Impressum

Karl Otto und Dietmar Beetz

Die Gräfin und der Spielmann

Märchen aus der Bahnhofstraße

 

ISBN 978-3-95655-916-7 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Sabine Beck

 

Das Buch erschien erstmals 2002 in der Edition D.B., Erfurt

 

2018 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

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GLÜCKSMICHEL

„Du bist ein Glückskind“, sagte die Mutter zu Michel, ihrem einzigen Sohn, „und du hast mir immer gehorcht. Bitte, tu's auch jetzt! Geh ins Dorf und such dir eine ordentliche Frau!“

„Wird gemacht“, erwiderte Michel und wandte sich zur Tür.

„Moment noch!“, rief die Mutter. „Dass du mir aber nicht rumstehst oder rumhockst und bloß gaffst! Tüchtig zugegriffen und gegessen, wenn sie dir was anbieten sollten!“

„Zugegriffen und gegessen!“, wiederholte Michel und marschierte los - auf Brautschau.

„Na“, fragte die Mutter, als er munteren Schrittes zurückkam, „wie war's?“

„Nicht schlecht“, gab er zur Antwort. „Dumm eigentlich nur, dass ich Gras essen musste wie eine Kuh.“

„Gras - essen?“

„Ja doch! Den Blumenstrauß, den das Gretel mir gegeben hat, lauter Margeriten, Arnika, Vergissmeinnicht ... Hab ich gekaut und geschluckt und gekaut!“

„Aber, Michel, Blumen zu verspeisen - wer hat dich denn auf die Idee gebracht?“

„Na, du, Mutter! 'Tüchtig zugegriffen und gegessen, wenn man dir was anbieten sollte!' hast du gesagt, und ich hab's gemacht.“

„Hm ... Und das Gretel, die - Grete?“

„Die hat gelacht, mich ausgelacht.“

„Lass sie!“, sagte die Mutter nach einem Seufzer. „Musst halt noch eine Menge lernen. Blumen - das merk dir! - einen Strauß, den man auf Brautschau geschenkt kriegt, den isst man nicht, den steckt man sich an den Hut. Verstanden?“

„Klar, Mutter. Nicht essen - an den Hut stecken!“

„Gut. Und nun los und ein paar Häuser weiter dein Glück versucht!“

 

Diesmal klopfte Michel an bei der Liese, die er noch immer „Liesel“ nannte, obwohl sie mittlerweile zu einer jungen Frau herangewachsen war. Sie kochte gern und gut und servierte ihm deshalb nach einigem Gesprächsgeplänkel einen Mehlkloß mit herrlich duftender Zwetschkenbrühe.

Michel schnupperte, leckte sich die Lippen und griff nach der Gabel, besann sich dann aber.

„Denkst wohl, ich weiß nicht, was sich schickt?“, sagte er zu Liese, die ihn erwartungsvoll ansah. Und ohne eine Erwiderung abzuwarten, spießte er den Kloß auf die Gabel, steckte sich dieselbe an den Hut und goss die Brühe auf die Krempe.

Liese hatte die Handgriffe mit wachsendem Befremden verfolgt. Nun lief sie kreischend davon, verschwand und ließ Michel ratlos zurück.

Doch erst der Empfang daheim! Die Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen, lachte und weinte beim Anblick ihres Sohnes, klagte.

„Was soll nur aus dir werden? - Steckst dir einen Kloß an den Hut, an den Hut einen Kloß! Wenn ich da an deinen Vater denk, dem ich, als er um mich anhielt, gleichfalls Klöße serviert hab ... Halbiert hat er jeden und die Hälften nochmals sorgsam geteilt und jedes Viertel manierlich verspeist wie ein feiner Herr.“

Das kann ich auch, sagte sich Michel, und tags darauf ging er wieder auf Brautschau, abermals ein paar Häuser weiter, zu Katrin, die er schon als „Trinchen“ gekannt hatte. Diesmal brachte ihm die Umworbene ein Linsengericht - Linsen, von denen es hieß, wer sie esse, dem gehe nie das Geld aus.

Michel mochte Linsensuppe zwar nicht sonderlich, doch riss er sich zusammen und fragte verschmitzt: „Meinst wohl, ich könnte nicht speisen wie ein feiner Herr?“

Katrin guckte verständnislos.

Da schob Michel den Löffel beiseite, langte nach Messer und Gabel und begann, jede Linse in Viertel zu schneiden.

Er gab erst auf, als Katrin ihm lachend riet: „Geh, Michel, bitte, geh! Such dir die feine Dame, die zu dir passt!“

 

„Bist zwar ein Glückskind“, stellte daheim die Mutter bekümmert fest, „aber zum Heiraten offenbar noch zu dumm. Ich habe dich, meinen Einzigen, stets vor Widrigkeiten geschützt, doch nun musst du wohl oder übel in die Welt gehn, dich gründlich umsehn und lernen, dich endlich allein durchzuschlagen.“

Michel nickte. „Wenn's sein muss ...“

Die Mutter seufzte und füllte für ihn drei Töpfe mit Proviant. In den ersten drückte sie Butter, in den zweiten Quark, den dritten goss sie voll Milch.

„Nun wende alles gut an!“

„Werd ich schon“, versicherte Michel - und marschierte los, auf Wanderschaft.

Bald kam er an ein Wegstück, das von einem Gewitterguss aufgerissen worden war.

Was, wenn jemand in diesen Spalt tritt, stolpert und stürzt? ging es ihm durch den Kopf, und er griff in sein Bündel, öffnete den ersten Topf und strich die Butter in den Riss, damit das Wegstück wieder gefahrlos passierbar war.

Bald darauf gelangte er an einen schilfgesäumten, von dichtem Gestrüpp umstandenen Teich.

Dort probte gerade ein Frosch-Chor. „Quak, quak!“, schallte es dem Wanderburschen entgegen.

„Wenn ihr sonst nichts wollt“, erwiderte der, holte den zweiten Topf aus dem Bündel und warf eine Handvoll Quark nach der anderen ins Wasser, zwischen die verwundert verstummenden, weghüpfenden, abtauchenden Frösche.

„Gell, das schmeckt? - Na, wohl bekomm's!“

 

Da es schon dämmerte, beschloss Michel, hier am Ufer die Nacht zu verbringen, und weil es kühl zu werden begann, suchte er dürres Holz zusammen und zündete sich ein Feuer an. Bald prasselten die Flammen, und bei einem Blick in die Glut sagte sich Michel: Eigentlich habe ich mich bisher allein ganz manierlich durchgeschlagen.

Schlief er ein dabei? Träumte er dann?

Plötzlich sah er eine weiße Schlange aus dem Schilf gekrochen kommen. Sie näherte sich ihm, hob den Kopf und züngelte, züngelte ihn an.

„Armes Tier“, sagte Michel im Traum oder tatsächlich im flackernden Schein seines Feuers, „hast sicher Durst. Wenn du magst - hier ist Milch, ein ganzer Topf voll. Trink nur, trink dich satt!“

Und sie trank, trank, bis sie gesättigt im Gras lag, reglos, wie erstarrt.

„Ist dir kalt?“, fragte Michel. Er berührte sie, spürte, wie kühl sie war, griff zu und sagte: „Komm, ich wärme dich; sonst erfrierst du mir noch.“

Da aber entglitt sie ihm und fiel ...

Er schrak auf, hielt die Luft an, erstarrte.

Ins Feuer war sie gefallen, ins Feuer hier am Ufer dieses Teiches, und nun - nun stiegen Dämpfe auf, weiße Dämpfe, die dicht und dichter wurden, bis plötzlich ein Donnerschlag erdröhnte.

Vor Schreck fiel Michel auf den Rücken und schloss die Augen.

Als er sie wieder aufschlug, stand vor ihm ein Mädchen, eine wunderschöne, junge Frau. Sie hielt ihm die Hand hin, sagte: „Komm, Michel, steh auf!“

„Wer bist du?“, fragte er. „Wo kommst du her?“

Sie wies in die Runde, zu Gärten und zu einem Park, die im Mondschein lagen, zu einem Schloss mit hell erleuchteten Fenstern, aus denen Licht auf Kutschen und Pferde, auf geschäftige Menschen fiel.

„Das alles war eben noch ein Froschteich mit Schilf und Gestrüpp weit im Umkreis, verwunschen, von einem bösen Zauber gebannt.“

„Und die Schlange, die weiße Schlange?“

„Das war ich - verhext mitsamt meinem Gesinde, meinem Schloss, meinem Land. Du hast uns erlöst, und nun gehören wir - gehört das alles dir.“

„Alles?“ Michel richtete sich auf. „Auch - du?“

„Wenn dein Herz noch frei ist ...“, erwiderte die Prinzessin lächelnd.

„Mein Herz ... Ach, was! Wenn du mich magst, gehör ich dir mit Stumpf und Stiel. - Sagt man so?“

„Warum nicht, Michel, warum nicht?“

„Gut. Dann lass uns meine Mutter holen, auch die eine und die andere aus unserm Dorf! Sollen alle mit uns Hochzeit feiern!“

DIE GRÄFIN UND DER SPIELMANN

Vor Zeiten lebte eine Gräfin, die ungewöhnlich reich war, in einer von dicken Wällen umschlossenen Burg. Dort funkelte alles in kalter Pracht, und kalt, ja, eisig waren selbst im Sommer die herrschaftlichen Gemächer.

Die Gräfin hatte nämlich ein Herz aus Eis, und ihr Atem war derart frostig, dass er Blumen erstarren ließ. Mensch und Tier flohen ihre Nähe, niemand lud sie zu Gast, und sie selber verlangte es nach keinerlei Gesellschaft; denn als sie noch ein Kind gewesen war, hatte eine Fee sie gelehrt, am besten halte man sich von allem fern, verschließe sein Herz und werde kalt und hart wie Eis.

Das war der Gräfin gelungen, und seitdem lebte sie, geschützt von ihren Burgmauern und von einem Panzer in ihrer Brust, wie hinter Schloss und Riegel. Sie aber hielt sich für frei, für abgeklärt und unverwundbar.

Dabei war sie noch jung, zudem nicht etwa hässlich, im Gegenteil. Wenn sie morgens erwachte, strahlten ihre Wangen wie Frührot bei Frost, und die Augen schimmerten blau wie ein Gletschersee.

Der Blick dieser Augen traf, sobald sich die Lider hoben, auf sechs Zofen, eine so dienstbereit wie die andere, und alsbald begann die übliche Morgenzeremonie. Zwei Zofen wuschen die Gräfin in frischem Quellwasser, zwei flochten ihr glänzendes, nachtschwarzes Haar, zwei zogen ihr lilienweiße Kleider an.

„Nun seid Ihr die Schönste weit und breit“, versicherte die Oberzofe fröstelnd, und die übrigen fünf wiederholten schaudernd: „Die Schönste weit und breit, die Schönste ...“

Die Gräfin nickte, ließ sich von anderen Bediensteten ein eisgekühltes Getränk servieren und verspeiste dazu irgendeine gefrostete Kost, das alles allein. Dann hauchte sie Eisblumen an die Fensterscheiben, stundenlang; es war ihr liebster - und oft ihr einziger - Zeitvertreib.

Kurzweil anderer Art, ja, ihren besonderen Spaß hatte sie, wenn ein Freier vor der Burg erschien. Das war nicht selten der Fall, hatte sich doch die Kunde von der Schönheit der Gräfin und von ihrem Reichtum in allen Winkeln des Landes und weit jenseits der Grenzen herumgesprochen.

So geschah es immer wieder, dass ein Jüngling, manchmal auch ein nicht mehr blutjunger Ritter am Fuße des Burgberges abstieg oder hoch zum Tor ritt und Einlass begehrte.

Die meisten dieser Ankömmlinge wurden von einem stattlichen Gefolge begleitet, von Standartenträgern, Fanfarenbläsern und anderen Bediensteten; doch niemand aus solch einem Trupp, weder Herr noch Gesinde, durfte das Tor passieren oder bekam die Gräfin auch nur zu Gesicht.

Die stand, solange die Belagerung währte, verschleiert an einem ihrer Fenster und schaute hinab auf die Fremden - in den Augen kalte Glut, die erst erlosch, wenn der Freier samt Gefolge abzog.

Danach begann sie, wieder Eisblumen an die mittlerweile abgetauten Scheiben zu hauchen.

Eines Tages aber langte ein Freier an, der sich von all seinen Vorgängern auffällig unterschied. Nicht nur, dass er allein daherkam, ohne Standartenprunk, ohne Fanfarengeschmetter; auch das Pferd, das er ritt, ein Schimmel, war merkwürdig anzusehn. Es schien mit ihm, dem Reiter, im Gegenlicht zu verschmelzen.

Tatsächlich saß er ohne Sattel auf seinem Rücken, und in der Hand hielt er nicht etwa einen Schild oder ein Schwert, sondern ein hölzernes Gerät, das die Zofen, die neugierig ausspähten, als Panflöte erkannten.

Ein Marktpfeifer, dachte die Gräfin, die den Fremden gleichfalls heimlich gemustert hatte, wohl irgend so ein Spielmann, der tiriliert und das für Musik hält, oder der Herold eines dieser schafsköpfigen Mitgiftjäger.

Eigentlich hätte sie sich abwenden sollen; doch merkwürdig, der Anblick des Fremden ließ sie nicht los.

War der Kerl da unten überhaupt ein Bediensteter? Sah er dafür nicht zu stattlich aus - wie bescheiden er auch dahergekommen war auf seinem ungesattelten, herrlichen Pferd?! Und wie gelassen er sich jetzt beim Tor, unweit der Wachposten, einzurichten begann für die Nacht, ohne angeklopft, ohne eine Abweisung riskiert zu haben!

Die Gräfin spürte, wie ihre Augen anfingen zu brennen. Sie riss den Blick los, wandte sich ab, versuchte, die Hitze, die jäh in ihr aufwallte, zu unterdrücken. Vergebens. Ja, alles wurde noch ärger, als die Dämmerung hereindrang und die Nacht anbrach.

Da setzte nämlich Musik ein, Panflötenspiel, eine Melodie, die sich wie in Tanzschuhen zu bewegen schien, lockend und mit sich fortziehend, betörend schön.

Der Kerl! Natürlich begehrt er Einlass, wenngleich nicht so plump und abstoßend wie seine Vorgänger, sagte sich die Gräfin. Der ist gefährlich, viel gefährlicher als alle vor ihm; und wenn er nicht sofort aufhört, jage ich ihn fort, lasse die Hunde auf ihn hetzen und verbitte mir das Geflöte.

Im nächsten Moment erstarb die Melodie, wurde es still.

Die Gräfin, noch immer verwirrt und erregt - sie horchte, lauschte.

Nichts. Schritte der Wachposten beim Tor, aber kein Ton mehr, kein Laut.

Irgendwann schlich sie ans Fenster, spähte hinab, vorbei an den glänzenden Helmen ihrer Wächter.

Dunkelheit dort, wo er vorhin abgesessen war, undurchdringliche Schatten.

Hatte da draußen nicht eben etwas gescharrt, leise gewiehert? War er etwa drauf und dran, wegzureiten, jetzt, bei Nacht? Sollte sie ihn vielleicht doch einlassen, ihn gar empfangen?

Die Geräusche wiederholten sich, und die Gräfin fühlte sich wie zerrissen. Ihr Blick irrte in die Ferne, über Ländereien, die ihr gehörten, ihr dennoch plötzlich bedrohlich erschienen, im Licht des Mondes, das zwischen ziehenden Wolken herabfiel, sogar unheimlich.

Dem sich öffnen? All dem da draußen - und vor allem: dem dort unten vor dem Tor?

Die Gräfin wandte sich ab, kehrte dem Fenster den Rücken.

Dieser Fremdling, dieser Nichtsnutz! Sie so zu beunruhigen, sie derart in Bedrängnis zu bringen! Der Teufel sollte ihn holen!

Und sie rief ihre Zofen und befahl ihnen, sie zu entkleiden und ihr das Bett zu bereiten.

Schlafen aber konnte sie nicht; Unruhe hielt sie gepackt.

Das sollst du mir büßen, dachte sie, derweil sie sich auf ihrem Lager wälzte. Das sollst du mir büßen, mir büßen!

 

In der Frühe darauf schienen die Ängste der Nacht vergessen zu sein. Als die Gräfin, die gegen Morgen doch noch in Schlaf gefallen war, die Augen aufschlug, standen wie gewohnt die sechs Zofen an ihrem Bett, sie zu waschen, ihr das Haar zu kämmen und zu flechten, sie anzukleiden, sie zu bewundern; doch als sie dann ihr frostiges Frühstück zu sich nehmen wollte, wanderte ihr Blick durch das Fenster und ließ sie erstarren.

Draußen auf dem Burgwall, ihr gegenüber, stand er, der Fremde, der Spielmann.

Sie hielt den Atem an, blinzelte.

Nein, es war kein Trugbild. Dieser Kerl, dieser verdammte Fremdling, hatte offenbar in aller Frühe den Wall erklommen und sich bis vor ihr Fenster gewagt, und nun - nun hob er gar die Hand, winkte herüber, lächelte dabei.

Die Gräfin spürte wiederum, wie Hitze in ihr hochschoss, und plötzlich meinte sie, Merdecáda zu hören, die Fee, die ihr Amme und Lehrerin gewesen und ihr erst letzte Nacht wieder erschienen war.

„Bleib hart!“, hatte Merdecáda geflüstert, und das befahl sie, eindringlich, ja beschwörend, auch jetzt. „Wenn du überlegen sein willst, unverwundbar, unerschütterlich, musst du kalt sein, kalt und hart wie Eis.“

„Ich weiß, Göttliche, ich weiß“, erwiderte die Gräfin in Gedanken, und wie während der Nacht in ihrem Bett, so breitete sich jetzt hier am Fenster eisige Ruhe in ihr aus.

„Wer bist du?“, fragte sie herrisch den Fremden.

„Ein Edelmann“, gab der, sich leicht verbeugend, zur Antwort, „ein Prinz.“

„Und was suchst du dort auf dem Wall?“

„Dich, Gräfin, dich suche ich, um dir mein Herz zu Füßen zu legen und dir, so du willst, die Hand zu reichen. Alle Welt rühmt und lobpreist deine Schönheit, und ich ... Vielleicht war ich, als ich von dir hörte, zunächst bloß neugierig, neugierig wie andere auch, wollte dich mal sehn, mich mit eigenen Augen von deiner Herrlichkeit überzeugen; doch nun, da du vor mir stehst, leibhaftig mir gegenüber und dennoch zauberhaft wie eine Märchengestalt ...“

„Schweig!“, fiel ihm die Gräfin ins Wort, unterbrach sie ihn, um die Wallung, die abermals in ihr aufstieg, zu unterdrücken.

Er verstummte, und als sie ihn so stehen sah, großäugig, wohlgestalt, trotz der Zurechtweisung scheinbar unerschütterlich, da wusste sie plötzlich, was sie zu tun hatte, unverzüglich, um dem ein Ende zu bereiten.

„Wer mich haben will“, erklärte sie kühl, „der muss mehr können als ein paar Flötentöne blasen und auf einem Wall herumspazieren.“

„Und was, Gräfin, verlangst du?“, erkundigte sich der Spielmann.

„Dass du dort erscheinst, wo du jetzt stehst, aber nicht auf deinen Beinen, sondern hoch zu Ross.“

„Hier - auf meinem Pferd?“

„Genau, Flötenbläser, dort auf deinem Pferd.“

Er warf einen Blick hinab und schaute noch einmal herüber, forschte in ihrem Gesicht. Dann machte er kehrt und stieg den Wall hinunter, schweigend, bedächtig.

Kaum war er verschwunden, verließ die Gräfin das Fenster, und bald darauf trat sie, in der Hand eine Kanne, durch eine Geheimtür hinaus auf den Wall. Gemächlich schritt sie dahin auf der Mauer, dicht am Absturz entlang. Dabei goss sie Wasser aus wie jemand, der Blumen gießt; doch wo sie ihren Fuß hinsetzte, überzogen sich die Steine mit spiegelglattem Eis.

Wenig später stand sie wieder in ihrer Kammer am Fenster und hielt, die Lider schmal, nach dem Spielmann, dem Prinzen Ausschau.

Der ließ nicht lange auf sich warten. Auf seinem Schimmel kam er, hart am Abgrund, behutsam daher, näher und immer näher.

Es war ein Kunststück ohnegleichen, und das Wagnis schien fast schon geglückt; da strauchelte das Pferd, glitt aus auf den vereisten Steinen und stürzte mitsamt dem Reiter in die Tiefe, hinab auf den Burghof, direkt unter das Fenster der Gräfin.

Die schloss für einen Moment die Augen.

„Na, Göttliche“, fragte sie in Gedanken, „wie hab ich das gemacht?“

„Gut, mein Mädchen, gut“, lobte die Fee. „Du hast das Zeug zur Herrscherin; aber nun lass es genug sein! Geh nicht weiter, nicht runter, geh nicht zu nah heran!“

Die Gräfin überhörte die Warnung. An den Mundwinkeln ein Lächeln, verließ sie ihre Gemächer und stieg hinab zum Burghof.

Hier gefror das Lächeln jäh.

Das Pferd, der Schimmel war zwar tot, lag reglos, die Glieder zerschmettert, da, aber der Prinz, der Spielmann, hatte den Sturz offenbar wie durch ein Wunder überlebt. Er hockte neben dem Ross, seinem toten Gefährten, und das wohl schon geraume Zeit, strich ihm mit der Hand wieder und wieder über die Mähne; und nun - nun drückte er dem Tier die Augen zu, griff nach einem Stück Holz, vermutlich einem Rest seiner zersplitterten Flöte, und richtete sich auf.

Die Gräfin, um den Mund ein starres Lächeln, hielt den Atem an.

Etwas in ihr verlangte nach Streit, nach Vorwürfen und Widerrede, vielleicht sogar nach Tätlichkeiten.

Nichts dergleichen wurde ihr zuteil, nichts außer einem verächtlichen, einem brennenden Blick; der aber sollte bewirken, dass fortan in ihrem Leben nichts mehr wie vordem war - und alles anders.

 

Der Spielmann, der Prinz, hatte den Leichnam seines Pferdes wegbringen lassen und war gegangen, vor einiger Zeit schon, aber noch immer meinte die Gräfin jenen Blick zu spüren, mitunter auch, die Panflöten-Melodie zu hören.

Beides, das Lied und der Blick, hatte sich ihrem Gedächtnis eingeprägt, eingebrannt. Mehr noch: Seit der Begegnung auf dem Burghof, seit diesem stummen Duell, und wohl schon seit der Serenade am Abend zuvor war die Gräfin verändert an Leib und Gelüsten, hatte sich ihr Wesen scheinbar in sein Gegenteil verkehrt.

Aus Eis war Glut geworden, aus Kälte verzehrendes Feuer, und was einst der Frost gebannt hatte, daran fraßen nun Flammen. Ruhe kannte die Gräfin nicht mehr.

Dabei konnte sie durchaus noch für schön gelten. Erhob sie sich in der Frühe wie gewohnt von ihrem Lager, glühten ihre Wangen scharlachrot, und in den Augen schwelte und wetterleuchtete es prickelnd wie vor einem Gewitter.

Nach wie vor standen dienstbereit sechs Zofen am Bett. Zwei wuschen sie in frischem Rosenwasser, zwei strählten ihr Haar, dass Funken sprühten, zwei zogen ihr purpurfarbene Kleider an.

„Nun seid Ihr die Schönste weit und breit“, versicherte die Oberzofe, bedrückt von der Schwüle im Umkreis ihrer Herrin, und die übrigen fünf wiederholten beklommen: „Die Schönste weit und breit, die Schönste ...“

Die Gräfin nickte zerstreut, ließ sich von anderen Bediensteten ein brühheißes Getränk servieren und aß von irgendeiner zerkochten, dampfenden Kost, das alles allein und jeder Gesellschaft ledig.

Ans Fenster trat sie nur noch selten, beschlugen sich doch die Scheiben, sobald sie in deren Nähe kam. Gewiss, dann konnte sie das Glas berühren, mit dem Zeigefinger Kringel, Schlangenlinien, Fragezeichen auf die kühle Fläche malen; was aber war das, verglichen mit den kristallklaren Eisblumen von einst?