Impressum

Dietmar Beetz

Weihnachtshund und Bambusrüssel

Tiergeschichten

 

ISBN 978-3-95655-922-8 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Sabine Beck

 

Das Buch erschien erstmals 2001 im Verlag Edition D. B., Erfurt.

 

2018 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

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SANDRA UND IHR ADOLAR

Verdächtiges Krächzen

An diesem Morgen Ende August schien die Sonne, und von draußen drangen Geräusche herein, gedämpfter Stadtlärm, Laute der Frühe, die Sandra im Halbschlaf wahrnahm. Alles war wie oft in den großen Ferien, und doch stimmte etwas nicht.

Sandra hielt die Augen geschlossen und überlegte schläfrig. Etwas schien zu fehlen, aber was?

Krächzen ließ das Mädchen aufhorchen, und dann war es mit dem Schlafen endgültig vorbei. Sandra stützte sich auf, sah zu dem Vogelbauer auf dem Tisch gegenüber.

Durch einen Spalt in der Übergardine fiel Sonnenlicht - eine Schneise vom Fenster quer durch das Zimmer, ein schmaler goldgelber Streifen, der auch einen Teil des Vogelkäfigs erhellte. Adolar hockte außerhalb dieser Zone im Dämmer; das Gefieder fast grau, die Umrisse verschwimmend.

Sandra blinzelte. Döste sie noch? Ihr prächtig blauer Adolar ...

Da bewegte der Wellensittich matt einen Flügel. Saß da, aufgeplustert, als sei ihm kalt, als friere er. Und jetzt - ein Laut, wieder so ein verdächtiges, klägliches Krächzen.

Im nächsten Moment war Sandra auf den Beinen. „Ado, mein Kleiner, was fehlt dir? Du wirst mir doch nicht ...“

Er schwieg, sagte keinen Piep, gab nicht einmal einen jener beängstigenden Krächzer von sich.

Augenblicklang war Sandra starr vor Angst. Dann sprang sie zum Schrank, zu ihrem Schulfach, wo rechts vorn der Vogelsand, die Tüte mit Futter und ein Behältnis mit Hirserispen ihren Stammplatz hatten.

Leer - der Platz. Leer?

Der Proviant für Adolar fand sich in einem Beutel, und der Beutel lag unter dem Tisch, lag dort, wie Sandra ihn gestern Abend abgelegt - nein: hingeworfen hatte. Beschämt hob sie ihn auf, kramte darin, holte eine ährenschwere Rispe heraus.

Hirse am Stiel - die Lieblingskost von Adolar. Und zugleich ein Spielzeug für ihn. Wie er sich immer, sobald der Halm durch die Gitterstäbe geschoben wurde, mit dem grannig-borstigen Eindringling gebalgt hatte!

Jetzt schien er die Ähre überhaupt nicht wahrzunehmen, und als ihn Sandra an der Kehle kitzelte, piepte er nur.

„O Gott, Ado, o Gott ...“

Eine Weile fühlte sich das Mädchen ratlos, verstört, auch unwillig. Dann begann ihr zu dämmern, was sie tun könnte, um Adolar zu helfen, ihn wieder gesund zu kriegen. Hastig räumte sie als erstes den Beutel aus, stellte die Tüten an ihren Platz neben den Schulbüchern, seufzte.

Heute war der dreißigste August. Übermorgen würde der Unterricht beginnen, ein neues Schuljahr, für Sandra die fünfte Klasse. Zwei Tage noch, die letzten beiden Ferientage - für lange Zeit die letzte Möglichkeit, unbeeinträchtigt von Hausaufgaben, Zensuren, Beurteilungen bummeln zu gehen, sich gemeinsam mit Peggy in die Eisbar zu setzen, von Jungens zu reden ...

Ein heiserer Piepser unterbrach die Überlegungen, und Sandra schob Erinnerungen beiseite. In dieser Situation an Sadko, den Kurdenjungen, zu denken, an Sadko aus dem Ferienlager, wo sie bis gestern gewesen war! Drei Wochen Ostsee, davor zwei Wochen Mallorca mit den Eltern - mehr als ein Monat, dass Ado mal da, mal dort untergebracht worden war.

Sandra hatte inzwischen den Käfig gesäubert, Körner und frisches Wasser nachgefüllt.

Adolar hockte noch immer teilnahmslos auf der Schaukelstange. Wie mühsam sein Atem ging!

Dem Mädchen fiel es schwer, gefasst zu bleiben. Am liebsten wäre sie losgestürzt, zur Telefonzelle gerannt. Aber von der Zelle neben dem Haus im Nachthemd telefonieren?

Also lief sie ins Bad, machte Katzenwäsche, putzte die Zähne. Aus dem Spiegel sah sie dabei ein gebräuntes Gesicht an. Graue Augen und helles, von der Sonne gebleichtes Haar. Sich vorzustellen, dass Sadko mit der Hand darüber hinfahren würde ...

Du spinnst, dachte Sandra und streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus.

Ihr Zimmer lag, seit sie die Übergardine zurückgeschoben hatte, voll im Morgenlicht. Kräftige Feriensonne, dazu die lockenden Laute, die mit einem Lufthauch zum Fenster hereindrangen ...

„Ado, zieht 's?“, fragte Sandra, während sie sich anzog.

Der Vogel, ein zittriger graublauer Federbausch, schwieg. „Ach, Ado, Ado ...“

Sie schloss das Fenster, angelte mit dem Fuß eine Sandale unter dem Bett hervor, kramte in ihren Rocktaschen nach Geld zum Telefonieren.

Hinter ihr fiel die Korridortür mit einem Klick ins Schloss.

Die nächste Telefonzelle befand sich im nahegelegenen Park. Genaugenommen war dies nur eine Lücke in der Häuserzeile, eine Abbruchnische, die nicht wieder zugebaut worden war. Zwei Bänke, ein Buddelkasten, ein paar Büsche und daneben ein verglastes gelbes Häuschen.

Die Zelle war besetzt, und nicht irgendwer stand darin und telefonierte; schon an der Ecke erkannte Sandra Herrn Hörnle, einen Rentner aus ihrem Hochhaus, und dachte: Auch das noch!

Herr Hörnle war bekannt für seine Nörgelsucht, für das, was Sandra, ihre Eltern und andere im Haus „Gemecker“ nannten. - „Ein armer, alter Mann, der niemand hat und alle nervt“, wie Sandras Mutter manchmal sagte.

Selbstverständlich meckerte Herr Hörnle auch jetzt, meckerte sozusagen telefonisch. Sandra verstand zwar nicht genau, worum es ging, bekam aber aus Ton und Bewegungen genug mit.

Sie hielt einigen Abstand zu Herrn Hörnle und zu der Zelle, bemüht, ihre Unruhe zu unterdrücken, wartete, drehte das Geld zwischen den Fingern und überlegte, wie sie beginnen sollte, sobald sie die Mutter am Apparat haben würde, wurde sich nicht schlüssig und spürte, wie ihre Unruhe wuchs.

Was, wenn Mutter nicht kommen konnte, wenn sie keinen Rat wusste, wenn sie überhaupt nicht erreichbar war?

Früher wäre so ein Anruf kinderleicht gewesen. Da hätte es genügt zu sagen, dass mit Ado was nicht in Ordnung ist, und spätestens in der Mittagspause hätte Mutter daheim vorbeigeschaut. Seit sie aber fürchten musste, ihre Arbeit zu verlieren ...

Und Vater?

Natürlich dachte Sandra auch an ihn, doch dabei nahm ihre Unruhe erst recht zu. Nicht nur, dass Vater gleichfalls um seinen Arbeitsplatz bangte, für Sorgen um Adolar, Sorgen um einen „Piepmatz“, für so etwas Banales hatte er keinen Sinn. Das war für ihn „Weibersache“; da konnte man nicht mit seiner Hilfe rechnen. Außerdem: Je schlechter es für ihn im Betrieb lief, desto unleidiger wurde er daheim.

Vor dem Urlaub hatte er fast nur noch geschimpft und gejammert - ein Zustand, der offenbar auch für Ado zur Qual geworden war. Kaum hatte der Vater die Stimme gehoben oder seine Litanei angestimmt, war ihm der Vogel lautstark ins Wort gefallen, hatte ihn nachgeahmt oder kreischend beschimpft.

Ado - das Stimmungsbarometer der Familie, der Schiedsrichter, der noch funktioniert hatte, als Mutter und Sandra längst verstummt waren und sich geduckt hatten.

Ado - der Schelm, dem es gelungen war, selbst Vater zum Lachen zu bringen und zur Ordnung zu rufen.

Ado - die Seele der Familie Maiwald.

Sandra sah den zitternden blaugrauen Gefährten vor sich und nahm dahinter einen gelben verglasten Kasten wahr. Darin - ein hagerer Alter, der gestikulierte, als hacke er auf irgend jemand ein.

Wie lange wollte er eigentlich noch reden? Blockierte die einzige Öffentliche weit und breit, und das, wo es um Adolar ging!

Sandra trat zwei Schritte näher, schließlich einen weiteren Schritt.

Aus der Zelle traf sie ein unwirscher, abschweifender Blick.

Danach - der Hinterkopf, grau, stopplig, niederhackend.

Schwierig für ein zehnjähriges Mädchen, einem Erwachsenen die Stirn zu bieten, doch was blieb Sandra anderes übrig? Sie hob die Hand, klopfte mit den Münzen, die sie umklammert hielt, an das Glas.

Zunächst reagierte Herr Hörnle überhaupt nicht. Dann fuhr er herum und brüllte: „Unerhört! Hier kann man nicht mal in Ruhe telefonieren und einen Vorschlag unterbreiten!“

Er schimpfte noch, als am anderen Ende der Leitung offenbar bereits aufgelegt worden war. Plötzlich brach er ab, knallte den Hörer auf die Gabel, stieß die Tür auf.

Sandra war zurückgewichen. Trotzdem ergoss sich über sie ein Schwall aus Flüchen und Verwünschungen. Der Alte warf ihr Frechheit vor, Egoismus, fehlende Ehrfurcht vor dem Alter.

Unruhig, gehetzt schaute sich Sandra um.

Niemand außer einer Frau, die bei den Bänken ihren Hund ein Bein heben ließ.

Erleichtert schlüpfte Sandra in die Zelle, warf drei Groschen ein, wählte.

Als der Ruf schon hinausging und sie noch einmal einen Blick zurückwarf, sah sie Peggy, ihre beste Freundin, um die Ecke biegen.

Ein Hund, sein Frauchen und Peggy

Telefonieren an sich ist kein Kunststück, und auf zwei Fingern zu pfeifen fällt dem, der 's kann, gleichfalls nicht schwer, aber darauf zu lauern, dass jemand abhebt, und dabei einen Pfiff ausstoßen, ein Erkennungssignal ...

Sandra brachte das fertig, und dabei sah sie Peggy, auch jene Frau und Herrn Hörnle aufmerken. Selbst der Hund spitzte die Ohren und senkte unterdessen das Bein.

Dann war am anderen Ende der Leitung eine Stimme zu hören, eine freundliche, werbende Frauenstimme. Sandra grüßte und sagte, dass sie Frau Maiwald, ihre Mutter, sprechen möchte.

„Bitte warten!“, kam es, schon nicht mehr so freundlich, zurück, und im nächsten Moment drang Musik aus dem Hörer, ein Ohrwurm für Oldies.

Sandra spürte ihr Herz pochen und ertappte sich dabei, dass sie über die Schulter schielte.

Peggy kam her, aber auch der Hund, ein Dackel, hatte auf den Pfiff aus der Zelle reagiert; die Ohren flatternd, überholte er gerade mit schleifender Leine Peggy.

Im Hintergrund, die Hände hochgerissen, das Frauchen; daneben Herr Hörnle mit geballter Faust, und jetzt aus dem Hörer, statt der Musik, die Stimme von Mutter.

„Sandra, was gibt's?“

„Mutter, mit Ado ist was nicht in Ordnung.“

„Nicht in Ordnung? Wie das?“

„Er krächzt so. Und frisst nicht. Und kriegt, glaub ich, schlecht Luft.“

„Hm ...“

In der Leitung war es still geworden. Anders vor der Zelle. Dort bellte der Dackel begeistert, sprang an der Tür hoch und umrundete die Glaswände, offenbar entschlossen, dem Mädchen, das so prächtig pfeifen konnte, seine Hochachtung zu bekunden.

Sandra hielt sich das linke Ohr zu und lauschte mit dem rechten. Nichts, noch immer Stille.

Da rief das Mädchen: „Mutter?!“

„Ja doch, Kind, ja! Unser Ado ... Hör zu, Sandra: Du nimmst ihn und fährst mit ihm raus nach Nordost, zur Kleintierpraxis. Wo wir vor zwei, drei Jahren schon mal gewesen sind; erinnerst du dich noch?“

„Ja, Mutti, aber ... Kannst du nicht - vielleicht in der Mittagspause ...?“

„Ach, Kind, wie du dir das vorstellst! Allein dieser Anruf ... Nein, mein Mädchen, du musst es allein schaffen, und du schaffst es auch, aber pass auf dich auf! Nimm am besten die Campingtasche, stell das Bauer hinein, das Häuschen mit unserem Ado ...“

„Bitte kurz fassen!“, rief die andere Frauenstimme, und Mutter brach ab. „Tschüs denn“, sagte sie rasch noch. „Und pass auf dich auf und ...“

Knacken in der Leitung, dann ein Dauerton, das Freizeichen. Draußen ließ der Hund unvermindert lautstark seiner Begeisterung freien Lauf. Zurückhaltend, ja ein wenig ängstlich - Peggy, und auch Herr Hörnle und das Frauchen sahen stillschweigend her.

Sandra hängte den Hörer in die Gabel, drückte die Tür auf, verließ die Zelle. Zu dem Hund, der wohl am liebsten einen Wettlauf oder wenigstens eine kleine Balgerei gestartet hätte, sagte sie zerstreut: „Bist ein Guter.“

Er sprang an ihr hoch, und sie kraulte ihm das Fell. „Ja doch, ja! Natürlich würde auch ich gern rumdüsen. An so einem Tag!“

Er ließ die Ohren hängen, ging mit zu Peggy, sah zu, wie Sandra der Freundin die Hand hinhielt.

Peggy griff zögernd zu. „Na, zurück?“, fragte sie. „Ich hatte gehofft, du schaust mal vorbei.“

„Es ist spät geworden gestern Abend“, erwiderte Sandra, „und heute früh ...“

Im selben Moment fing der Dackel wieder zu bellen an. Sein Frauchen hatte sich herangeschlichen und nach der Leine gebückt.

„Komm!“ Sandra gab Peggy einen Wink, und beide rannten zum Haus, vorbei an Herrn Hörnle, der kopfschüttelnd grinste.

„Mit wem hast du eigentlich telefoniert?“, wollte Peggy wissen. „Kenn ich ihn?“

Es dauerte, bis Sandra begriff. Rasch streifte sie die Freundin mit einem Blick, und murmelnd gestand sie, es sei kein Junge gewesen.

„Kein Kerl? Wer dann?“

„Meine Mutter.“

„Eh ...“

Sie hatten den Fahrstuhl betreten, und während Sandra die Knöpfe drückte, überlegte sie fieberhaft: Peggy, die beste, ja eigentlich die einzige Freundin - gelangweilt, enttäuscht. Was, wenn sie ging und sich für das neue Schuljahr beispielsweise mit Anja zusammentat?

Der Fahrstuhl ruckte an, und Sandra hörte Peggy reden. Es ging um irgendeinen Jungen aus der ehemaligen 6 a, jetzt siebte Klasse und somit ein Großer, fast schon ein Erwachsener. „Erst dachte ich, er wär auf Anja scharf, aber nein, er ist hinter mir her.“

Anja ... Also doch!

Sandra fiel es schwer, sich unbeteiligt zu geben - mehr noch: bewundernd zu gucken.

„Und war schon was?“, erkundigte sie sich.

Peggy wich mit dem Blick aus. „Wie man 's nimmt“, sagte sie.

Sandra nickte zerstreut, dachte an Sadko, seufzte. „Stimmt. Manche trauen sich nicht, sind richtig schüchtern, und man muss selber den Anfang machen.“

„Ach! Erzähl mal! Hast du das auf deiner Karte gemeint?“

Die geheimnisvolle Ankündigung, richtig, die Andeutung zu einem ganz tollen Bekannten. Wie hatte sich Sandra auf ein Gespräch über Sadko gefreut, auf so einen Plausch mit Peggy, und nun ...

Der Fahrstuhl hielt, und sie stiegen aus.

„Erzähl schon!“, drängte Peggy. „Wie heißt er? Wie sieht er aus?“

Sandra hatte das Schlüsselbund aus der Tasche geholt. Sie klirrte damit, bevor sie aufschloss, und lauschte.

Nichts. Sonst hatte Adolar, sobald sich jemand an der Tür zu schaffen machte, stets gezwitschert oder geschimpft. Heute kein Laut, nicht einmal jenes Krächzen.

Sandra warf die Schlüssel auf die Konsole im Flur, eilte in ihr Zimmer, sah nach dem Bauer.

Draußen schlug Peggy die Tür zu. „Was hast du nur?“, fragte sie kopfschüttelnd. „Machst einen neugierig, erzählst nichts ...“

Sandra wies zu Adolar, der noch immer zittrig auf der Stange saß. „Er ist krank, er muss zum Arzt.“

„Dein Piepmatz? Bist du deshalb so komisch?“