nachschub sorgen!“

Der Pförtner, bei seiner Vernehmung anfangs beinah geschwätzig, war wortkarg geworden.

„Und sonst?“, bohrte der Kommissar. „Was wurde noch gesagt oder getan von Ihnen oder von ihm?“

„Nichts weiter. Bedankt hab ich mich, ihm was von Dank und so hinterhergerufen.“

„Und er?“

„Hat abgewunken und mir alles Gute gewünscht.“

„Alles Gute?“

„Ja.“

„Hm ... Und keine Äußerung über diesen „Herrn“ von der Treuhand, nichts, wie seine „Aufwartung“ aussehen sollte?“

„Kein Wort.“

„Und Sie selber? Hat Sie nichts an ihm stutzig gemacht? Eine seiner Bemerkungen vielleicht, etwas an seinem Auftreten, seinem Verhalten?“

„Jetzt, nachträglich, schon, aber damals - nein, nichts.“

„Auch nicht, dass er Ihnen seine eigenen Herztabletten gegeben hat?“

„Auch nicht. Woher sollte ich denn wissen, dass es seine eigenen sind, dass er Herztabletten schluckt? Außerdem war das seine Art. Er hat nie was auf die lange Bank geschoben, mit Termin und „Vorbestellung“ und so; bei ihm ist man am selben Tag drangekommen, egal, wie spät es war, und wenn es um eine Dauerbehandlung ging, brauchte man bloß die Schwester oder ihn anzurufen oder anzureden, schon hat man seine Tabletten gekriegt oder wenigstens ein Rezept. Mir hat er mal auf dem Postamt in der Warteschlange was gegen Grippe aufgeschrieben.“

„Ein dynamischer, anpassungsfähiger Arzt also“, konstatierte der Kommissar.

„Na ja“, erwiderte der Pförtner. „Auf alle Fälle ein Doktor, wie man ihn sich wünscht.“

„Und wie erklären Sie sich, was passiert ist, wie er dazu fähig war?“

Willi S. zuckte die Schultern, versank, wieder spürbar zurückhaltend, in Schweigen, und dem Kommissar blieb nur, sich anderen Zeugen zuzuwenden.

Da war zunächst Mandy M., Sekretärin des Werkdirektors und das, was üblicherweise „Vorzimmerdame“ heißt; der Kommissar nannte sie, als er ihrer ansichtig wurde, sofort in Gedanken „Vorzimmerbombe“.

Als er eintrat, tippte sie gerade auf einer elektronischen Schreibmaschine. Ganz schön flott, ging es ihm durch den Kopf, und im Blick ihr Profil, dachte er: Die könnte es schaffen.

Seit er selber „überprüft“ wurde, ertappte er sich des Öfteren bei solchen Einschätzungen. Willi S. beispielsweise würde es vermutlich nicht schaffen, und auch er selbst war wohl den neuen Herrschaften zu alt und nicht genehm.

Er hatte gegrüßt und sich ausgewiesen, und nun kamen ihm erste Zweifel an den Perspektiven der Mandy M.

„Von der Kripo, wegen dem Doc? Da sind Sie bei mir richtig. Ich höre noch jetzt den Schuss und seh’ das Blut vor mir und denk’: Du spinnst; das ist nicht wahr. Dabei hab ich gewusst, dass so was kommen muss, hab es gespürt.“

„Wie das?“, erkundigte sich der Kommissar und zog sich einen Stuhl heran, irritiert sowohl durch den üppigen Mund wie durch das Summen der Schreibmaschine, die nicht abgestellt worden war.

„Was haben Sie gewusst, was gespürt?“ „Na, dass er fix und fertig ist, zu allem fähig. Das war mir klar, als er zur Tür reingekommen ist; da hat mir ein Blick genügt, und wenn er nicht so zugeknöpft gewesen wär’, hätt’ ich ihm das auch gesagt und das Schlimmste vielleicht verhindert. Aber so war er nun mal: immer Lord, unnahbar, eigentlich richtig schüchtern, nicht wie andere, die gleich nach dir grapschen, und wenn so einem das wie mit der Johanna passiert ...“

„Johanna?“, hakte der Kommissar ein.

„Na, die Schwester, die ihn alleingelassen hat und sich, als hier die Lichter ausgegangen sind, nach drüben abgesetzt hat.“

Der Kommissar sah jene Ansichtskarte aus Stuttgart vor sich - seines Erachtens und nach Meinung anderer Kriminalisten ein ziemlich belangloses Dokument: Grüße, geschrieben mit fester Hand, und die sachliche Mitteilung, Arbeit auf einer Pflegestation gefunden zu haben.

„Sie glauben also“, fragte er die Sekretärin, „zwischen ihm und seiner Sprechstundenhelferin habe eine besondere Beziehung bestanden?“

Die vollen, kräftig geschminkten Lippen verzogen sich spöttisch. „Besondere Beziehung? Geschlafen, wenn Sie das meinen, haben die zwei nicht miteinander.“

„Woher wollen Sie das so genau wissen?“

„Das hätt’ man doch mitgekriegt in diesem Betrieb! Nein, da war nichts, aber sonst waren die zwei, wie man so sagt, ein Herz und eine Seele: sie - seine rechte Hand, und er ein Chef, wie man sich ihn nur wünschen kann.“

„Und ihre Abwanderung“, resümierte der Kommissar, „demnach für ihn ein harter Schlag.“

Die Sekretärin nickte.

„Sehen Sie noch andere Gründe für seine Tat?“

Sie zuckte die Schultern. „Andere Gründe? Vielleicht, weil aus einer eigenen Praxis nichts geworden ist, bei den Schulden, die er hätte machen müssen, und bei der Miete, die so verlangt wird.“

„Hat er mit Ihnen darüber geredet?“

„Nein, aber das weiß man doch!“

„Und worüber wurde gesprochen, was hat er gesagt, seit er zur Tür reingekommen war?“

„Eigentlich kaum was“, gab die Sekretärin zur Antwort und erst jetzt schaltete sie die Schreibmaschine aus. „Er hat bloß dagestanden, dort bei dem Poster und manchmal nach der Pistole gefasst.“

„Nach der Tatwaffe?“

„Genau.“

„Ja, wussten Sie denn, dass er eine Pistole bei sich trägt?“

„Damals nicht, aber gleich danach ist mir ein Licht aufgegangen. Erst hab ich gedacht, er ist aufgeregt und greift sich ans Herz, weil so viel für ihn auf dem Spiel steht und er warten muss.“

„Warten, worauf?“

„Na, dass er vorgelassen wird, dass er rein darf. Er wollte doch mit dem Vertreter der Treuhand reden, der an dem Vormittag noch mal da war; wenigstens hat er zu mir gesagt, dass er mit ihm reden will.“

„Und worüber er mit ihm reden wollte ...?“

„Sicher über den Brief, den er dem Betrieb, also unserem Direktor, geschrieben hatte und der von der Treuhand beantwortet worden war. Dass er gern weiterarbeiten möchte für uns, obwohl die Belegschaft immer mehr zusammenschrumpft, dass er aber so eine Miete nicht aufbringen kann, und ob man das Angebot nicht noch mal überprüfen könnte. Steht doch alles in den Unterlagen, die wir der Kripo übergeben haben, auch die Kopie von der Antwort der Treuhand!“

Der Ton der Sekretärin war aggressiv geworden, und der Kommissar beeilte sich, sie zu besänftigen. Dabei spürte er Unmut in sich aufsteigen.

Wozu recherchierte er hier überhaupt noch? Wem half es, wenn er Einzelheiten zusammentrug zu diesem Fall, der in seinem Wesen längst klar war? Warteten nicht andere, wichtigere Fälle auf ihn, vorausgesetzt, man fällte in seinem eigenen Fall ein positives Urteil und ließ ihn weiterrecherchieren?

„Wusste der Vertreter der Treuhandgesellschaft eigentlich, dass Doktor Z. ihn sprechen wollte?“

„Selbstverständlich. Ich hatte doch gleich drinnen Bescheid gesagt.“

„Und die Antwort?“

„Soll warten.“

„Wie lange hat Doktor Z. dort bei dem Poster gestanden?“

„Gut eine halbe, eine dreiviertel Stunde.“

„Und das ohne jede Unterhaltung, ohne ein Wort?“

„Natürlich nicht. Freilich hab ich ihn beispielsweise gefragt, ob er sich nicht wenigsten setzen möchte.“

„Und er.“

„Dass man manchmal länger sitzt, als einem lieb ist. Sollte wohl so was wie ein Scherz sein, hat sich aber gar nicht spaßig angehört.“

„Und wie ist es schließlich passiert?“

„Tja, wie? Irgendwann kam der Herr B., also der von der Treuhand, raus. Der Doc macht einen Schritt auf ihn zu, bleibt stehen und greift sich wieder unter’ s Jackett.“

„Und dann?“

„Da war dieser Herr vorbei und raus zur Tür, und der Doc stand da, die Hand unterm Jackett und ganz grau im Gesicht. Ja, und im nächsten Moment ist er gegangen, auch raus, ohne ein Wort.“

Ursprünglich wollte der Kommissar weitere Zeugen befragen. Er unterließ es und ging lediglich noch einmal hinüber zum Tatort.

Zu diesem Zweck löste er an der Tür zur Sanitätsstelle das Siegel, das von den Kriminaltechnikern angebracht worden war, schloss auf mit dem Schlüssel, den auch Dr. Z. benutzt hatte bei seinem letzten, einsamen Gang, durchschritt den kurzen, leeren Flur und betrat die Untersuchungs- und Behandlungsräume.

Geruch nach Staub und nach einem Desinfektionsmittel; Staub auf Geräten und Instrumenten, auf der Untersuchungsliege, an den Fensterscheiben ...

Nur dort, wo der Tote gelegen hatte, war gewischt worden.

Hier hatten sich graue Streifen gebildet.

Von Blut keine Spur mehr.