Impressum

Dietmar Beetz

COWBOY Pitt

 

ISBN 978-3-95655-910-5 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 2001 im Verlag Edition D.B.

 

2018 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

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http://www.edition-digital.de

 

Für Gotthard, Carla, Valentin, Gregor und Anton

 

„Aber den schimmernden Quader aus Licht

habe ich selbst noch gesehen,

mit eigenen Augen, zauberhaft

mühelos in die Höhe geworfen

am eisernen Haken

auf das lederne Schulterblatt

 

des Eismanns, am Mittwoch,

pünktlich, die Splitter

schmolzen mir feurig

im kalten Mund.“

Hans Magnus Enzensberger, „Verschwundene Arbeit“

HÜPF-MANNLE

An diesem Nachmittag befanden sich Pitt und Bernd, zwei Jungen aus Altenroda, spät noch im Harzscharrersgrund.

Sie waren Stunden vorher aufgebrochen, losgesockt im Waldläuferschritt, Pitt ausgreifend, Bernd auf kürzeren, leicht gekrümmten Beinen wie ein Dackel, der ab und zu einen Spurt einlegen muss. Am Ochsenborn hatten sie im Vorbeigehen „gewässert“, das heißt: das Rinnsal, das die Bergflanke herabkam, umgelenkt auf die Wiese, die Pitts Großeltern gehörte, und dann waren sie eingetaucht in den Wald.

Hier kannten sie jeden Pfad, was nichts Besonderes war, hatten sich doch selbst die Holzabfuhrwege während des Krieges und in den beiden Jahren seit seinem Ende streckenweise unter Farn und Fichtenanflug verkrochen.

Vorigen Sommer war ein Orkan über die Höhen hinweggefegt. Hier im Wind- und Regenschatten der Berge hatte er, anders als an den Süd-West-Hängen, kaum gewütet. Dort wurde noch jetzt im Windbruch gesägt, mit Äxten gehackt, über die sich verschärfende Borkenkäferplage geklagt. Hier war es still in den Gründen, selbst im Hochsommer ein wenig kühl und bereits am späten Nachmittag dämmrig.

Pitt und Bernd hatten zu fischen versucht. Das war verboten, gewiss, aber wer befolgte schon solche Verbote! Hauptsache, man ließ sich nicht vom Förster erwischen, falls der sich hierher verirren sollte.

Gefangen hatten sie bislang nichts, keine der fünf, sechs pfeilschnellen, silberschuppigen Forellen, die ihnen zu Gesicht gekommen waren. Das ärgerte sie und spornte sie gleichzeitig an. Immer weiter folgten sie dem Bach, der vor ihnen hersprang, sich zwischen Steilhängen hindurchwand, abbog in ein breiteres, steiniges Tal, den Harzscharrersgrund, ein Stück von niedrigem, dichtem Wuchs flankiert und dann wieder unter dunklen, Turm hohen Fichten.

„Da!“ Bernd wies zum Ufer gegenüber. Dort hatte der Bach den Hang ausgewaschen, und in der Nische, die entstanden war, verschwand zwischen Steinbrocken gerade ein silbriger, ellenlanger Schatten.

„So groß“, flüsterte Bernd, wobei er wenigstens einen halben Meter anzeigte.

Pitt wiegte den Kopf. „Versuch's von unten!“, riet er. „Ich geh von oben ran.“

Hastig streifte er die Gummilatschen, die sein Großvater in der Tischlerwerkstatt aus einem alten Autoreifen gebastelt hatte, von den Füßen, und bedächtig, lautlos, sacht stieg er in das kalte, sprudelnde Wasser.

Bernd behielt seine Igelit-Sandalen an, als er ein Stück Bach abwärts, mit den Armen balancierend, den glitschigen, steinigen Grund betrat.

Plötzlich hörte Pitt über dem Gemurmel des Baches Gepolter.

Ein Tier? Ausgerechnet jetzt?

Auch Bernd war stehen geblieben, den Mund beim Lauschen halb offen.

Dort kam tatsächlich was. Oder irgendwer. Die Schneise drüben am Hang herab - leicht hinkend, wie es schien. Ein Mensch, ja, ein Mann mit einem Schlapphut. Jetzt trippelte, sprang er das letzte Stück, wobei etwas schepperte, landete auf dem Weg, der oberhalb des Baches vorbeilief.

Wenn man sich duckte, vielleicht ...

Da aber hatte der Mann die Jungen, die wieder erstarrten, offenbar erspäht. Einen Moment sah er her, reglos, unter dem Hutrand im Licht, das durch die Kronen herabdrang, unkenntlich, und plötzlich griff seine Hand zum Gürtel und fuhr über das Gesicht, das gleich darauf pechschwarz war.

Weiter unten im Bach bewegte sich Bernd oder fing an zu zittern, und nun erst verspürte Pitt die Kälte, die in ihm hoch kroch, und Angst.

Der Mann war mit ungleichmäßigen Schritten zurückgewichen. Jetzt nahm er einen Rucksack von der Schulter, richtete drohend etwas Längliches, Umhülltes wortlos auf Pitt, auf Bernd und zog sich, die Jungen unverändert im Blick-, im Schussfeld, weiter zurück auf dem Weg, bis er unvermittelt zur Seite sprang und in Gestrüpp verschwand.

Pitt und Bernd fanden erst nach geraumer Weile die Sprache wieder.

„A Hüpf-Mannle“, brachte Bernd, noch immer schlotternd, heraus.

„Quatsch“, erwiderte bibbernd Pitt. „Das war ein Wilddieb. Mit einem Gewehr im Rucksack, einem abgesägten Karabiner oder so was. Und wie er sich das Gesicht geschwärzt hat, mit Ruß von einem Kochgeschirr oder von einer Feldflasche, das ist ein alter Wilderer-Trick.“

„Klar, aber wer sagt denn, dass die Hüpf-Männer nicht wildern? Jedenfalls ist der gehopst. Und wie er gehopst ist! Den Hang runter auf den Weg und dann ins Gebüsch - jedes Mal wenigstens vier Meter.“

„Du spinnst ja. Das waren nie im Leben vier Meter. Und außerdem, hast du etwa Spiralfedern an seinen Füßen gesehen?“

„Hab ich nicht, weil ... Von da unten im Bach aus war von seinen Füßen doch überhaupt nichts zu sehn! Wer weiß, vielleicht hat er Federn dran gehabt, ulkig, wie er getappt ist?“

„Stimmt“, sagte Pitt. „Wie d'r krumm Frieder.“

Und dann lachten beide, Pitt genauso belustigt wie Bernd. Sich vorzustellen, dass der krumme Frieder, ein buckliger, hinkender Sonderling, als eines dieser geheimnisvollen Hüpf-Männchen auf Spiralfedern durch die Gegend hopste, das war denn doch zu komisch.

Rumalbernd gelangten die Jungen zurück zu den Wiesen am Ochsenborn. Unterwegs hatten sie von fern, vermutlich bereits aus der Nähe des Dorfes, das Bimmeln von Kuhglocken gehört - die Herde, die heimgetrieben wurde und jetzt wahrscheinlich längst in den Ställen stand.

So spät schon, und noch keine Schularbeiten gemacht! Was zu Hause erzählen? Etwa, dass sie zu fischen versucht hatten und dabei einem Hüpf-Männchen begegnet waren?

Pitt nahm sich vor, seinen Großvater einzuweihen. Ihn eventuell. Nicht die Mutter, die sich wieder vor allem Sorgen machen würde, auch nicht die Großmutter, die Pitt in Gedanken die Schultern zucken sah. „Hüpf-Mannle? So a Quatsch!“

Der Opa würde sicher schmunzeln und vielleicht die Sache weiterspinnen: dem Hüpf-Männchen Scheinwerferaugen andichten, dazu eine Art Antennen-Geweih. Vorausgesetzt, er hatte Zeit, und es gab keinen Krach, weil Pitt so lange rumgestrolcht war und noch keine Schularbeiten gemacht hatte.

„Wir waren halt wässern“, sagte Bernd, der offenbar die gleichen Gedanken wälzte. „Wir haben auf der Lauer gelegen, bis sich die Gangels-Sippschaft endlich verzogen hatte.“

„Gute Idee“, fand Pitt. „Aber dann müssen wir tatsächlich noch mal nachsehen; denn wenn mein Großvater kontrolliert, und das Wasser fließt rüber zu denen ...“

„Klar.“

Sie waren in Trab gefallen, um den Abstecher zur Wiese so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Kein Spähen, Sichern, Anschleichen wie sonst ... Dabei kam weder Pitt noch Bernd der Verdacht, dass man sie beobachten, ja ihnen auflauern könnte.

Das Wasser floss - Pitt sah es beim Näherkommen - auf das Nachbargrundstück, eine Wiese des Glasmachers Gangel, der eigentlich anders hieß, den meisten im Dorf aber nur unter diesem Spitznamen bekannt war. Den angehängt hatte man ihm, weil gern trank und dann wankend, eben „ganglig“, daherkam. Unwahrscheinlich, dass er nach seiner Schicht in der Glashütte wässern gewesen war. Das hatte vermutlich Siegfried besorgt, sein Sohn, der mit Pitt und Bernd in die 6. Klasse ging und mit den beiden nicht nur beim Wässern in Wettstreit stand.

Das Rinnsal war offenbar erst vor kurzem umgeleitet worden, denn im abgesperrten Graben glänzte es noch feucht. Und dann bemerkte Pitt, während er mit Bernd Rasenbatzen und Steine umzusetzen begann, Spuren an den Grabenrändern, eine Vielzahl frischer und verschiedener Fußtapfen.

„Du, das war nicht nur der Gangel.“

„Stimmt“, bestätigte Bernd.

Im nächsten Moment glaubte Pitt, wie er später eingestand, von „echten Hüpf-Männchen“ überfallen zu werden. Unter Geschrei sprangen vier, fünf Gestalten hinter Hügeln auf und stürzten sich brüllend auf ihn und auf Bernd.

OMA, OPA, MUTTER, KINDER

Es war ein ungleicher Kampf gewesen, dabei aber die alltäglichste Sache der Welt. Fünf Jungen - bei ihnen der Gangels-Siegfried - hatten zwei Gleichaltrige überrumpelt und verdroschen, ohne allzu brutal zuzuschlagen. Die beiden trugen lediglich Beulen und jeweils ein blaues Auge davon.

„Das zahlen wir denen heim“, schworen sich Pitt und Bernd, und dann schlich jeder von ihnen nach Hause, darauf bedacht, keinen Anstoß zu erregen und einer Tracht Prügel, einer zweiten, hausgemachten, möglichst zu entgehen.

Im Gehöft der Großeltern, wo auch Pitt, seine Mutter und das vierjährige Brüderchen lebten, seit der Vater als „vermisst“ galt, hier schien alles wie sonst zu sein. Die Mutter nahm im Hof hinterm Haus gerade Wäsche ab, während Kurti, das Brüderle, Jagd auf die gackernden Hühner machte, angeblich, um sie, vorbei am Anbau mit den grunzenden Schweinen, in den Stall zu treiben. Dort muhte Lotte, die Kuh, plärrte Lissy, das Kälbchen, meckerten Else und Guste, die beiden Ziegen, und in all das mischte sich die mal besorgte, mal zurechtweisende Stimme der Großmutter.

Pitt war schon fast vorbei, als die Mutter seine Blessuren bemerkte. „Wie ist denn das passiert? Hast du dich wieder geschlagen?“

„Halb so schlimm“, erklärte Pitt. „Der Gangel hat uns überfallen, mit einem ganzen Trupp, den Bernd und mich beim Wässern. Aber es tut überhaupt nicht weh.“

„Und die Schularbeiten?“

„Hab ich gemacht, Mutter, so gut wie alle; nur was ausrechnen muss ich noch.“

„Na, dann beeil dich mal!“, erwiderte sie - ein Rat, den Pitt umgehend befolgte.

Sein Ranzen lag noch, wo er ihn verstaut hatte: in der Wohnküche zwischen Holzkiste und Herd. Pitt holte ihn hervor, schob zwei Kaffeetassen und eine Zeitung auf dem Tisch beiseite, legte seine Schiefertafel zurecht, zog fast verstohlen die Fibel aus dem Ranzen und klappte sie bei einem Eselsohr auf.

„Wir sind jung, die Welt ist offen,

o du schöne, weite Welt!“

Es war ein Lied, das sich beinah allein einprägte. Zwei-, dreimal gelesen - schon konnte man die Augen zumachen und ...

Etwas berührte Pitt, zupfte an seinem linken Ärmel.

Kurti, der Hühner-Jäger, der sich angeschlichen hatte.

„Liest du mir was vor?“

„Jetzt? Ich muss doch noch Schularbeiten machen! Rechenaufgaben.“

„Aber das ist doch ein Buch mit Geschichten! Rechnen tust du doch auf der Tafel!“

„Was du schon weißt! Also gut, meinetwegen. Vorlesen werde ich dir zwar nichts, aber vielleicht hörst du dir das mal an.“

Kurti beeilte sich, auf einen der Stühle zu klettern und sich zurechtzusetzen. Kerzengerade saß er da, mit großen Augen; und Pitt, angespornt von so viel Aufmerksamkeit, begann wie auf einer Bühne zu deklamieren.

Als er bei der dritten Strophe war, kam die Großmutter mit dem Melkeimer herein. „Du spielst wohl Theater?“, fragte sie in der Mischung aus Hochdeutsch und Dialekt, die sie im Gespräch mit Pitt, Kurti oder der Mutter meist benutzte. „Da könntst d'e aach an Kurb Groos gehol.“

Kurti versuchte, die Oma aufzuklären, doch die hatte bereits den Eimer auf den Tisch gestellt, neben die Schiefertafel. Während sie sich an der Zentrifuge zu schaffen machte, steckte Pitt Fibel und Tafel zurück in den Ranzen.

„Wo ist denn der Opa?“, fragte er.

„Ban Schmieds-Robert“, sagte die Großmutter.

„Beim Schmied? Und warum?“

„D'e Lotte. A Eise is locker.“ Und auch mit der Lissy habe es Ärger gegeben.

„Und beschlagen?“, erkundigte sich Pitt. „Wird die Lotte heute noch beschlagen?“

„Hoffentlich.“ Die Großmutter seufzte und begann, die Milch durch ein Seihtuch laufen zu lassen und in den bauchigen Zentrifugentrichter zu gießen. Die Lotte müsse doch morgen wieder mit auf die Weide; man habe doch kaum noch einen Halm Heu.

„Klar.“ Und schon an der Tür, bat Pitt die Großmutter: „Sag dem Opa, er soll warten, unbedingt! Ich hol fix das Gras und geh dann mit zum Schmied.“

MISS LISSY