Impressum

Arnold Hiess

Leben auf Messers Schneide

Die Memoiren von Cartouche, dem Meisterdieb

 

ISBN 978–3–95655–894–8 (E–Book)

ISBN 978–3–95655–893–1 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2018 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E–Mail: verlag@edition–digital.de

http://www.edition–digital.de

Vermächtnis der Madame Clarot

Wenn ich durch den Regenbogen gehe

und mein Licht zurückbleibt

in den Augen der Menschen.

Dann weine nicht um mich,

dein Herz muss weiterschlagen

 

Schau in das Innerste der Menschen,

dort, wo die Seele liegt.

Sie ist eine Schatzkiste

und muss geöffnet werden.

 

Darin liegt die Liebe, die wahre

die Güte, die wunderbare

das Mitleid, das echte.

 

Du bist der Schlüssel.

Öffne sie!

Wieder und wieder!

 

Kämpfe nicht gegen den Sturm,

denn du brichst daran entzwei.

Nutze den Fluss der Zeit,

er kann tragen so manche Last.

 

Eines Morgens wachst du auf,

wenn die Zeit reif ist.

Und du wirst wissen, was richtig ist.

 

Madame Clarot, Paris 1710

Bild

Paris 1740

Prolog

„Halt! Du verdammter Dieb!“, schrien die Wachen in die kalte und finstere Nacht hinein.

Kurz davor versteckte ich mich in dem Schatten einer verlassenen Schreinerei.

Ich war völlig außer Atem und mein Herz raste, da ich mir eine wilde Verfolgungsjagd mit den beiden geliefert hatte. Nun kamen sie immer näher und näher; ich bemühte mich, so gut es ging, nicht zu atmen, und versuchte, mich nicht zu bewegen. Die Rüstungen der beiden waren schwer und machten furchteinflößende Geräusche. Sie wurden immer lauter. Hecheln und Schnappatmung war mittlerweile zu vernehmen und ich dachte, sie sollen bloß weiterlaufen. Bloß weiterlaufen … Immer und immer wieder.

Ich hatte Glück. Ohne mich und das Haus eines Blickes zu würdigen, liefen sie mit tosendem Getrampel in die Dunkelheit hinein. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag, und ich machte mich auf den Weg in eine nahe gelegene Scheune, in der ich meistens übernachtete.

Gierig packte ich nun den Laib Brot aus, den ich Stunden zuvor bei einem Festmahl der Reichen im Arrondissement Luxembourg in der Nähe des Palastes erbeutet hatte.

Hastig verspeiste ich ihn und biss mir, getrieben von meinem grenzenlosen Hunger, mehrmals in die Zunge.

Tagelang hatte ich nichts mehr zum Essen gehabt; und es war ein Festmahl …

 

Eigentlich hatte ich eine lustige Kindheit, und ich trieb trotz der Not der einfachen Leute allerlei Schabernack. Wir wohnten etwas außerhalb der Pariser Stadtmauern, und mein Vater war Weinbauer. Er war ein großzügiger, warmherziger und dennoch sehr strenger Mensch. Meine Mutter liebte uns beide über alles – sie war die wichtigste Bezugsperson meines ersten Lebensabschnitts.

Im Jahre 1700 – ich war sieben Jahre alt – bekam ich die Pocken, eine widerliche Krankheit. Ich habe jedoch fast keine Erinnerungen mehr an diese Krankheit, da ich wochenlang fast nur schlief; doch meine Mutter war schwer in Sorge um mich. Viele mit denselben Symptomen starben, doch ich überlebte.

Ein Andenken an diese fürchterlichen Tage zierte von nun an mein Gesicht und Teile meines Körpers: Narben. Überall Narben.

 

Es schien alles so wunderbar zu sein; doch mein Leben sollte sich an jenem Junitag im Jahre 1705 völlig verändern. Ich ging früh zu Bett und war ein glückliches Kind. Meine Mutter sang mir vor dem Einschlafen noch etwas vor, küsste mich auf die Stirn, und löschte die Kerzen …

 

„Wach auf!“, schrie meine Mutter mit sich überschlagender Stimme, als sie mit donnerndem Getöse die Türe zu unserem Schlafgemach aufriss. Ganz verschlafen und verwirrt schweifte mein Blick durchs Zimmer, als sie das Fenster öffnete. „Was ist denn los, Mutter?“, fragte ich. Sie beugte sich zu mir herab und weinte.

Die Tropfen kullerten in Strömen über ihre Wangen. „Keine Zeit mehr“, sagte sie mit verängstigter und weinerlicher Stimme, während sie mir über die Wangen streichelte.

„Mein Sohn, du musst gehen. Lauf, so schnell du kannst, und ich hoffe, du verstehst es eines Tages“, fuhr sie fort und drückte mir dabei einen Sack mit Lebensmitteln in die Hand.

In Windeseile zog sie mir Kniehose und Mantel über und zerrte mich ans Fenster.

„Du musst jetzt stark sein“, sagte sie, um kurz darauf „Lauf, so schnell du kannst, LAUF, LAUF, LAUF … “ schluchzend hinzuzufügen, als sie sich fahrig durch ihre volle, kastanienbraune Haarpracht strich.

„Egal, was passiert, egal, was geschieht, und egal, was du hörst – dreh dich nicht um. Lauf!“, sagte sie mit versteinerter Miene und in bestimmendem Ton. „Versprich es mir!“, fauchte sie mich an.

„Ja, Mutter, wie Ihr wünscht“, antwortete ich ihr fast artig, und so kletterte ich durchs Fenster ins Freie.

„Je t'aime, meine Junge. Je t'aime … auf Ewig!“, hauchte sie in die Nachtluft hinein, und schloss weinend und ganz erdrückt das Fenster, als sie mir mit ihren braunen Augen einen letzten Blick zuwarf.

Verwirrt, aber dennoch bei Sinnen befolgte ich die Anweisungen meiner Mutter und ging los.

In dieser Nacht herrschte große Dunkelheit und Stille, kein Mondlicht schien, dennoch konnte ich mir meinen Weg bahnen, und so streifte ich durch die angrenzenden Weingärten.

Ein laues Sommerlüftchen wehte, die Grillen zirpten, und es war noch immer angenehm warm.

Eigentlich schien es wie ein ruhiger Abendspaziergang, als plötzlich verängstigte, weinerliche Schreie und Gewinsel dieses Bild trübten.

Ich war bereits ein paar hundert Meter von unserem Anwesen entfernt, dennoch konnte man abscheuliches Geschrei und widerliches Stöhnen und Weinen vernehmen, ohne einen genauen Wortlaut zu verstehen. Eine dieser Stimmen war aber ganz klar die meiner Mutter. Sie schrie jetzt so laut, so durchdringend und schauderhaft … Die Schreie sollten mich mein ganzes Leben verfolgen.

 

Trotz aller Bedenken setzte ich meinen Weg fort, schließlich hatte ich es versprochen.

Ich liebte meine fürsorgliche Mutter, ich konnte ihr keinen Wunsch abschlagen.

Außerdem hielt ich in meinem kindlichen Leichtsinn alles bloß für ein Spiel.

Einige Minuten später wurde das grauenvolle Getöse vieler Personen allmählich weniger und leiser. Lag es vielleicht daran, dass ich mich immer weiter und weiter von unserem Haus entfernte, oder kehrte nun Ruhe ein?

 

Immer weiter und weiter wanderte ich durch die mittlerweile wieder friedliche Dunkelheit, ehe ich zu einem riesigen Baum kam. Eine Eiche. Sie war so groß, dass man meinen mochte, sie wäre ein direkter Zugang zum Himmel. Ich kannte dieses monströse hölzerne Objekt. Hier machte mein Vater mit mir Halt, als wir von einer Geschäftsreise aus St. Denis voriges Jahr zurückkamen. Er war ebenso erstaunt und beeindruckt von diesem Wunder der Natur wie ich.

Zu diesem Zeitpunkt war mein Vater überglücklich und sprach immer davon, dass wir es bald geschafft hätten, wir bald vermögend sein werden. Er lachte und frohlockte tage- und wochenlang.

Im letzten halben Jahr sah ich ihn kaum, denn er arbeitete pausenlos. Wenn er mit uns am Tisch zu Abend aß, wurde er schnell jähzornig, und wenn ich etwas ausgefressen hatte, scheute er sich nicht, mir mehrere Backpfeifen zu verpassen. Dennoch liebte ich ihn sehr.

 

Nun hatte ich einen Anhaltspunkt, wenn ich mich auf den Rückweg machen würde, doch so weit war es noch nicht, und ich wanderte weiter gen Norden.

Meine Beine wurden immer schwerer und schwerer, ich versuchte aber weiterzumarschieren. Irgendwann brach ich vor Erschöpfung zusammen – und verfiel in einen Schlafzustand.

 

Am nächsten Morgen – es war schon hell – wurde ich von Hühnergegacker und Hundegebell geweckt. Ich hörte die Rufe der jagenden Sperber, die am azurblauen Himmel kreisten.

Verträumt rieb ich mir meine Augen und wischte mir übers Gesicht. Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, was geschehen war.

Ich richtete mich auf, war schmutzig vom vielen Umherirren. Ich befand mich auf einer großen Weide samt angrenzendem Bauernhof. Dieser Ort war mir völlig fremd, und so kundschaftete ich weiter meinen Standort aus. Da sah ich sie wieder – die Eiche, sie war nur einige hundert Meter weit entfernt.

Mein Anhaltspunkt war so riesengroß, dass man ihn eigentlich schon von fern sehen konnte.

Nun machte ich mich auf den Weg zu dem Baum, und aß einstweilen etwas Brot, das mir meine Mutter auf diese obskure Reise mitgegeben hatte.

Beim Baum angelangt, setzte ich mich, und legte eine kurze Pause ein. Darf ich zurückkehren? War es nur ein Spiel? Wieso? Viele Fragen schwirrten in meinem Kopf herum, doch ich entschloss mich, zurückzugehen.

 

Ich musste nachts stundenlang gegangen sein, denn als ich endlich in der Nähe unseres Hauses angelangt war, fiel bereits die Dämmerung ein. Fröhlich pfiff ich die Melodie des Liedes, das mein Vater immer sang, und freute mich, meine Eltern bald wiederzusehen. Doch mein Pfeifen endete abrupt, als ich bereits von weitem Rauch und Qualm aufsteigen sah.

Meine Schritte wurden schneller, und ich begann zu laufen.

Wie in Trance bewegte ich mich zu meinem Heim. Es war verbrannt. Alles verbrannt. Das Feuer züngelte zwar noch immer da und dort, doch es war bereits größtenteils verlöscht. Die Scheune, die Weingärten. Alles zerstört.

„Mutter?!“ „Vater?!“, fragte ich immer und immer wieder mit schluchzender und weinerlicher Stimme. Doch es antwortete niemand.

Schließlich brach ich weinend zusammen und war völlig aufgelöst.

Mein ganzes Leben, meine Existenz schien wie vernichtet.

Meine Eltern? Ich sollte sie nie mehr wiedersehen …

 

Zwei Tage lang blieb ich bei meinem Haus, in der Hoffnung, es würde sich irgendwie alles zum Guten wenden. Ich war am Boden zerstört, starrte erschüttert immer wieder auf die Trümmer, die vor mir lagen. Ich war fassungslos und ohne Antrieb, hatte keine Ahnung, was mit mir passieren würde.

Doch der Hunger meldete sich, die Lebensmittel meiner Mutter neigten sich dem Ende entgegen.

So raffte ich mich auf, getrieben vom Hunger, mir etwas Essbares innerhalb der Stadtmauern von Paris zu besorgen. Ständig musste ich zurückblicken: Mein altes Heim, Zuflucht und Schutz zugleich. Dies war nun Vergangenheit. Doch was würde vor mir liegen? Angst und Ungewissheit machten sich breit, doch ich musste nach vorne blicken, denn sonst würde ich nicht lange überleben.

 

Der südliche Teil von Paris war durchsetzt mit Bauernhäusern und Weingärten. Einige Male war ich mit meinem Vater bereits hier gewesen, und so kannte ich mich ein wenig aus.

Ich zog gen Norden dieses Bezirks weiter, denn dort lag ein Markt, auf dem vielerlei Lebensmittel angeboten wurden. Vielleicht könnte ich mir etwas stehlen, dachte ich mir; es wäre nicht das erste Mal gewesen.

Am Markt angekommen, herrschte hektisches Treiben. Frauen und Kinder in teils schönen, bunten Gewändern kauften ein, die Markthändler prahlten mit ihren Waren. So viele Stimmen – man konnte fast nichts verstehen vor Lärm.

Ich schlenderte an den Marktständen vorbei und suchte einfach nach etwas Essbarem, um meinen Hunger zu stillen. Da! Ein Laib Brot! Relativ unbewacht lag dieser in einem Korb hinter einem der Stände. Zügig schnappte ich zu, hoffte, es würde niemand bemerken. Es gelang, und nun versuchte ich in der Menge zu verschwinden, um in sicheren Gefilden das Brot zu verspeisen.

„Halt, mein Junge!“, hallte es zwischen den Menschen hervor, und ich dachte, ich wurde erwischt.

Doch als ich mich zur Seite drehte, um wegzulaufen, stand er vor mir. Gott sei Dank! Es war bloß Laurent, ein Freund meines Vaters. Wir besuchten ihn hin und wieder, und mein Vater und er unterhielten sich dann oft stundenlang.

„Was machst du so alleine hier?“, fragte er mich erstaunt. Und ich entschloss mich, ihm alles zu sagen.

Nachdem ich mit meiner Geschichte fertig geworden war, beugte er sich zu mir herab, und packte mich fest an beiden Armen. Tränen standen in seinen Augen. „Junge, es tut mir so leid …“, seufzte er immer wieder.

„Wenn ich mehr Livre hätte, ich würde dich bei mir aufnehmen und versorgen, doch ich kann mich und meine Frau Marianne kaum selbst über Wasser halten!“, sagte er leise. Nach einer kurzen Pause nahm er meine Hand, und wir gingen los. „Du kommst erst mal mit“, sagte er.

Laurent war ein schmächtiger Mann und immer sehr frisch angezogen, er hatte schwarze Haare, zu einem Zopf zusammengebunden; dazu roch er auch nicht so faulig wie viele andere, die mir bis dahin begegnet waren. Er war immer sehr nett und höflich. Ich mochte ihn.

„Wo sind meine Eltern, Monsieur?“, fragte ich ihn auf dem Weg zu seinem Heim. In dem Moment ließ er meine Hand los und sagte mit ernstem Ton: „Mein Kleiner, das ist schwierig zu beantworten. Ich weiß nicht genau, doch dort, wo sie jetzt sind, geht es ihnen wahrscheinlich viel besser als hier. Eines Tages wirst du vielleicht alles begreifen.“

Doch ich vermutete schon damals, dass sie tot sein würden; vielleicht wäre es leichter gewesen, wenn ich es von jemandem direkt gehört hätte.

 

Nach ein paar Minuten Gehweg waren wir nun endlich bei seinem Haus angelangt. Er war Weinhändler und daher rührte auch die innige Freundschaft zu meinem Vater, der ihn schon einige Jahre belieferte.

„Besuch?“, erklang es mit lieblicher Stimme aus einem der Fenster heraus. Es war Marianne, die Frau von Laurent. Sie war eine bildhübsche Dame, nett und liebevoll. Sie hatte eine blasse, weiche Haut, einen Porzellanteint, rehbraune Augen und hellblondes Haar. Auch sie mochte ich sehr gerne – ich spürte das – und wusste sofort, bei welch wunderbaren Menschen ich hier gelandet war.

 

Laurent sagte, ich solle einstweilen warten, während er mit Marianne sprechen würde, und ich gehorchte. Einige Zeit später bat er mich herein. Marianne war nun verändert. Sie war verängstigt, nahm mich aber hingebungsvoll in den Arm, streichelte über mein braunes Haar, und küsste mich immer wieder auf die Stirn. Sie wirkte wie versteinert, dennoch fühlte ich mich auf Anhieb wohl.

Ich durfte bei ihnen bleiben. Einen Platz zum Schlafen fand ich meistens in der Scheune, da das kleine Haus für drei Personen einfach viel zu eng wurde. In den Wintermonaten bat mich Laurent herein, und wir quetschten uns alle in ein Bett. Ohne diese beiden gütigen Seelen … Vermutlich würde ich nicht mehr unter den Lebenden verweilen.

 

Laurent verdiente mit seinem Weinhandel nur leider sehr spärlich, konnte gerade eben sich und seine Frau mit Essen versorgen. So war ich meistens auf mich alleine gestellt, mir Essbares zu beschaffen.

Ich versuchte einiges, um an Nahrungsgüter und sogar Livre sowie hin und wieder an Wertsachen zu kommen, doch zu Beginn unternahm ich eine kleine Reise in Richtung des Bezirks Île de la Cité.

Unbedingt wollte ich diese wundervolle Kathedrale, von der nahezu jeder, den ich kannte, schwärmte, nun auch mit eigenen Augen sehen.

Ungefähr zwei Wochen nach meiner Ankunft in Paris stürzte ich mich nach Rücksprache mit Laurent nun in dieses kulturelle Abenteuer. Der Bezirk lag ziemlich genau in der Mitte der Stadt und so kam schon ein mittelprächtiger Fußmarsch auf mich zu. Doch dies störte mich nicht, denn so konnte ich mich wenigstens einmal kurz von den Geschehnissen meiner jüngeren Vergangenheit ablenken.

 

Paris war wunderschön anzusehen, und dabei hatte ich noch nicht einmal viel von dieser prächtigen Stadt zu Gesicht bekommen. Diese Stadt war so lebendig – so etwas hatte ich zuvor noch nicht erlebt. Menschenmassen, Geplauder, enge Gassen, Bäckereien, Metzgereien, Apotheken, Cafés, dazu wundervoll verzierte, bunte Gebäude.

Es war ein Fest der Sinne, doch erst viel später sollte ich diese Stadt in vollem Umfang genießen können, denn es waren viele unentdeckte Orte in dieser schier nicht mehr enden wollenden Metropole anzutreffen. Und so schlenderte ich nun über die Brücke, die nach Île de la Cité führte, und genoss einen kurzen Augenblick den Anblick der Seine, über der an diesem Tag ein leichter Nebelschleier lag – wie ein weißes Tuch, das sich über dem Fluss ausbreitete.

Ein wenig später zog ich weiter, und stand schon kurz darauf vor meinem Ziel.

Notre Dame. Hier stand ich nun und war zutiefst beeindruckt von diesem Bauwerk. 100 Jahre baute man daran, wie mir einst mein Vater erzählte; nun verstand ich, warum. Diese Kathedrale war außergewöhnlich. Mit offenem Mund bewunderte ich die schiere Unendlichkeit der beiden Glockentürme, die Verzierungen, die Dekorationen. Einfach alles. Ich umrundete die Kathedrale einmal – dies sollte länger dauern als mein bisheriger Fußmarsch, von solch monumentalem Ausmaßes war dieses Gotteshaus.

Währenddessen ertönten die Glocken. Ein gewaltiges Ereignis, das ich so bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte. Dann machte ich mich auf den Weg in den Innenraum der Kathedrale.

Fantastisch, großartig, dachte ich mir, als ich nun das erste Mal die Notre Dame von innen sah.

Das selbe Bild wie außen – ein absolutes Meisterwerk.

Nachdem ich mit dem Bestaunen dieses wunderbaren Bauwerks fertig geworden war, setzte ich mich endlich in eine Kirchenbank, faltete meine Hände, und begann zu beten, so wie es meine Mutter mich gelehrt hatte.

Ich betete für Vater, Mutter und sogar für Laurent und Marianne, die so gütig zu mir waren, und schöpfte viel Hoffnung aus dieser Tat. Währenddessen kamen immer wieder diese fürchterlichen, grausamen Schreie aus jener Nacht in mir hoch und die Tränen flossen in Strömen.

 

Als die Dämmerung einfiel, machte ich mich auf den Rückweg.

Die engen Gassen waren nun wesentlich weniger bevölkert und Dunkelheit machte sich breit.

Wo tagsüber reges Treiben meiner Mitmenschen herrschte, begegneten mir jetzt fast nur noch Ratten.

Stille machte sich breit, als ich spät abends endlich einige hundert Meter von meinem neuen Zuhause entfernt war. Doch plötzlich rannte mich jemand von einer dunklen Gasse heraus über den Haufen.

Ich fiel zu Boden, und als ich mich von meiner kurzzeitigen Desorientierung erholt hatte, bemerkte ich ein junges Mädchen mit dunkelblondem Haar, ein Mädchen, etwa in meinem Alter, das nun zügig und mit leisem Gekicher davonlief.

Als ich mich danach langsam aufrichtete und den Schmutz von mir abstreifte, bemerkte ich, dass die wenigen Livre, die ich in meiner Tasche hatte, fehlten. Dieses junge Ding musste mich bestohlen haben.

Aber, lieber Leser meiner Memoiren, dieses Mädchen sollte in meinem späteren Lebensverlauf eine unabdingbare Schlüsselrolle einnehmen.

Leicht erschrocken, doch dennoch gefasst, schlenderte ich nun in Richtung meiner Herberge und begab mich ins Heu zur Nachtruhe. Es war trotz dieser merkwürdigen wie denkbar ungünstigen Begegnung am Ende dieses Tages ein schier unfassbares kulturelles Erlebnis gewesen.

 

Die Tage in jenen Zeiten waren hart, und ich konnte froh sein, wenn ich jeden Tag etwas Essbares ergatterte. Die meiste Zeit arbeitete ich für Monsieur Lavanier, ein kräftiger Mann mit dichtem flauschigen Haar und Bart. Er war Fisch- und Fleischhändler, hatte sein Geschäft, seinen Stand direkt an der Seine aufgebaut, und war ein Freund von Laurent.

Seine Arbeit war kurzweilig und für ihn befriedigend. Die Aufträge, die er mir erteilte, waren meist nur Botengänge, die dennoch so lohnend ausfielen, dass ich mich meistens über Wasser halten konnte; doch an manchen Tagen reichte es trotz allem nicht einmal für ein Stückchen Brot.

An eben jenen Tagen musste ich mir, um zu überleben, Nahrung und sonstige Kostbarkeiten zusammenstehlen, und dieses Verhalten erfüllte mich bereits in jungen Jahren mehr als reelle Arbeit. Aus einem Grund, den ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Worte fassen konnte.

Das Gaunern war nur leider schwieriger, als anfangs geglaubt. Hin und wieder wurde ich ertappt und hatte entweder Wachen oder die wütende Meute an meinen Fersen. Manches Mal entkam ich nur um Haaresbreite.

Aber im Verlauf meiner weiteren Kindheit wurde ich besser und geschickter in diesen Dingen und konnte so sogar Laurent und Marianne hin und wieder etwas von meiner Beute abgeben.

Sie fragten mich nie, von wo ich die Dinge herbekam, so froh waren sie über etwas mehr Münzen in ihrem Klingelbeutel.

 

Eines Tages rief mich Laurent zu sich, und er frohlockte von einer freudigen Botschaft, die Marianne und er mir mitteilen mussten.

Sie strahlten übers ganze Gesicht, als sie mir erzählten, dass es nun, nachdem sie es jahrelang erfolglos versucht hatten, endlich so weit war. Marianne war schwanger.

Trotzdem, so versicherten sie mir, durfte ich bei ihnen bleiben. Auch aus dem Grund, dass ich mittlerweile durchaus gut darin war, mich mit meinen Straftaten über Wasser zu halten, obwohl ich noch in Kinderschuhen steckte.

 

Und so vergingen einige Monate und die beiden waren glücklicher als je zuvor. Laurent sang nun viel und streichelte unentwegt Mariannes Bauch. Sie waren volle Vorfreude auf das Geschöpf Gottes, das ihrer großen Liebe entsprang.

Doch ihr neu gewonnenes und mit tiefer Liebe gesegnetes Lebensglück sollte zu diesem Zeitpunkt nur mehr von kurzer Dauer sein.

Laurent belieferte nämlich mit seinem Wein auch den königlichen Hof um König Ludwig XIV., der zu dieser Zeit Dutzende Feste für die Créme de la Créme, die Oberschicht, veranstaltete.

Doch in diesem Jahr war die Weinernte rund um Paris sehr, sehr spärlich ausgefallen, und so geschah es schließlich, dass Laurent mit seinen Lieferungen in Rückstand geriet.

 

Eines Nachts – ich schlief bereits friedlich in meinem Heugemach – riss mich ein Gepolter und Gebrüll aus meinen Träumen. Ohne dass sie mich sehen konnten, blickte ich auf das Treiben, spähte aus einem Loch in der Scheune auf Laurents Haus hinüber.

Es waren mehrere bewaffnete Wachen des Königs, die immer wieder „Aufmachen! Sofort Aufmachen!“ brüllten, als sie auf die Vordertür hämmerten. Sie trugen wie meistens Kettenhemden und weiße Kniehosen, stülpten blaue Mäntel darüber und hatten Dreispitzhüte auf ihren Häuptern.

Nach einiger Zeit öffnete Laurent die Türe und es entwickelte sich ein kurzer Dialog, den ich nicht genau vernehmen konnte; aber ich verstand so viel, dass ich mir erklären konnte, was hier vor sich ging.

Kurze Zeit später stießen die Wachen Laurent zu Boden, und ich hörte widerliches Geschrei von Marianne. Minutenlanges, klägliches und furchtbares Geschrei hallte aus dem Haus hervor – so schrecklich, dass ich wie versteinert in meiner Scheune kauerte.

Einige Zeit später kamen die Wachen mit allem Wertvollem, was die beiden besaßen, aus dem Haus heraus und brüllten: „Da siehst du, was du davon hast, du Bastard! Einen König lässt man nicht warten!“

Nun zogen sie in die Nacht hinein, und die Lage beruhigte sich.

Einige Zeit später wagte ich mich ängstlich aus der Scheune, um zu sehen, wo Laurent und Marianne geblieben waren. Wo steckten sie bloß?

Anfangs hörte ich leises Gestöhne, und als ich das Haus betrat, sah ich einen der grauenvollsten Anblicke in meinem Leben.

Die gesamte Inneneinrichtung war zerstört, und das ganze Haus war mit Blut verschmiert.

Marianne hatte eine Fehlgeburt. Sie kauerte blutend sowie weinend in einer Ecke des Gebäudes. Laurent, der selbst geschändet war, versuchte, ihr zu helfen und sie zu trösten. Vor ihnen war eine Blutlache. Ihr noch nicht fertig entwickeltes und nicht zum Leben bereite Kind lag darin – das kleine Geschöpf war mit der Nabelschnur umwickelt, rührte sich kein bisschen; der Körper war voller Blut. Marianne und Laurent knieten vor dem Kind, weinten heftig.

Die Wachen mussten das kleine Wesen förmlich aus ihrem Bauch geprügelt haben. Marianne hatte wahrscheinlich das größte Glück überhaupt, denn sie überlebte diese grauenvolle Nacht. Aber wie die beiden, fast zu Tode geprügelt, schluchzend und verletzt auf dieses blutige, kleine Ding starrten, dem die Chance auf ein Leben auf grauenvollste Weise genommen wurde, war ohne jeden Zweifel einer der schlimmsten Anblicke, die ich in meinem Leben ertragen musste.

Einen Tag danach beerdigten wir dieses unvollendete Geschöpf hinter dem Haus.

Laurent und Marianne waren schockiert und traurig, so am Boden zerstört, dass ich nichts Näheres zu diesem Vorfall nachfragte.

 

Auch für mich sollte dieses schicksalhafte Ereignis im Spätherbst 1708 ein Wendepunkt in meinem Leben bedeuten, denn ich machte mir immer und immer wieder Vorwürfe, fragte mich, ob ich nicht doch die Wachen hätte aufhalten können. Irgendwie brachte ich es nicht mehr übers Herz, den beiden in die Augen zu blicken. Ihre Augen waren nämlich voller Leere, Kälte und völliger Emotionslosigkeit.

So entfernte ich mich immer mehr von diesen gütigen Menschen, die mir einst vielleicht das Leben gerettet hatten. Nur hin und wieder kam ich zurück zu ihrem kleinen Anwesen.

Ab jetzt begann für mich die Zeit des professionellen Stehlens, und so komisch es auch klingen mag, es erfüllte mich mit unglaublicher Freude, weil ich damit eventuell Leid lindern konnte. Der Hass, den ich in mir trug, richtete sich hauptsächlich gegen die gepuderte Oberschicht mit ihren feinen Mänteln und Gewändern sowie ihren glänzenden Häusern. Sie waren es, die armen Bürgern wie Laurent und Marianne das letzte Fünkchen Hoffnung im Leben raubten. Sie ließen ihre eigenen Mitmenschen im Stich. Was für eine Schande!

So begann ich alles, was ich erbeutete, auch aufzuteilen – zum Beispiel mit den Bettlern, aber auch Laurent und Marianne brachte ich ab und zu immer noch Wertvolles.

 

Im Bettlerbezirk Cour de Miracles, dem schäbigsten und heruntergekommensten Teil von Paris, hielt ich mich nun am häufigsten auf. Bettler und Arme gaben sich hier die Klinke in die Hand, nur Baracken gab es in diesem Bezirk – und Ratten, viele Ratten.

Dieser Teil von Paris war übersät von Leid, Schmerz, Armut sowie völliger Hoffnungslosigkeit.

Ständiges Jammern, Flehen und vor Schmerzen schreiende Menschen trübten das sonst so liebliche Bild von dieser Stadt ganz massiv.

 

Geprägt von diesem Elend, plante ich meine ersten Raubzüge. Es ging meistens in Richtung der Arrondissements Cité und Île de la Saint Louis.

Nahrungsgüter und Livre, aber auch goldene Schmuckstücke und weitere Kostbarkeiten waren Objekte meiner Begierde.

Livre war übrigens die französische Währung zu meinen Lebzeiten. Goldene Münzen, auf denen das Haupt unseres Monarchen, König Ludwig der XIV., prangte.

 

Ich beobachtete viel, und schlug zu, sowie eines meiner Opfer unachtsam war.

Schnell wie der Blitz ergriff ich meine vorher ausgespähte Beute, und verschwand in den sich tummelnden Menschenmassen. Leider war ich zu dieser Zeit in meinen Fähigkeiten noch ziemlich eingeschränkt, und so konnte ich weder in Häuser vordringen noch in die riesigen Paläste; somit beschränkte ich mich auf das Notwendigste und Einfachste – Taschendiebstähle.

Erwischt wurde ich zwar noch hin und wieder, doch zu meinem persönlichen Erstaunen konnte ich mich regelmäßig aus etwaigen prekären Lagen befreien, und flüchten.

Fürs Erste war ich aber vollends zufrieden damit, das Leid der Unterschicht, auch wenn es meistens nur eine Handvoll Bürger war, zu lindern.

 

Eines Abends schlenderte ich durch den Cour de Miracles, als mir ein kleines Mädchen mit feurig rotem Haar, etwa acht Jahre alt, ins Auge stach. Ich hatte sie zuvor noch nie hier gesehen, sie war völlig zerzaust, schmutzig und schäbig gekleidet.

„Was machst du hier?“, fragte ich sie. Zitternd und mit weinerlicher Stimme antwortete sie mir, dass sie nicht wüsste, wo sie ist. Sie streife schon seit Tagen durch die Gassen von Paris und hungere.

Als ich sie nach ihren Eltern fragte, begann sie fürchterlich zu weinen, und ihr Blick wendete sich von mir ab. Kurze Zeit später bekam ich dann doch eine Antwort. Mit versteinerter Miene und schauderhaftem Gesichtsausdruck sowie leiser Stimme berichtete sie mir, dass ihre Mutter vor einigen Tagen bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Am Place de Gréve, dem Platz für Hinrichtungen in Paris. Vermutlich wurde sie als Hexe zum Tode am Scheiterhaufen verurteilt.

Dieses kleine unschuldige Ding musste alles mitansehen. Ihren Vater kannte sie nicht.

Tief betroffen drückte ich das Mädchen an mich, und nahm sie mit zu meiner Schlafstätte, mitten im Bettlerbezirk gelegen. Hier sollte sie nun einige Zeit übernachten. Mein gesamtes erbeutetes Diebesgut übergab ich ihr, und alles, was ich in nächster Zeit erbeuten sollte, sollte ebenfalls ihr gehören.

Die meiste Zeit schlief das Mädchen – doch wenn sie einmal nicht träumte, war sie so in Gedanken versunken, dass man meinen konnte, sie träume noch immer. Vermutlich war sie geschockt und völlig überfordert mit dem Schicksal, dass das Leben für sie bereithielt.

Hin und wieder erwachte sie aus ihren Träumen. Schreiend und schweißgebadet, fing sie lauthals an zu weinen. Ich versuchte immer sie zu beruhigen, doch es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder gefangen hatte. Dieses zerbrechliche Geschöpf war in einem ganz schlechten Geisteszustand, den ich so zuvor noch nicht erlebt hatte.

Alles Kostbare, was ich auf meinen Streifzügen durch Paris ergatterte, gab ich nun der kleinen Claire – so hieß sie nämlich, wie sie mir einmal aus freien Stücken erzählte.

Wochenlang häufte ich einen Vorrat an Lebensgütern und Wertsachen an, doch als ich eines Morgens aufwachte, war sie plötzlich spurlos verschwunden. Ich sollte sie nie mehr wiedersehen.

Bis heute frage ich mich, was wohl aus ihr geworden ist; aber zumindest die Wertsachen nahm sie alle mit …

 

Bereits hier wurde mir klar, dass man im Leben nur auf Momente zählen sollte, denn Zukünftiges war nur schwer beeinflussbar.

Nun stand ich also da, mit leeren Taschen und leerem Bauch, da ich alles diesem unschuldigen Wesen geopfert hatte, und so entschloss ich mich, mir etwas Essbares zu besorgen.

Mit gerade einmal 16 Jahren versuchte ich nun, bei einem der unzähligen Festmähler im Arrondissement Luxembourg mir den Bauch vollzuschlagen, doch ich war noch nicht so gut im Stehlen, und so trieben mich die Wachen quer durch Paris. Und das alles geschah nur, weil ich einen Laib Brot stibitzte, wie ich am Anfang meiner Geschichte bereits erwähnte …

 

Bist du bereit für meine Geschichten, werter Leser?

Bist du bereit für die Abenteuer und Geheimnisse von Cartouche?

Ja? Dann begleite nun den König der Diebe auf seiner Lebensreise …