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Hardy Manthey

Die Zeitreisende, 16. Teil

Das geheime Haus des goldenen Itzamná

Ein fantastischer Roman

 

ISBN 978-3-95655-835-1 (E-Book)

 

Titelbild: Ernst Franta

 

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Prolog

Im Teil 15 wagte die Zeitreisende Aphrodite in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts den Flug durch die Zeit mit Hilfe einer fremden Zeitmaschine. Mit ungewissem Ausgang. Der Flug durch das Zeitloch mit dem Militärflugzeug Typ Lockheed C-130A endete mit einer Katastrophe. Das schwer beschädigte Flugzeug stürzte in den Wäldern Alaskas ab. Den Absturz überlebten alle vier Besatzungsmitglieder, vielleicht nur dank der geheimen Kräfte der Zeitreisenden. Es war die letzte Hilfe, die die Herren der Zeit ihr mitgeben konnten. Erst sehr viel später erfahren die Überlebenden, dass sie im Jahr 833 nach Christus in Alaska gelandet sind. Mit der Zerstörung der Zeitmaschine, Aphrodites eigentlicher Auftrag, war für sie jeder Weg zurück in die Zukunft unmöglich geworden. Doch nur mit der kontrollierten Zerstörung der Zeitmaschine konnte die Entstehung eines Schwarzen Loches verhindert werden. Das Schwarze Loch hätte die Erde und das ganze Sonnensystem für immer geschluckt. Dafür musste sie einen hohen Preis zahlen.

Aphrodite hat nur eine einzige Hoffnung, sie muss eine Nachricht über die Zeit hinweg an die Herren der Zeit hinterlassen. Eine Botschaft, so verständlich, dass die die Herren der Zeit sie finden könnten. Nur wenn sie vor ihrem Tod von ihnen gefunden wird, kann sie als Zeitreisende weiterleben. Sie weiß, dass im Süden das Reich der Maya langsam untergeht, aber im 9. Jahrhundert existiert es noch und schafft monumentale Bauten. Obwohl der Niedergang der Hochkultur der Maya nicht mehr aufzuhalten ist, erkennt sie vielleicht aus eigenem Erleben einige Ursachen klarer und kann Theorien der Wissenschaftler der Zukunft ganz zu Fall bringen. Wichtig ist für sie nur, dass ihre gewaltigen Tempel aus Stein die Zeiten überdauert haben. Das können ihr die nordamerikanischen Nomadenvölker mit ihrer einfachen Art zu leben leider nicht bieten. Ihre imposanten Erdhügel und Totempfähle eignen sich leider nicht für Botschaften, die weit über das zwanzigste Jahrhundert hinaus die Menschen erreichen sollen. So hat sie sich schweren Herzens von ihren neuen Freunden trennen müssen und den gefahrvollen Weg in den Süden gewagt. Dort im mittelamerikanischen Kulturraum angekommen, muss ihr Wissen und Können auch die mächtigen Priester der Tolteken überzeugt haben. Denn wie wir aus Teil 15 bereits wissen, gelang ihr es tatsächlich, in einem Tempel im antiken Ixtlan eine Nachricht zu hinterlassen. Wird mit Hilfe der Studenten die Nachricht die Herren der Zeit erreichen? Wird sie rechtzeitig von den Herren der Zeit gefunden? Erfahren Sie hier, was wirklich geschah!

 

Viel Vergnügen beim Lesen wünscht ihnen

 

Hardy Manthey

Mexiko City 1973, vor der Nationalen Autonomen Universität

Jacob Urueta winkt seiner Freundin Isabella Arriaga lächelnd zu. Sie kommt auf der breiten Treppe, die den Platz in seiner ganzen Länge einnimmt, direkt auf ihn zu. Er geht ihr mit großen Schritten entgegen, umarmt sie und grüßt sie mit einem Kuss auf ihre Wange: „Hallo Isabella, wie geht es dir? Um es dir gleich zu beichten, ich war nicht bei den Leuten von der Presse. Wir müssen alles noch einmal überdenken. So wie die Dinge zurzeit stehen, wage ich es nicht, unsere Entdeckung an die Presse weiterzugeben. Das Flugzeug von Seattle nach Alaska am 20. Dezember 1964 scheint es nie gegeben zu haben. Die Amerikaner mauern offensichtlich. Der Absturz in Alaska im Jahr 833 ist also völlig aus der Luft gegriffen. Die Standortangaben gibt es erst seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts. So wird die Geschichte dieser angeblichen Aphrodite zum Absurdum!“

„Feigling, ich denke, es ist alles klar und duldet keinen weiteren Aufschub. Diese unbekannte Frau, diese Zeitreisende, braucht doch unsere Hilfe“, klagt Isabella sichtlich enttäuscht. Ein zartes Band verbindet sie mit der Zeitreisenden. Diese Frau ist so, wie sie gern sein wollte.

Jacob nimmt sie an der Hand und gemeinsam gehen sie über den Platz. Er warnt sie eindringlich: „Wir können nicht übereilt handeln. Das alles kann für uns ein Fiasko werden. Unser Studium, ach was, unsere ganze Zukunft würden wir damit gefährden oder gar ganz aufgeben müssen. Der mysteriösen Frau würde es dann erst recht nicht weiterhelfen. Wir brauchen mehr Beweise, um damit an die Öffentlichkeit zu gehen!“

„Du willst also kneifen“, empört sich Isabella, von ihm schwer enttäuscht. „Männer sind eben doch Feiglinge!“

Nervös widerspricht er ihr leise mit zärtlichem Unterton: „Das ist nicht so, wie du es glaubst, Schatz. Ganz und gar nicht ist es so. Hast du dir die feinen Linien auf den Platten einmal genauer angesehen?“

Isabella schaut zu ihm auf und fragt: „Was soll der Quatsch denn jetzt schon wieder bedeuten? Du willst dich nur mit neuen fiktiven Ideen rechtfertigen.“

„Das solltest du aber unbedingt tun, bevor du der Presse die Story verkaufst“, warnt er sie und erklärt überlegen wissend weiter: „Ich habe mir alles noch einmal ganz genau angeschaut. Die Linien sind in dem harten Stein so tief und sauber eingeschnitten, als hätte jemand mit der Nadel in Butter die Linien gezogen. So etwas ist mit viel technischem Aufwand erst seit den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts so sauber möglich. Ich fürchte ernsthaft, dass diese feinen Linien erst nach der Bergung der Platten von ihren Entdeckern nachträglich eingearbeitet wurden. Mit etwas Aufwand wäre es eine zusätzliche Aufwertung der Funde, auch wenn ich den Sinn der Geschichte immer noch nicht wirklich begreifen kann. Wenn die Botschaft doch echt ist, wissen wir beide immer noch nicht, ob tatsächlich ein Flugzeug 1964 in Alaska abgestürzt ist. Du hast doch bisher keinen einzigen Hinweis auf so ein Unglück in den Nachrichten der Zeitungen aus dieser Zeit gefunden. Selbst wenn wir etwas Passendes zu so einem Unglück in der Presse finden sollten, hat es nicht das Geringste zu bedeuten. Die Platten liegen seit Jahrzehnten unbeachtet hier. Wahrscheinlich erst lange nach dem Unglück hat sich ein Mann in der Absicht, die Fachwelt zu täuschen, die Mühe gemacht, die Platten so nach seinem Willen zu verändern. Der Betrüger hat dabei nicht bedacht, dass die Platten aus völlig verschiedenen Orten stammen. Irgendetwas muss den Mann vor Jahrzehnten dann doch daran gehindert haben, die so aufgewerteten Platten gewinnbringend zu veräußern. Veröffentlichen wir die mysteriöse Botschaft doch, sind wir es, die dann diesem Betrüger auf den Leim gegangen sind. Wir werden der ganzen Welt der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn wir am Ende doch den Schritt der Veröffentlichung wagen!“

Isabella bleibt stehen, hält Jacob fest und widerspricht: „Mein Bauchgefühl als Frau sagt mir, die Botschaft ist echt. Allerdings sind deine Argumente auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Es ist eine Option, die wir nicht ignorieren dürfen. Was ist aber, wenn die Botschaft doch echt ist? Wenn doch im neunten Jahrhundert die Frau mit dem Wissen aus der Zukunft die Botschaft auftragen ließ? Mit dem Wissen aus der Zeit um 1964 war man durchaus in der Lage, so eine Botschaft in so feinen Linien in den Stein zu meißeln. Für mich ist etwas anderes noch viel, viel brisanter. Ist die Botschaft doch echt, muss die Frau eine Zeitreisende sein. Verstehst du, die Frau kann durch die Zeit reisen. Ihr fehlen offensichtlich nur die nötigen technischen Hilfsmittel, ihre Reise durch die Jahrhunderte fortzusetzen. Die Botschaft ist definitiv nur an jemand gerichtet, der selbst ein Zeitreisender ist und sie von dort holen kann. Erfährt er, wo sie lebte, wird er sie von dort auch holen. Es kann nicht anders sein, ihr Retter muss auch durch die Zeit reisen können. Begreif endlich die Bedeutung der Botschaft, Jacob! Wir rufen mit ihr nach einer Zeitreisenden und stellen zugleich den Kontakt zwischen zwei Zeitreisenden her. Nur wir können sagen, wo und in welcher Zeit die Zeitreisende gestrandet ist.“

„Dann soll doch der Zeitreisende die Botschaft selbst lesen und sie von dort holen. Was haben wir damit zu tun?“, widerspricht ihr Jacob und steuert auf eine freie Bank zu.

Zusammen nehmen sie beide auf der freien Bank Platz und schauen eine Zeit lang dem Treiben der vielen Menschen vor ihnen zu. Auch Isabella sind jetzt die Risiken einer Veröffentlichung der Botschaft voll bewusst geworden und sie denkt laut weiter: „Wir beide sind mit der Botschaft der unbekannten Frau völlig überfordert. Auch wissen wir nicht wirklich, wo genau die Frau gelebt hat. Das Ereignis könnte tatsächlich 833 geschehen sein. Ixtlan ist als Ort auch eine gewagte Ortsangabe. Wir müssen uns erst durch eine Expertise die Echtheit der Botschaft bestätigen lassen und die tatsächlichen Fundorte kennen. Erst dann können wir die Botschaft vielleicht doch noch veröffentlichen. Anders geht es tatsächlich nicht. Wir brauchen definitiv Hilfe. Hilfe von Experten!“

„Dann könnte als Experte dieser exzentrische Erich von Däniken zu uns perfekt passen,“ spottet Jacob und lacht laut auf. Vorübergehende schauen ihn erstaunt an.

„Dieser von Däniken hat uns gerade noch gefehlt. Der Mann sucht dann doch gleich ganz Mexiko nach Spuren und Startrampen für Außerirdische ab, wenn wir ihm die Botschaft nur einmal zeigen. Däniken sucht doch nur nach Beweisen für die Existenz Außerirdischer und will von Zeitreisenden sicher nichts wissen. Auch er kann sich Zeitreisen nicht vorstellen, vermute ich mal vage. Däniken ist eine Berühmtheit aber nicht die Lösung für unser Problem, obwohl er mit seinen enormen finanziellen Mitteln und organisatorischen Potenzialen eine echte Alternative sein könnte. Der Mann mit seinen schrägen Ansichten kann nur eine Notlösung für uns sein, wenn alle anderen Alternativen gescheitert sind. Ein unbefangener Experte muss für uns her und nicht so einer, der überall und in allen Artefakten nur Botschaften oder Beweise der Existenz der Außerirdischen sieht. Ich denke dabei an Professor Billete. Er hat seine Professur erst vor zwei Jahren erhalten und hat noch genug Jugend im Blut, um unser Problem gleich im Ansatz zu verstehen“, schlägt Isabella vor.

„Er? Der? Der Mann hat mir mein Studium beinahe versaut. Allerdings ist er tatsächlich ein heller Kopf und könnte uns bei der Lösung des Problems vielleicht doch helfen“, stimmt Jacob ihr zögerlich zu. Er würde dem Mann lieber aus dem Weg gehen. Aber auch er kennt keine andere Alternative und vor allem fachliche Kapazität.

„An deinem pikierten Gesichtsausdruck erkenne ich, dass ich Herrn Professor Billete lieber für uns übernehmen sollte. Dir wird er vielleicht auch gar nicht zuhören wollen. Ich muss jetzt leider zurück in die Uni. Eine wichtige Vorlesung beginnt in zehn Minuten für mich. Morgen Vormittag habe ich etwas Zeit und schaue mir die Inschriften noch einmal genauer an, gerne auch mit dir gemeinsam. Erst wenn ich alles noch einmal ganz genau geprüft habe, wage ich es, Professor Billete direkt darauf anzusprechen. Aber erst dann, wenn ich von der Echtheit der Botschaft hundertprozentig überzeugt bin, will ich den entscheidenden Schritt wagen. Alles für eine sicher gut gemachte Fälschung zu opfern, ist mir die ganze Sache am Ende doch nicht wert“, entscheidet Isabella, steht auf und geht nach einem flüchtigen Kuss auf seine Wange zurück in die Universität.

Jacob bleibt gedankenschwer sitzen. Er muss über alles noch einmal gründlich nachdenken. Alles an der Botschaft ist so verwirrend und irgendwie auch verrückt konstruiert. Sind Zeitreisen überhaupt möglich? Die fantastische Möglichkeit, durch die Zeit zu reisen, fasziniert ihn. Tausende Orte der Vergangenheit und der Zukunft würde er besuchen wollen. Von den Pyramidenerbauern Ägyptens bis zu den Sternenfliegern der Zukunft spannt sich der Bogen seiner Reiseziele durch ferne unbekannte Räume und Zeiten. Eine fantastische Welt voller Abenteuer würde sich vor ihm auftun. Er zügelt seine blühende Fantasie und entscheidet für sich, dass Zeitreisen definitiv technisch nicht möglich sind. Fantasie und Realität gehen hier weit auseinander und sind zwei Paar verschiedene Schuhe, die nie zueinander passen können. Tatsächlich haben sie für ihre Entscheidungen zwei Optionen. Mit der banalen Entscheidung, die Botschaft der unbekannten Frau einfach zu vergessen, lässt es sich unbeschwert weiterleben. Will er das wirklich? Option zwei sieht dagegen ganz anders aus und er muss sich mit allen Konsequenzen für die Frau entscheiden, die dann doch eine Zeitreisende ist. Mit dem Wagnis, die Botschaft der Frau zu veröffentlichen, kann er tatsächlich toll Kariere machen oder ruchlos für alle Zeiten sang- und klanglos untergehen. Der Kontakt zu den unbekannten Mächten, die Raum und Zeit beherrschen, ist für ihn dann auch noch eine Option. Denn dann wären Zeitreisen doch möglich. Gar die Aussicht, selbst als Zeitreisender unsterblich zu werden, kann für ihn zur objektiven Realität werden. Die einmalige Chance, die Unsterblichkeit zu erlangen, elektrisiert ihn. Was aber, wenn sie doch nur einem Betrug erlegen sind? Dass am Ende alles nur ein von langer Hand vorbereiteter Betrug ist? Es gar kein dummer Zufall ist, dass ausgerechnet er die Schriften entdeckt hat. Wenn die Herren Professoren nur darauf warten, dass sich ein Dummkopf findet und sich an die Presse wendet. Er dann Spott und Hohn erntet? Noch nie war er innerlich so zerrissen wie heute.

Er steht bedächtig auf, geht in Richtung Universität und will sich die Schriften noch einmal genauer anschauen. Nur er allein und die geheime Botschaft, das ist sein Ziel heute. Vielleicht findet er dann die Antwort auf seine Fragen. Nach einer knappen halben Stunde kniet er vor einer der Platten nieder und betrachtet mit der Lupe die feinen Linien noch einmal genauer. Es kommt ihm dabei so vor, als spüre er eine unbekannte Kraft in den Händen, nur allein, wenn er die Platte berührt. Auf der Handfläche spürt er ein leichtes Kribbeln, wenn er ganz sanft mit den Fingern über den Stein gleitet. Seine Psyche und Erregung gaukelt ihm sicher nur etwas vor. Die Esoteriker nennen so etwas es ein besonderes Medium. Eine unbekannte übernatürliche Energie soll das sein, die noch niemand benennen kann. Energie, die sich wissenschaftlich nicht beweisen lässt. Was nicht wissenschaftlich bewiesen ist, wird gerne geleugnet. Dass die Erde um die Sonne kreist, war auch Jahrtausende lang nicht wahr und Gotteslästerung. Mit einer Nadel kratzt er vorsichtig die hauchdünnen Linien etwas auf. Dabei sind deutlich in Ton und Farbe unterschiedliche Schichten zu erkennen, die definitiv nur über die Jahrhunderte entstehen können. Der feine farblich unterschiedliche Dreck in den Linien bestätigt leider, dass die Steine über die Jahrhunderte dem Klimawandel ausgesetzt waren. Heftiger Regen und Sandstürme in dürren Jahren hinterließen so ihre Spuren. Also tatsächlich keine Linien, die erst nach der Gravur hier im Museum in den Stein eingeschwemmt wurden. Wenn aber die Linien ständig dem offenen Wetter ungeschützt ausgesetzt waren, hätten sie die Zeit nicht so gut überstehen können. Es geht tatsächlich um über tausend Jahre, die die bearbeiteten Steine alt sein sollen.

Nur der wahre Fundort der Steine kann die Antwort auf diese Frage geben. Die Platten als Teil eines Heiligtums im Innern eines Tempels können die Lösung und der Beweis für die Echtheit der Schriften sein. Doch die alten Unterlagen des Archäologen Rafael Bringas geben das für ihn nicht her. Zu schwammig sind die Aufzeichnungen über die Ausgrabungen. Der echte historische Fundort der Platten ist aus seiner Sicht der eigentliche Schlüssel des Rätsels. Erst vor Ort lässt sich endgültig beweisen, ob die Botschaft echt oder eine raffinierte Fälschung ist. Es lassen sich dort vielleicht noch mehr Inschriften dieser Art finden? Ist der Fundort wirklich das alte Ixtlan gewesen? Den wahren Fundort kennen, das wäre der Schlüssel zu allen Fragen. Doch wer finanziert so eine aufwendige Expedition? Mit etwas Geld und dem Ticket für einen Zug nach Ixtlan del Sitty lässt sich leider so eine Ausgrabung nicht realisieren. Seine Finger spüren wieder über den Linien diese unbekannte Energie aus den Steinen. Sind doch unbekannte Mächte mit im Spiel? Kann das Wagnis sich für sie beide am Ende auszahlen, wenn sie jetzt schon an die Öffentlichkeit gehen? Zerrissen wie schon zuvor, richtet er sich wieder auf. Er ist keinen Schritt weitergekommen. Wie es sich gehört, deckt er die Platten wieder sorgfältig ab. Völlig benommen von seinen Gedankenspielen schließt er die Tür zum Lager und geht mit bleiernen Füßen nach oben. Oben auf dem großen Platz, zwischen all den Menschen, kommt er wieder zu sich.

 

Nur ein Traum?

Vorsichtig schiebt Isabella das Bündel alter Akten und Briefe zurück ins Regal. Es ist für sie anstrengend, die alten Handschriften zu studieren. Nur mit viel Fantasie lässt sich so manche alte Handschrift deuten. Wirklich Neues über den goldenen Itzama und sein geheimes Haus hat sie heute auch nicht herauslesen können. Fakt ist, für die spanischen Mönche und Konquistadoren war das geheime Haus des goldenen Itzama eine unumstößliche Realität, die nur noch entdeckt werden muss. Der Ort wird mit dem sagenhaften Goldland „El Dorado“ in einem Atemzug genannt. Von einer Frau an der Seite des goldenen Itzama, war auch wieder in einem Brief die Rede. Dass an der Seite des goldenen Itzama eine Frau gewesen sein soll, daran stören sich vor allem immer wieder die Mönche. Die Bedeutung der Frau wird dabei bewusst heruntergespielt. Weil aber die mündlichen Überlieferungen der Indios immer wieder über diese Frau berichten, konnten sie die Existenz der Frau nicht völlig verschweigen. Aber sonst waren es wieder nur vieldeutig auslegbare Berichte.

Heute war sogar ein Brief eines eifrigen Steuereintreibers seiner Majestät des Vizekönigs von Spanien darunter. Ein Indio-Stamm aus dem Hochland zahlte für seine entführten Frauen und Kinder mit Gold. Das gelobte El Dorado sei also dort zu finden, vermutete der Mann. Wo dieser Indianerstamm lebte, beschrieb er nicht. So etwas wollte er sicher keinem Brief anvertrauen. Sonst brachte auch sein Bericht nicht wirklich etwas Neues. Leider. Sie wollte gut gerüstet vor den Professor treten. Daraus wird also nichts. Männer seines Schlages sind schwere Kost für jede Frau. Ein kurzer Rock und ein offenherziges Dekolleté reichen bei solchen Männern definitiv nicht aus. Auch wenn ihr unter der Hand von Freundinnen gesteckt wurde, das er kein Kostverächter weiblicher Reize sein soll. Sich für ihren Plan an den Mann verkaufen, will sie auf keinen Fall zulassen. Das lässt hoffentlich auch Jacob nicht zu. Morgen nach der ersten Vorlesung will sie den Professor ansprechen und ihm dann die Steinplatten zusammen mit Jacob zeigen.

Ein prüfender Blick bestätigt ihr, dass sie den Schreibtisch ordentlich verlässt. Auch morgen will sie wieder Zugang zu den alten Akten erhalten. Sie greift nach ihrer Handtasche und verlässt die Bibliothek. Es ist schon dunkel und die Straßen voller Menschen, die an ihr vorbeihetzen. Auf dem Weg zur Wohnung kommt sie an einem Stand vorbei, an dem Tacos verkauft werden. Für ein Taco, nur mit Mais, Bohnen und Chili-Schoten gefüllt, entscheidet sie sich. Eine frische Füllung Hackfleisch liebt sie, aber das Fleisch am Stand hat dem Geruch nach schon einen gefährlichen Grad der Verwesung erreicht. Sie bezahlt, greift nach ihrem Taco und läuft direkt ihrer Freundin und Mitbewohnerin Lucia in die Arme.

Lucia begrüßt sie: „Hallo Isabella, du kommst erst jetzt von der Uni?“

„Ich habe zur Zeit viel um die Ohren“, entschuldigt sich Isabella.

„Mit anderen Worten, du hast keine Zeit“, spottet Lucia und knabbert an einem gegrillten Maiskolben herum.

Isabella fragt: „Ich muss mich morgen mit Professor Billete über eine heikle Angelegenheit abstimmen. Wie ist er so?“

Lucia grinst breit und behauptet: „Ich habe für seinen Geschmack zu wenig Busen und auch keinen Hintern. Du könntest ihm mit deinen Rundungen dagegen gefallen. Zeig, was du hast, und er frisst dir aus der Hand.“

„Ich bin nicht so eine.“

„Dann erreichst du bei ihm auch nichts. Ich muss. Es wird bei mir spät“, versichert ihr Lucia und ist schon im Strom der Menschen verschwunden.

Lustlos kaut sie ihren Taco und geht weiter in Richtung Wohnung. Das letzte Stück Weg muss sie wieder an Dutzenden Huren vorbei, die sie wieder lautstark als Schlampe beschimpfen.

Ein älterer Herr spricht sie an: „Na Süße, nimmst du mich für 1500 Peso mit auf dein Zimmer?“

„Leck mich“, faucht Isabella den Mann an, schubst ihn grob weg und flüchtet. Der Mann fällt direkt in die Arme einer dicken Hure, die ihm vollmundig verspricht, es schon für 1200 Peso mit ihm zu tun. Der Freier beschimpft die willige Frau nur lautstark und verschwindet im Strom der Menschenmassen. Erleichtert geht Isabella auf ihre Wohnung zu. Erst im Flur atmet sie auf. Die Wohnung ist preiswert, aber die lästigen Freier und die Huren stören sie doch. Zu so später Stunde geht sie nicht gerne nach Hause. Die Nachbarin von gegenüber behauptet, erst letzte Woche wurde hier an der Hauswand eine Frau vor den Augen unzähliger Gaffer brutal vergewaltigt. Die Frau hat sich heftig gewehrt und um Hilfe geschrien. Der Mann hat ihr die Zähne ausgeschlagen. Bewusstlos geschlagen, hat der Mann sie danach liegengelassen. Die Polizei schaut in solchen Fällen gerne weg. So wurde die Frau erst von der Polizei beachtet, als sie zu sich kam und halb nackt den Männern in die Arme lief. Wegen unsittlichen Verhaltens wurde sie dann festgenommen. Eine Vergewaltigung hat es natürlich für die Polizei nie gegeben. Wenn doch, dann sind die Frauen aus Sicht der Polizei und der Justiz doch selbst an allem schuld. Noch einmal wird sie nicht zu so später Stunde alte Akten studieren. Heute hatte sie noch einmal Glück gehabt. Beim nächsten Mal ist sie es vielleicht, die hier vergewaltigt oder verprügelt wird. Sie möchte als Jungfrau ihren Jacob heiraten. Vielleicht macht er ihr bald einen Heiratsantrag und sie kann dann endlich zu Jacobs ziehen?

Noch mit ihrem Taco in der Hand geht sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Wie sie jetzt weiß, ist sie heute alleine in der Wohnung. Ihre Freundin Lucia Cortes ist also schon wieder auf Achse. Was ihre Freundin wirklich alles so Nachts treibt, will sie gar nicht wissen. Die zweifelhafte Karriere als Hure traut sie ihr nicht zu. Lucia könnte eine Taschendiebin sein. Etliches Kleingeld und billigen Schmuck hat sie unter der Matratze ihrer Freundin schon einmal gefunden.

Die Handtasche wirft sie auf den Sessel und geht ins Bad. Sie zieht sich bis auf den Slip aus und wäscht sich. Sie kämmt ihr Haar gründlich durch und wird dabei müde. Noch einmal in die Bücher schauen, will sie heute nicht mehr. Sie ist dafür zu müde. Heute soll es gleich ins Bett gehen. Im Bett schaut sie aus dem Fenster und verfolgt die Lichter der Flugzeuge am Himmel. Durch die vielen Lichter der Stadt kann sie nur wenige Sterne blinken sehen. Ihre Augenlider werden schwer wie Blei.

Sie beginnt langsam zu schweben und verlässt scheinbar ihre Welt. Aus der Vogelperspektive beobachtet sie, wie ein hochgewachsener Mann, nur mit einem Tuch um die Hüfte, durch ein Dorf läuft und vor einer Hütte stehen bleibt. Alle Hütten im Dorf sind auffallend einfach, ganz so, wie Isabella sie aus den Bergen kennt. Wo ist sie hier?

Aus der Hütte kommt eine Frau mit langen blonden Haaren heraus. Der Mann spricht sie an. Die Frau geht zurück in ihre Hütte und kommt mit einem Beutel in der Hand zurück. Die Frau springt auf den Rücken des Mannes und schon eilt das Paar an den Hütten vorbei in Richtung Berge.

Isabella kann dem Paar hoch über den Bäumen folgen. An einem Fluss entlang geht es auf ein Dorf hinter dem Berg zu. Dort werden sie bereits von vielen Menschen erwartet. Die Frau mit den langen blonden Haaren geht in eine Hütte. Das ganze Dorf wartet scheinbar schon Stunden geduldig vor der Hütte. Sie hört die Menge jubeln und die blonde Frau wird stürmisch empfangen, als sie aus der Hütte kommt. Die Frau wird mit kleinen Aufmerksamkeiten beschenkt. Wenig später trägt sie der Mann zurück in ihr Dorf. Dort, vor ihrer Hütte angekommen, redet der Mann auf die Frau ein. Mit den Händen schiebt sie den Mann sichtlich erregt immer wieder von sich. Der Mann lässt vor ihr sein Tuch fallen. Die Frau ist erst entsetzt, dann lacht sie laut und verspottet den Mann. Wütend packt der Mann die Frau an ihren langen blonden Haaren und drängt sie gewaltsam in die Hütte. Unzählige Dorfbewohner hatten sich schon um das Paar versammelt. Alle Gaffer schauen nur zu und niemand hindert den Mann daran, die Frau zu vergewaltigen.

Isabella schreit aufgebracht: „Das darf der Mann doch nicht mit ihr tun! Schickt den Mann fort. Helft doch endlich der Frau!“

Niemand hört sie. Schweigend, mit gesenktem Haupt, gehen die Menschen zurück in ihre Hütten.

Schweißgebadet wacht Isabella auf, schaut sich verwirrt um und fragt: „Wo bin ich? Was war das?“

Sie steht schwankend auf und geht ins Bad. Unter der Dusche soll das kalte Wasser ihr erhitztes Gemüt endlich abkühlen. Was war das eben? Wie ein Vogel ist sie geflogen. Hat sie eben die Zeitreisende gesehen? Das ist Unsinn. Ihre blühende Fantasie ist mit ihr durchgegangen. Wenn man ständig nur uralte Schriften studiert, kann der Verstand schon mal darunter leiden. Sie trocknet sich ab und geht zurück ins Bett. Lange kann sie nicht einschlafen. Wird sie verrückt?

Professor Billete

Nervös führt Isabella den Professor die Treppe zum Lager herunter. Der Mann ist wirklich eine harte Nuss, da muss sie Jacob zustimmen. Am Ende des Gespräches oben in seinem Büro hat sie ihm schließlich nur gesagt, dass sie etwas Brisantes entdeckt hätten und nicht richtig einordnen könnten. Sein brillantes Fachwissen sei hier dringend gefragt. Den geheimen Text der Zeitreisenden schon vorweg zu verraten, wagte sie in seinem Büro nicht. Er könnte sie auslachen und einfach nur fortschicken. Wird er sie verspotten, wenn sie ihm die Botschaft zeigen? Sie weiß, dass sich in wenigen Minuten alles entscheiden wird. Das Schicksal der unbekannten Frau hängt an einem seidenen Faden. Vor allem der irre Traum der letzten Nacht setzt ihr immer noch heftig zu. Alles war so erschreckend real. Das Bergdorf, die Menschen, der nackte Mann und die blonde Frau waren zum Greifen nah. Noch immer mit dem Traum beschäftigt, fällt es ihr schwer, sich auf den Professor zu konzentrieren. Isabella hat ihren ganzen Charme und ihre weibliche Anziehungskraft an Professor Billete verpulvert, um sein Interesse überhaupt erst zu wecken. Das verwirrte sie sehr. Sie hatte dabei ständig das seltsame Gefühl, dass er gegensteuert. Warum? Weiß er mehr, als er offen zugibt? Unten an der Tür erwartet sie wie verabredet Jacob, der stotternd grüßt: „Ich, ich, ich grüße sie, Herr Professor. Wir beide hoffen, mit Ihrer Hilfe endlich eine Entscheidung in unserem besonderen Fall zu treffen.“

Jacob hat erneut die feinen Linien in allen Steinplatten mit Mehl gefüllt und sauber abgewischt. Schon von weitem sind sie als Leuchtschrift zu sehen.

Professor Billete bleibt schon einige Schritte vor den Steinplatten stehen und schimpft: „Ihr Dummköpfe habt den Mist also auch schon gelesen! Wir können sofort umkehren.“

„Sie kennen die Inschriften? Sie wissen davon?“, fragt Isabella völlig entsetzt und ihr wird schwindlig. Es ist aus und vorbei!

Professor Billete lacht schallend auf und versichert: „Bringas hat die Texte schon an Ort und Stelle der Pyramide entdeckt und auch sofort übersetzt. Er und im Übrigen ich auch, halten sie für eine bewusste Täuschung der Entdecker. Auch wenn uns der Sinn der Blödelei noch nicht wirklich klar ist. Wenn ihr auf den zeitlich genau genannten Flugzeugabsturz verweist, muss ich euch leider bitter enttäuschen. Die Amerikaner haben so einen Absturz immer wieder dementiert. Allerdings, der Absturz einer Militärmaschine taucht selten als Meldung in den gängigen Medien auf. Nur eben dann, wenn es nicht mehr zu vertuschen ist, wird er schließlich doch öffentlich bekannt gegeben. In diesem speziellen Fall haben ein paar Wölfe in den unendlichen Wäldern Alaskas den Absturz sicher gesehen und so wird niemand etwas davon erfahren. Wenn das Flugzeug gar Atombomben an Bord hatte, wird erst recht alles dafür getan, den Absturz zu verheimlichen. Also könnt ihr beide die Fantasiegeschichte getrost auch vergessen!“

Isabella überwindet ihren ersten Schock und widerspricht wütend: „Ist es nicht verrückt, dass tausend Jahre vorher ein Flugzeugabsturz vorhergesagt wird? Es ist egal, ob die Amerikaner das zugeben. Fakt ist, dass die Rillen lange vor dem Absturz der Maschine in den Stein gehauen wurden. Vor tausend Jahren waren Flüge jeglicher Art noch völlig undenkbar. Das gilt nicht nur für die Hochkulturen in Europa und Asien. Zweifelsfrei gilt das auch für die antiken Maya und die Tolteken-Kultur. Die Ureinwohner Amerikas kannten nicht einmal das Rad oder den Bogen für Deckengewölbe. Sie wollen die fein gearbeiteten Rillen im Stein doch nicht im Ernst für eine Täuschung unserer Tage abtun? Eine Täuschung, ein Betrug vor der eigentlichen Ausgrabung? Nehmen Sie das wirklich ernsthaft an?“

„Wie wollen Sie es sonst wissenschaftlich erklären?“, spottet Professor Billete. Er schaut die Studenten fragend an, verschränkt seine Arme und verlangt: „Her mit der Begründung!“

Jacob ist völlig am Boden zerstört. Er sieht sich und seine Theorie gescheitert.

Isabella erinnert sich an ihren irren Traum und ist empört. Für sie ist ihr Erlebnis, ihr Traum, jetzt endgültig Realität geworden. Sie behauptet: „Eine wirkliche Erklärung haben wir für die Linien nicht. Aber ist das nicht der Weg des geringsten Widerstandes? Okay, bequem ist es in jedem Fall. Die bequemste Erklärung muss also für Sie auch die richtige Lösung für alle offenen Fragen sein? Sind Wissenschaftler nicht verpflichtet, alles zu hinterfragen? Ist es nicht die Aufgabe der Wissenschaft, zu fragen und nach den wahren Antworten zu suchen?“

„Natürlich sind wir Wissenschaftler verpflichtet, auf offene Fragen Antworten zu finden. Die Geschichte, die Vergangenheit der Menschheit, gehört natürlich auch dazu. Die Geschichte ist immer noch voller Geheimnisse und ungelöster Rätsel. Diese Frau oder besser dieses verwirrende Phantom gehört zu diesen ungeklärten Dingen. Die breite Öffentlichkeit darf nie von einer möglichen Existenz dieser Frau erfahren. Ich gebe Ihnen auf meine Art eine Erklärung unserer Entscheidung, warum wir die Botschaften bewusst ignorieren. Folgen Sie mir bitte!“, erwidert Professor Billete und geht hinaus.

Isabella und Jacob folgen ihm die langen Flure entlang. Vor einer unscheinbaren Tür bleibt er stehen. Isabella und Jacob sind an der Tür sicher schon hundertmal vorbeigegangen. Professor Billete dreht sich zu ihnen um und verkündet: „Sie dürfen heute mit mir einen Blick auf verbotene Archäologie werfen. Dann reden wir über alles. Am Ende finden wir vielleicht eine gemeinsame Lösung!“

Das Schloss rattert laut und die Tür geht knarrend auf. Der Raum dahinter ist pechschwarz. Professor Billete dreht hörbar knackend einen Schalter. Erst flackern nur einige Leuchtstofflampen auf, dann ist der große Raum hell wie der Tag. Hölzerne Regale bis hoch an die Decke füllen den relativ niedrigen Raum ganz aus. So einen großen Raum hatten sie nicht hinter der unscheinbaren Tür vermutet. Isabella und Jacob sind völlig überfordert mit dem, was sie jetzt schon sehen. Völlig unbekannte Artefakte stehen dicht gedrängt in den Regalen.

Professor Billete geht vor und erklärt: „Hier lagern Hunderte Artefakte, die nicht in das gängige Denkmodell über den Verlauf der Weltgeschichte passen. Bis ins Ende des neunzehnten Jahrhundert war die Welt der Archäologie noch relativ in Ordnung. Damals war alles noch so einfach erklärbar. Heute steht die wissenschaftliche Welt der Archäologie kopf. Zu viele Artefakte wurden in den letzten Jahren entdeckt, die alle gültigen Theorien in Frage stellen. Dort links im Regal steht vielleicht eure unbekannte Frau mit ihrem langen goldenen Haar. Der Fund, vermutlich aus einem Grab, passt perfekt in das von ihr beschriebene achte oder neunte Jahrhundert unsere Zeitrechnung!“

Sie sehen drei filigrane Figuren aus Stein und Gold. Die Frau in der Mitte hält schützend ihre Hände auf die Bäuche der hochschwangeren Frauen rechts und links von ihr. Die Frau in der Mitte ist auffallend groß. Ihr Haar ist golden und nicht schwarz, wie das Haar der schwangeren Frauen an ihrer Seite.“

Isabella ruft begeistert: „Das ist sie doch. Sie hat sich also als Hebamme einen guten Ruf verschafft. Was hält uns jetzt noch zurück, der Frau endlich zu helfen?“

„Diese utopische Frau, dieses Phantom, wird hier noch öfter dargestellt. Ihre Gesichtszüge sind typisch für eine Europäerin. Wie kommt eine Europäerin noch vor den Wikingern und Kolumbus nach Amerika? Wir finden sie noch einige Male als heilende Frau dargestellt. Sie muss, das ist schon irre genug, tatsächlich gelebt haben. Allerdings wird bisher aus wissenschaftlicher Sicht davon ausgegangen, dass eine Frau mit genetischen Anomalien dafür herhalten soll. Also keine Europäerin. Diese wissenschaftliche Variante zweifelt auch aus der alten Garde niemand mehr an!“, berichtet Professor Billete und führt die jungen Leute zu einer anderen Arbeit aus Stein. Es ist eine Steinplatte, kaum größer als ein Aktenkoffer. „Wie Sie unschwer erkennen können, wird eine Frau von einem Mann begattet. Dass die Darstellung sexueller Handlungen aus dieser Zeit ohnehin zu den seltenen Fundstücken gehört, macht die offene Art der Darstellung noch ungewöhnlicher. Die Geschlechtsteile von Mann und Frau sind deutlich erkennbar und etwas überhöht. Was dabei den Experten noch mehr verwirrt, ist die viel größere Frau und wieder die deutlichen Gesichtszüge einer Europäerin. Von einem Kunstfehler oder Zufall kann hier keine Rede mehr sein. Auch diese Frau trägt definitiv Reste goldenen Haares. Wieder eine blonde Frau in Amerika? Der kleine Mann ist nackt und ist ein hoher Priester, wie der typische Kopfschmuck verrät. Nur sein Penis ist unnatürlich groß und soll sicher das Missverhältnis des ungleichen Paares etwas entkräften. Die ganze Inszenierung wirkt auf mich nicht wie ein Liebesakt. Es ist eher eine kultische Handlung, die vielleicht einen Fruchtbarkeitskult zelebriert. Das hat gar nichts mit Liebe oder profanem Sex zu tun. Oder sehen die jungen Leute das anders?“

Dass deutlich zu sehen ist, wie sich der gewaltige Penis bei der Frau hineinschiebt, schockiert Isabella doch und sie fragt: „Ist das auch aus der Zeit der Tolteken oder gar aus der Zeit davor? Es sieht eher wie eine Werbung für ein Bordell aus. Gab es Bordelle bei den Mayas oder den Tolteken?“

„Das war definitiv nicht für ein Bordell bestimmt. Über die Rechte der Frauen aus dieser Zeit ist sehr wenig bekannt. Die Priester konnten sich sicher ungestraft bei den Frauen bedienen. Es stammt nicht nur aus toltekischer Zeit, auch der Ort stimmt genau“, versichert ihr Professor Billete.

Jacob fragt fassungslos: „Alles aus Ixtlan?“

„Alles, was der Frau zugeordnet werden kann, kommt definitiv aus Ixtlan. So glauben wir es jedenfalls. Leider sind viele der Fundstücke nicht wirklich wissenschaftlich am Fundort untersucht worden. Es sind alles Funde von Grabräubern. Leider“, klagt Professor Billete mit tiefem Bedauern.

„Also sind diese Artefakte hier alles Aufkäufe von den verdammten Grabräubern. Inklusive die Steinplatten, die uns aufgefallen sind. Sie lagen nur dort, weil sie zu groß für das geheime Lager sind. Nix da mit glorreichen Funden des Bringas oder anderer anerkannter Archäologen!“, behauptet Isabella.

„So kritisch würde ich es nicht sehen, aber leugnen können wir es auch nicht. Es war eine wilde Zeit damals. Dass der Fundort selbst von größter Bedeutung ist, wurde damals so noch nicht gesehen“, stimmt ihr Professor Billete zu.

Sie gehen langsam an den Regalen, vollgepackt mit Figuren und skurrilen Gegenständen, vorbei und können es kaum fassen, was sie sehen. Neben Skulpturen sind auffallend große und kleine Flugzeugmodelle sowie Raketen in den Regalen sortiert gelagert, nur nach Stein- oder Goldarbeiten getrennt. So etwas haben sie nicht erwartet. Es ist ein Museum ganz nach Art des Herrn Erich von Däniken. Der Mann würde vor Begeisterung glatt tot umfallen.

Jacob schüttelt den Kopf und fragt ungläubig: „Was soll das hier alles? Ich verstehe die Welt nicht mehr.“

„Ich verstehe jetzt endlich alles!“, widerspricht Isabella begeistert.

Jacob fragt sie fassungslos: „Ach wirklich?“

Professor Billete, auch von Isabellas Zuversicht überrascht, fragt: „Was verstehen Sie?“

Isabella holt tief Luft und verkündet ihre Theorie: „Wenn die Botschaft der Frau und der ganze Kram hier öffentlich bekannt gemacht wird, stürzt das bisher festgefügte Weltbild der Menschheit in sich zusammen. Das erschüttert dann nicht nur das wissenschaftliche Weltbild der Eliten. Es kommt noch viel schlimmer. Alle Religionen werden bis tief in ihre Ursprünge angezweifelt. Gar die Existenz Gottes wird in Frage gestellt. Die unfassbaren Wunder der Vergangenheit sind dann nur noch das Werk der Außerirdischen oder der Zeitreisenden, die sich überall eingemischt haben. Eingemischt haben, wie diese Frau es bei den Tolteken vor tausend Jahren getan hat. Dann könnten Buddha, Jesus und Mohamed Außerirdische gewesen sein. Eine Tatsache, die natürlich kein gläubiger Mensch und schon gar keine Kirche akzeptiert. Ist bei aller Frömmigkeit und allem Glauben dann wirklich noch Platz für so einen außerirdischen Gott? Sind wir und unsere Welt dann nicht alle ein Produkt Außerirdischer? Wurden und werden wir, ich meine die Menschheit, in Wahrheit die ganze Zeit von außen gesteuert? Die Frau war aus meiner Sicht definitiv eine Zeitreisende, das müssen wir akzeptieren. Anders lässt sich ihre abenteuerliche Geschichte nicht erklären. Sie wurde aber auch von außen gesteuert. Wer über viele Jahrhunderte in der Erinnerung der Menschen geblieben ist, muss schon Großes geleistet haben. Die Tolteken, die Mayas und später die Inkas waren Kulturen, die von Männern erdacht, geformt und beherrscht wurden. Für Frauen war dort kein Platz. Wenn ausgerechnet eine Frau in ihrer Welt einen herausragenden Platz gefunden hat, muss sie etwas Besonderes erreicht haben. Es muss so großartig gewesen sein, dass sie auch von den Herrschern und Priestern nicht mehr ignoriert werden konnte. Sie hatte Macht und Einfluss in der Gesellschaft, davon kann man ausgehen. Sie denken jetzt beide an die Tafel. Auch dafür gibt es eine Erklärung. Dass sie öffentlich Sex mit einem Priester hatte, muss ihre Macht nicht geschmälert haben. Ganz im Gegenteil. Es war eine besondere Auszeichnung für den Priester, es mit ihr tun zu dürfen. Das der Nachwelt zu zeigen, war es wert, in Stein zu hauen!“

„Durchaus eine interessante These. So weit haben wir den Faden der Geschichte noch nicht gesponnen. Dazu zeige ich Ihnen ein besonderes Exponat.“

Isabella und Jacob haben Mühe, dem Professor zu folgen. Ganz am Ende bleiben sie vor einem Artefakt stehen, das auf den ersten Blick an das Modell eines skurrilen Hauses erinnert.

Professor Billete zeigt auf das Artefakt und erklärt: „Ungewöhnlich ist, dass das Haus über vier Etagen hoch ist und mit recht skurrilen Anbauten versehen wurde. Wenn man es mit etwas Abstand betrachtet, erinnert es uns aber mehr an ein Raumschiff. Eher noch an ein fantastisches Raumschiff, das nur in utopischen Romanen zu finden ist. Aus den Symbolen und Zeichen haben wir herausgelesen, dass es das geheime Haus des goldenen Itzamná darstellt. Entschuldigt, es ist natürlich nicht das geheime Haus. Es verrät uns leider nur, dass es dieses Haus tatsächlich irgendwo oben im Norden geben soll. Darin wohnt der goldene Itzamná, der über die Welt bis hinein in unsere Zeit herrschen soll. Als höchstem Gott der Maya steht es ihm auch zu. Interessant für Sie ist sicher, dass von einer Vereinigung mit einer goldenen Frau in diesem Haus berichtet wird. Das passt tatsächlich in die Zeit gegen Ende der Tolteken-Kultur. Wenn dieses Haus gefunden wird, finden wir nicht nur den goldenen Itzamná, sondern sicher auch Spuren der goldene Frau, die Ihnen beiden den Kopf verdreht hat.“

Professor Billete zeigt im gegenüberstehenden Regal auf eine kleine Skulptur, die vor einer tellergroßen Scheibe hockt und erklärt: „Hier wird ein Mensch zu den Sternen geschickt. Die goldenen Sterne im Hintergrund deuten das an. Auf den ersten Blick als Fantasieprodukt aus toltekischer Zeit nichts Besonderes. Warum sollen sie nicht von einer Reise zu den Sternen träumen? Was uns verwirrt, ist etwas anderes an der kleinen Statue. In der Kunst der Maya und Tolteken haben Frauen nur selten einen Platz. Doch ausgerechnet der Sternenflieger hat unübersehbar Brüste. Außerdem schützt die Person etwas um sich herum. Ein dicker goldener Kreis deutet das an. Unter der Person wurde ein gewaltiges Feuer entfacht. Es handelt sich aber nicht um eine Verbrennung, denn die Flammen zeigen weit nach unten. Hier wird jemand mittels Triebwerk zum Himmel geschickt. Im Haar der Frau sind wieder Goldspuren gefunden worden. Es könnte die Himmelfahrt unserer goldenen Frau wiedergeben. Wieder fehlen der Frau die typischen Gesichtszüge der Ureinwohner. Schon wieder eine Europäerin? Allerdings setzt diese Darstellung natürlich voraus, dass wir tatsächlich aktiv geworden sind und die Frau zu den Sternen reisen kann. Einer dieser Götter muss von ihrem Schicksal erfahren haben und könnte sie dann mit der Rakete gerettet haben. Erst danach kann die Skulptur entstanden sein. Ihre dringende Botschaft wurde also erhört. Wir können uns zurücklehnen und abwarten. Verschwindet die Skulptur, wurde sie nicht gerettet. So sehe ich es!“

Schweigend betrachten sie die Artefakte.

Jacob denkt laut: „Wir können doch der Frau und uns selbst helfen. Finden wir das geheime Haus des goldenen Itzamná, finden wir auch die goldene Frau. Sie soll ja mit ihm vereint sein. Allein die goldene Statue des Itzamná zu finden, wäre eine Sensation. Die goldene Frau können wir dann auch gleich publik machen, ohne dass die Welt empört aufschreit!“

Professor Billete lacht laut, kann sich kaum beruhigen und belehrt ihn: „Das geheime Haus des goldenen Itzamná wird schon seit Jahrhunderten gesucht. Von ihm wird es auch nicht weit zu dem gelobten Eldorado sein. Die erste Expedition ist vom ersten Vizekönig Neuspaniens Herman Cortes schon 1537 finanziert worden. Es ist aus unvollständig erhaltenen Dokumenten belegt, dass er über dreißig schwer bewaffnete Desperados mit sechzig Pferden und Eseln ausschickte, um das geheime Haus zu finden. Er schickte die Männer wahrscheinlich alle in den Tod. Nach Cortes hat der skrupellose und korrupte Präsident Diaz 1907 auch nach dem geheimen Haus suchen lassen. Der letzte Präsident, der sich mit Geld, das ihm gar nicht gehörte, an einer Expedition beteiligte, war Lazaro Cardenas 1938. Allerdings könnten schon die Desperados des Cortes 1537 die goldene Statue des Itzamná gefunden haben. Wer schweigen kann, muss nicht mit dem Vizekönig teilen. Der goldene Itzamná wäre dann schon damals in handliche Goldbarren eingeschmolzen worden. Niemand weiß heute, was damals wirklich geschehen ist. Insgeheim will jeder Archäologe das geheime Haus des goldenen Itzamná finden. Wer möchte nicht mit seinem Fund so berühmt wie Howard Carter mit dem Grab des Tutanchamun werden? Wer das geheime Haus mit seinem Bewohner findet, findet nicht nur unglaubliche Goldschätze. Unsterbliche Macht soll Itzamná jedem geben, der ihn findet. Darum haben sich so oft die Mächtigen unseres Landes an der Suche nach dem goldenen Itzamná beteiligt. Nun soll es zwei Küken gelingen, was Präsidenten und Königen nicht gelang. Mein Glückwunsch!“

Wieder schweigen sich alle drei an.

Zaghaft wagt Isabella, das unangenehme Schweigen zu brechen: „Untätigkeit ist aber auch keine Lösung. Wir sollten alles zusammentragen, was wir über diese Expeditionen erfahren können. Völlig planlos und ohne Ziel ist keine aufgebrochen. Es wird uns sicher helfen, den Ort des geheimen Hauses leichter zu finden. Es ist gar nicht nötig, mit einem großen Tross aufzubrechen. Werden viele helfende Hände gebraucht, finden wir Unterstützung vor Ort. Allerdings, ganz ohne Geld geht es natürlich auch nicht. Ein Sponsor wäre schon nicht schlecht!“

„Das ist schon mal ein guter Ansatz. Wenn Sie ein umfangreiches Wissen über das geheime Haus vorweisen können, wird sich auch leichter ein Sponsor finden“, stimmt Professor Billete ihrem Vorschlag zu.

Isabella fragt überrascht: „Höre ich heraus, dass Sie uns bei der Suche unterstützen wollen?“

Professor Billete nickt.

Jacob bittet: „Die Archive draußen reichen nicht. Wir müssen auch hier nach Botschaften suchen dürfen!“

Professor Billete nickt und verspricht: „Zu gegebener Zeit sollen Sie auch hierzu Zugang haben. Die wenigsten Artefakte wurden bisher wissenschaftlich untersucht. Es ist tatsächlich möglich, dass hier der Schlüssel zum geheimen Haus zu finden ist. Das muss aber sehr vorsichtig geschehen. Wenn es herauskommt, dass Sie hier herumschnüffeln, sind wir alle dran.“

„Ich arbeite doch schon seit Monaten hier unten. Hinter welcher Tür ich für ein paar Stunden verschwinde, ist denen da oben sicher egal“, behauptet Jacob.

„Wir können nicht vorsichtig genug sein“, warnt Professor Billete, geht zum nächsten Regal und zeigt auf eine zerbrochene kreisrunde Steinplatte. Die Mitte der Scheibe fehlt ganz. Er erklärt: „Ich vermute, das war einmal eine Art Karte. Nein, nicht so, wie wir uns Karten vorstellen. Wenn die Mitte das war, was ich vermute, dann ist es die Karte zu Itzamná. Der religiöse Weg zu Itzamná, versteht ihr?“

„Was nützt uns das? Das ist doch wie die Suche nach dem Paradies“, klagt Jacob und wendet sich von der Scheibe ab.

Professor Billete warnt: „Nicht so voreilig, junger Mann, die Scheibe als nutzlos zu erachten. Diese Scheibe soll es überall in den Tempeln des Itzamná gegeben haben. Vielleicht können wir aus anderen Fragmenten die Scheibe am Ende doch vollständig rekonstruieren. Die vollständig hergestellte Scheibe kann dann der Schlüssel zum geheimen Haus sein. Ich glaube daran. Allerdings sind uns die Schrift der Maya und der Tolteken immer noch in großen Teilen recht fremd!“

„Sie haben leider recht, Herr Professor, auch die vollständig rekonstruierte Scheibe wird uns nicht zum goldenen Itzamná und seinem Haus führen. Die Symbole müssen von uns richtig gedeutet werden. Das wird viel schwerer werden, als den Text der Scheibe zusammenzusetzen!“, behauptet Isabella.

Jacob: „Wir müssen nicht alles verstehen. Es genügt schon, wenn sich mit der Scheibe der Ort bestimmen lässt. Vor allem kommen wir nicht weiter, wenn wir uns nur auf vorhandene Funde stützen. Wir müssen an die Orte reisen und dort nach dem Geheimen Haus des Itzamná forschen. Eine Expedition muss vorbereitet und finanziert werden. Sind Sie mit im Boot, Herr Professor?“

„Das geheime Haus finden, würde die Krönung meiner Arbeit bedeuten. Ich finde für uns sicher genug Sponsoren, die eine Expedition unterstützen werden. Das setzt voraus, dass alles gut vorbereitet und recherchiert wird. Viel Arbeit wartet auf uns!“, stimmt Professor Billete zu. Der Erfolg würde ihm endlich das bringen, was er sich die ganzen Jahre erhoffte: Ruhm!

Die jungen Leute sind erleichtert und Isabella ruft begeistert: „Dann packen wir es an!“

Gemeinsam verlassen sie das geheime Artefakte-Lager. Ganz benommen vom eben Gesehenen, sitzen Isabella und Jakob noch bis in die Nacht zusammen. Das geheime Lager kann vielleicht der Schlüssel zur Zeitreisenden sein? Viel Arbeit wartet auf sie, aber sie sind voller Zuversicht. Isabella verzichtet endgültig darauf, mit ihrem Jacob über den verwirrenden Traum zu sprechen. Es könnte ihre Beziehung nur unnötig belasten. Wichtiger wäre für sie, dass er ihr endlich einen Heiratsantrag macht. Lange will sie nicht mehr auf seinen Antrag warten. Dann wird sie die Frage stellen, wie es mit ihnen weitergehen soll. Jacob steht schweigend am Fenster und schaut nachdenklich zu den Sternen auf.

Nördliches Mittelamerika, das frühe 9.Jahrhundert unserer Zeitrechnung, nahe der toltekischen Stadt Ixtlan