Impressum

Claus Göbel

Ein Leben in drei Deutschlands

Deutsch-deutsche Geschichte in persönlichen Erlebnissen und Geschichten

 

ISBN 978–3–95655–841–2 (E-Book)

ISBN 978–3–95655–840–5 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2017 EDITION digital
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Godern
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Vorwort

Noch ein Buch über die DDR und die Wende? Was soll das? – Die jüngere deutsche Geschichte ist doch von Historikern bereits hinreichend beschrieben worden, außerdem liegen mehrere Autobiografien von Autoren aus dieser Zeit vor.

Warum also noch dieses Buch?

Als Zeitzeuge der Gesellschaftssysteme Nationalsozialismus, Sozialismus und Kapitalismus in Deutschland will ich Geschichten erzählen, lustige und weniger lustige Geschichten über ganz persönliche Erlebnisse und Erfahrungen während der Nazi-Zeit, der Nachkriegs- und DDR-Zeit, der friedlichen Revolution 1989 und des vereinigten Deutschlands – gewissermaßen deutsch-deutsche Geschichte in Geschichten. Nahezu alle Geschichten weisen einen politischen Hintergrund auf und beleuchten damit die jeweilige Situation in Deutschland.

Obwohl dieses Buch keine Autobiografie sein will – für so bedeutend halte ich mich nicht – kann über selbst erlebte Geschichte ohne mehr oder weniger starke autobiografische Bezüge nicht berichtet werden.

Meine jungen Leser möchte ich auf eine Reise durch drei verschiedene Gesellschaftsordnungen in Deutschland mitnehmen, die sie selbst nicht alle erlebt haben und vorwiegend aus dem Geschichtsunterricht ihrer Schule kennen. Ihnen möchte ich die vergangenen 80 Jahre aus einem ganz persönlichen Blickwinkel näherbringen, um damit ein tieferes Verständnis für die gesellschaftlichen Zusammenhänge in den drei Deutschlands zu erreichen.

Meine älteren Leser hingegen, welche die vergangenen Zeiten mehr oder weniger selbst erlebt haben, können sich mit meinen Geschichten kritisch auseinandersetzen. Sie werden sich entweder bestätigt fühlen oder ganz anderer Meinung sein. Wie auch immer: Wenn ich meine älteren Zeitgenossen zum Nachdenken über ihr Leben in diesen 80 Jahren anregen konnte, wäre auch dieses Ziel erreicht.

Mein Vorhaben, über persönliche Erlebnisse und Erfahrungen in der jüngeren deutschen Geschichte zu berichten, bewegt sich in einem gewissen Spannungsfeld von Vor- und Nachteilen. Von Vorteil ist sicher, dass zurückliegende Erlebnisse und Ereignisse später differenzierter und sachlicher beurteilt werden als zur Ist-Zeit, getreu dem berühmten Wort des Philosophen Kierkegaard: „Vorwärts leben wir, und erst rückwärts verstehen wir!“

Als nachteilig erweisen sich hingegen die Grenzen der Erinnerung. Erinnerungen, die viele Jahre zurückliegen, werden oft verklärt und geschönt dargestellt, weshalb man sich ständig fragen muss: War das damals wirklich so? Siehst du das nicht zu positiv? Kann man Erlebnisse, die bis zu 80 Jahre zurückliegen, heute überhaupt noch ohne Realitätsverlust beschreiben? – Zum Glück ist das Langzeitgedächtnis verlässlicher als das Kurzzeitgedächtnis, weshalb ich hoffe, nahe bei der Wahrheit zu sein. Unterstützend stand mir meine Frau zur Seite, die mich seit 50 Jahren durchs Leben begleitet, und noch Vieles wusste, was ich vergessen hatte. Gleichwohl war ich mir der Grenzen der Erinnerung beim Schreiben immer bewusst.

In unserer heutigen Zeit, in der die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, ist Humor besonders wichtig. Humor und heitere Gelassenheit kann zwar das Weltgeschehen nicht beeinflussen, aber durch befreiendes Lachen die Menschen glücklicher, klüger und gesünder machen. Humor ist nach wie vor die beste Medizin für die menschliche Seele. Deshalb, aber auch, weil die DDR-Zeit durchaus nicht so humorlos war, wie mancherorts behauptet wird, sind einige humoristische Beiträge als wertvolle Zeugen jener Zeit bewusst in dieses Buch aufgenommen worden.

Staatsrechtlich gesehen ist der Titel dieses Buches nicht ganz korrekt. Ich habe streng genommen nicht nur drei, sondern 5 Deutschlands durchlebt. Von 1938 bis 1945 das Deutsche Reich (DR), von 1945 bis 1949 die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und über 40 Jahre von 1949 bis 1989 die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Im Jahre 1990 bestand zwar die DDR staatsrechtlich noch, sie war aber schon stark durch das sich vereinigende Deutschland geprägt (BR(D)DR). Und seit 1990 bin ich Bürger der Bundesrepublik Deutschland (BRD).

 

Dresden, im Juli 2017

Claus Göbel

Mein erstes Deutschland: Das Deutsche Reich (DR)

Die Gnade der späten Geburt

Im Jahr 1938 im Dorf Groß-Cotta südlich von Pirna geboren, bin ich ein Kind des Zweiten Weltkrieges, dem grauenvollsten Krieg, den unser Erdball je gesehen hat. Zu meinem großen Glück war ich zu jung, um direkt in diesen Krieg hineingezogen zu werden. Einige Jahre älter, wäre ich sicher in den Fängen der Hitler-Jugend gelandet, und wäre ich noch älter, hätte ich vielleicht an der Ostfront kämpfen müssen. Ob ich dann diesen Krieg überlebt hätte, steht in den Sternen. Genauso wenig weiß ich, ob ich eventuell nicht doch dem Gift des Nationalsozialismus erlegen gewesen und mit den Nazis mitmarschiert wäre. Insofern bin ich außerordentlich dankbar für die Gnade der späten Geburt. Dieses Wort, das mir von Ex–Bundeskanzler Helmut Kohl bekannt ist, drückt die Zufälligkeit aus, mit der wir ohne eigenes Zutun ins Leben geworfen werden.

Ich setze diese Zeilen bewusst an den Anfang dieses Buches, weil ich in meinem Leben viele großartige Menschen kennengelernt habe, denen diese Gnade nicht vergönnt war. Auch sie wollten als junge Menschen lernen und studieren, eine Familie gründen und friedlich leben. Sie waren aber zu früh geboren und mussten in diesen verfluchten Krieg ziehen, weil eine Kriegsdienst-Verweigerung lebensgefährlich war. Insofern habe ich auch größte Hochachtung vor den Menschen, die sich als Widerstandskämpfer tapfer gegen den Faschismus gestellt und dabei oft ihr Leben riskiert haben.

Das Dorf Cotta

Das Dorf Cotta, wo ich meine Kindheit und Schulzeit verbrachte, ist kein gewöhnliches Dorf. Cotta ist ein berühmtes sächsisches Dorf. Unterhalb des 391 m hohen Basalt-Bergs „Cottaer Spitzberg“ gelegen, wurde dieser Ort vor allem durch seine Sandsteinbrüche im Lohmgrund bekannt. In diesen Steinbrüchen wird seit Jahrzehnten der feinkörnige, hellgelbe, relativ weiche und deshalb als Bildhauer-Sandstein besonders geeignete Cottaer Sandstein gebrochen. Viele Skulpturen und Verzierungen an den historischen Bauwerken Dresdens und anderer europäischer Städte sind ohne den Cottaer Sandstein nicht denkbar. Ob beim Bau des barocken Palais im Großen Garten, des Zwingers oder der Frauenkirche, überall in Dresden ist Sandstein aus Cotta als Bildhauer-Sandstein verwendet worden.

Vor einigen Jahren nahm ich an einer Führung durch die Sehenswürdigkeiten Potsdams teil, als am Neuen Palais eine Kunsthistorikerin beiläufig darauf hinwies, dass alle Skulpturen am Neuen Palais in Potsdam aus Cottaer Sandstein gefertigt worden sind. Vor Stolz schwoll mir regelrecht die Brust. Und nachdem ich mich ihr gegenüber als geborener Cottaer zu erkennen gegeben hatte, ergänzte sie: „Ich war erst vor wenigen Wochen in Ihrem Sandsteinbruch, um mich direkt vor Ort über die Technologie des Sandstein–Abbaus zu informieren. Es war hochinteressant!“– Hallo, dachte ich, was für eine angenehme Überraschung!

Unser Dorf weist noch eine weitere Berühmtheit auf, den Cottaer Tunnel. Um diesen 252 Meter langen Eisenbahntunnel, der von 1894 bis 1957 die Sandsteinbrüche im Lohmgrund mit der ehemaligen Eisenbahnstrecke Pirna – Groß-Cotta verband, gab es kurz vor Kriegsende ein großes Geheimnis. Wir Dorfbewohner ahnten, dass dort etwas sehr Wertvolles versteckt wird, wussten aber nichts Genaues. Erst nach Kriegsende wurde das Geheimnis gelüftet.

Doch das ist eine besondere Geschichte!

„Wenn die Madonna reden könnte“

Die Schriftstellerin Ruth Seydewitz veröffentlichte im Jahre 1962 im Urania-Verlag Leipzig/Jena/Berlin ein Buch mit obigem Titel, in dem die dramatischen Ereignisse um die Rettung der wertvollsten Gemälde der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister aus dem Cottaer Tunnel eindrucksvoll beschrieben sind. Auf Drängen Dresdner Kunstsachverständiger wurden bereits im Sommer 1944 die ersten Gemälde aus Dresden in den Cottaer Tunnel und auf die Albrechtsburg in Meißen ausgelagert. Als kurz vor Kriegsende die Albrechtsburg von den Nazis zur Festung erklärt wurde, brachte man die dortigen Gemälde in einer Nacht- und Nebel-Aktion in den Cottaer Tunnel und in einen alten Kalksteinbruch bei Pockau-Lengenfeld im Erzgebirge, um sie vor den Wirren des zu Ende gehenden Zweiten Weltkrieges zu schützen.

Unter den wertvollen Bildern, die in den Tunnel gebracht wurden, befand sich auch die weltberühmte Sixtinische Madonna von Raffael. Die Madonna, zu jeder Zeit der Superstar der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister, ist mit vielen Superlativen bedacht worden. Zweifellos zu den schönsten und berühmtesten Gemälden der Welt gehörend, ist die Madonna auch schon als das „meistgefeierte und erhabenste Kunstwerk der gesamten Menschheit“ (Ruth Seydewitz, 1962) bezeichnet worden. Und dieses einzigartige Gemälde überlebte das Kriegsende in einem feuchten, unwirtlichen und unzureichend geschützten Eisenbahntunnel unterhalb von Cotta!

Was würde uns die Madonna wohl heute über die damaligen dramatischen Ereignisse berichten?

„Ich wurde Ende April 1945, also wenige Tage vor Kriegsende, auf einem Lastkraftwagen von der Albrechtsburg in Meißen in einen kalten und feuchten Tunnel gebracht. Man hatte mich relativ sicher in eine Holzkiste eingepackt und mich dann in der Kiste in einem Eisenbahnwaggon im Tunnel abgestellt. Damit ich nicht zu nass werde und frieren muss, wurde ich gewärmt und trockengehalten. Einige Tage später aber wurde es sehr kalt und feucht um mich. Ich wurde krank. Und nur weil kurze Zeit später meine Retter kamen, die mich aus der Holzkiste befreiten, trockneten und wärmten, wurde ich wieder gesund. Ich ging dann auf eine lange Reise in eine große Stadt, wo ich liebevoll gepflegt und vollständig geheilt wurde. Danach brachte man mich glücklicherweise an den Ort zurück, an dem ich seit 1754 zu Hause bin und wo ich mich am wohlsten fühle – nach Dresden!“ – So etwa könnte die Sixtinische Madonna heute zu uns sprechen!

Die anderen wertvollen Gemälde sind in einer 32 Meter langen Holzbaracke untergebracht worden, die im Tunnel neben dem Eisenbahnwaggon stand. Als die Rote Armee immer näher kam, „sprengten SS-Truppen die Überlandzentrale in Pirna, so dass der Strom aussetzte und die Wärme- und Entlüftungsanlage im Tunnel nicht mehr funktionierte. Tropfen um Tropfen der durch das Gestein sickernden Feuchtigkeit fiel auf das Dach des Waggons und auf die Dachpappe der Holzbaracke. Es dauerte nicht lange, da drang die Nässe auch durch die Baracke und hinterließ ihre Spuren auf den Gemälden“ (Ruth Seydewitz).

Die zur Bewachung des Tunnels eingesetzten deutschen Soldaten zogen bei Kriegsende ihre Uniformen aus, suchten das Weite und überließen die beiden zur Pflege und Überwachung der Gemälde verbleibenden Dresdner Restauratoren ihrem Schicksal. Diese mussten hilflos zusehen, wie sich der Zustand der wertvollen Gemälde von Tag zu Tag verschlechterte. Nach der Kapitulation entschlossen sich die Restauratoren, die nächstgelegene Kommandantur der Roten Armee aufzusuchen und um Hilfe für die Kunstschätze im Tunnel zu bitten. Und schon kurze Zeit später lief die Rettungsaktion durch die Rote Armee an.

Uns Dorfbewohnern wurde dieses dramatische Geschehen erst bewusst, nachdem ein Rettungstrupp der Sowjetarmee unter dem Kommando von Leutnant Rabinowitsch und der Kunstsachverständigen Major Sokolova die Gemälde am 14. Mai 1945 im Tunnel gefunden und sofort ins Schloss Pillnitz bei Dresden gebracht hatte. Dort wurden die Gemälde notdürftig versorgt, danach nach Moskau transportiert und von Restauratoren des Staatlichen Puschkin-Museums für bildende Kunst restauriert.

Im Rahmen eines Staatsabkommens zwischen der DDR und der UdSSR sind die Gemälde im Jahre 1955 an die DDR zurückgegeben und wieder nach Dresden gebracht worden. Diese großherzige Tat werden die Dresdner der Sowjetunion niemals vergessen. Seitdem bezaubert die einzigartige Madonna in der Sempergalerie in Dresden wieder hunderttausende Besucher aus aller Welt.

Im Jahre 2012 wurde der 500. Jahrestag der Entstehung des Gemäldes mit der Sonderausstellung „Die schönste Frau der Welt wird 500! Die Sixtinische Madonna – Raffaels Kultbild feiert Geburtstag“ begangen. Als ich während dieser Ausstellung wieder vor ihr stand, erinnerte ich mich an ihre wohl düsterste Zeit in ihrem 500-jährigen Leben. Dabei ging mir das Herz auf, und ich war glücklich, dass die damalige gefährliche Situation im Cottaer Tunnel ihrer überirdischen Schönheit und einzigartigen Ausstrahlung nicht geschadet hat.

In der Sächsischen Zeitung vom 15.12.2005 wird über Bemühungen berichtet, den Cottaer Tunnel als Touristen–Magnet herzurichten. Der Tunnel hätte eine hohe historische Bedeutung und besäße ein beachtliches touristisches Potenzial, wurde geschrieben. Leider sind diese Bemühungen am schlechten inneren Zustands des Tunnels und am fehlenden Geld gescheitert.

Der 13. Februar 1945

Damals sieben Jahre jung, hat sich dieser Tag bis heute tief in mein Gedächtnis eingeprägt. An diesem Tag geschah etwas Unvorstellbares: Der alliierte Bombenangriff auf Dresden.

Wir Dorfbewohner standen auf einer Anhöhe in Cotta und blickten verständnislos auf ein Spektakel, das noch nie jemand gesehen hatte, das ich als Siebenjähriger nicht begriff und noch heute vor meinem geistigen Auge sehe. Dresden war trotz Dunkelheit taghell erleuchtet, vom Himmel fielen unzählige brennende Gebilde, die man zynischerweise Christbäume nannte. Es war ein teuflisches Schauspiel, das begleitet wurde vom dumpfen Grollen unzähliger Flugzeugmotoren. Wir standen wie versteinert und fragten uns: Was geht dort vor? Warum ist es in Dresden so hell? Wie geht es den Menschen dort?

Erst einige Tage später wurde uns das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst. Ich schäme mich noch heute, damals dieses Riesenfeuerwerk kurzzeitig interessant gefunden zu haben. Meine Frau, gebürtige Dresdnerin, wohnte seinerzeit glücklicherweise acht Kilometer vom Stadtzentrum entfernt und ist vom Inferno verschont geblieben.

Genau 70 Jahre später wurde im Panometer Dresden das Panorama „Dresden 1945“ des Berliner Künstlers Asisi erstmals gezeigt. Man schaut dort vom ideellen Rathausturm auf das zerstörte und teilweise noch brennende Zentrum von Dresden des 15. Februar 1945. Ein gleichermaßen beeindruckendes wie bedrückendes Bild, welches das unvorstellbare Grauen dieser Tage schonungslos zeigt.

Leider ist das Gedenken an den 13. Februar 1945 in den letzten Jahren immer wieder von Rechtsextremen missbraucht worden. Dafür nur ein Beispiel. Als anlässlich einer Gedenkveranstaltung in Dresden vor zwei Jahren unser Bundespräsident Gauck davon sprach, dass der Zweite Weltkrieg von Deutschland ausgegangen und kurz vor Kriegsende nach Dresden zurück gekommen ist, schrien zwei Männer neben mir „Volksverräter, Volksverräter“. Als Demokrat fragte ich mich: Ist das noch mit Meinungsfreiheit zu rechtfertigen, wenn das gewählte Oberhaupt unseres Staates öffentlich von Ewiggestrigen ungestraft beschimpft und bepöbelt werden darf?

Mein zweites Deutschland: Die Deutsche Demokratische Republik (DDR)

Nachkriegszeit

Aufbruchstimmung nach dem Krieg

Auf den verlorenen Krieg und die Kapitulation Deutschlands 1945 folgte eine tiefe Depression. Was soll aus uns werden? Wie soll es weitergehen? fragten sich die Menschen im Dorf. Die Köpfe vieler Dorfbewohner waren noch angefüllt mit nazistischem Gedankengut, was verständlich war, hatten sie doch kurz zuvor noch dem „Führer“ zugejubelt. Aus Osteuropa kamen viele Vertriebene ins Dorf und fanden hier eine neue Heimat. Manchmal zogen noch sowjetische Panzerkolonnen und deutsche Kriegsgefangene durchs Dorf.

Als die ersten Männer aus dem Krieg im Ort eintrafen und berichteten, was an der Ostfront geschehen war, und als allmählich die Verbrechen der Nazis in den Konzentrationslagern durchsickerten, begann ganz, ganz langsam ein Umdenken. Selbst mir als siebenjährigem Jungen wurde bewusst, was wir den europäischen Völkern angetan und welch riesige Schuld wir auf uns geladen haben. Und mir war klar: So etwas darf nie wieder passieren. Von jetzt ab muss alles besser und ganz anders werden.

Das Umdenken in den Köpfen und das Eingeständnis unserer riesigen Schuld war für viele erwachsene Dorfbewohner ein langer und äußerst schmerzlicher Prozess, den vor allem einige Ältere nicht mehr verkrafteten. Sie nahmen die Nazi-Ideologie mit ins Grab oder setzten sich nach dem Westen ab. Wir Kinder dagegen hatten nicht die Verantwortung für die Vergangenheit zu tragen und waren voll der Zukunft zugewandt.

In den ersten Nachkriegsjahren übernahmen die Altkommunisten, die trotz Naziterror ihrer Überzeugung treu geblieben waren, das Zepter im Dorf. Sie organisierten die neue Dorfverwaltung und versuchten, das schwere Leben der Menschen so erträglich wie möglich zu gestalten. Schritt für Schritt entwickelte sich vor allem unter der Jugend eine gewisse Aufbruchstimmung, die nach meiner Erinnerung echt und ungekünstelt war. Wer diese Aufbruchstimmung heute verstehen will, muss sich gedanklich tief in die Zeit der ersten Nachkriegsjahre hinein versetzen. Die Lage war so deprimierend, dass eigentlich alles nur besser werden konnte. Und uns wurde immer stärker bewusst, dass jetzt die einzigartige Chance bestand, ein ganz neues und viel besseres Deutschland aufzubauen.

Auch ich wurde, damals um die 10 Jahre alt, von dieser Stimmung mitgenommen. Wir sahen unserer Zukunft trotz Hunger und Not optimistisch entgegen. Ich konnte mich damals mit den Losungen „Nie wieder Krieg!“ und „Für Frieden und Sozialismus!“ identifizieren und hatte schon als Schuljunge das Gefühl: Unsere Zukunft kann nur eine demokratische und sozialistische sein! Ich war davon überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen und das bessere politische Konzept zu haben.

Im Laufe der vielen DDR-Jahre danach nahm meine Begeisterung für die sozialistische Gesellschaftsordnung allerdings immer mehr ab. Die große Chance, etwas wirklich Neues und Vorbildliches für Deutschland zu schaffen, wurde aus meiner Sicht vertan. Es wurde immer enger in der DDR, und schließlich galt nur noch eine politische Meinung: Die Meinung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Immer stärker entwickelte sich aus der propagierten Diktatur des Proletariats eine Diktatur einiger alter Herren im Politbüro der SED in Ostberlin. – Nein, so hatte ich mir – und sicher viele andere DDR-Bürger auch – das neue Deutschland nicht vorgestellt. Und als das Märchen vom gesetzmäßig zum Untergang verurteilten Imperialismus, das man uns gebetsmühlenartig ein Leben lang gepredigt hatte, ein Märchen blieb, war es um den Sozialismus und die DDR eigentlich fast schon geschehen.

Um nicht missverstanden zu werden: Auch ich habe mich den DDR-Verhältnissen angepasst und damit als ganz normaler Bürger gut leben können. Was ich hier lediglich ausdrücken wollte, ist, dass mir meine jugendliche Begeisterung für den Sozialismus im Laufe eines langen Lebens immer mehr abhanden gekommen ist. Schade eigentlich, denn vom Ansatz her war der Sozialismus eine wunderbare Idee!

Die Ziege Gretel

Mein Vater wurde im Februar 1944 während seiner Tätigkeit als Dorfpolizist in Cotta von einem Verbrecher erschossen. Nun musste meine Mutter ihre fünf Kinder im Alter zwischen drei und 22 Jahren allein durch die schwere Nachkriegszeit bringen. Um dem Hunger zu entfliehen, gingen meine älteren Geschwister mehrmals über die damals noch offene Grüne Grenze nach Westdeutschland, fanden dort Arbeit und unterstützten uns zu Hause nach besten Kräften. Wir hielten zur Selbstversorgung Hühner, Enten und eine Ziege. Die Ziege hieß Gretel und war das Haustier, für das ich als Schulkind voll verantwortlich war.

Gretel und ich wurden bald Freunde. Ich habe sie täglich gefüttert und gemolken, in Abständen ihren Stall ausgemistet und neu mit Stroh belegt. Im Sommer hörte sie mich, wenn ich aus der Schule kam, schon von weitem und tobte solange in ihrem Stall herum, bis ich sie holte. Wir gingen zusammen in den Wald, wo ich sie zum Fressen freiließ und sie, ähnlich einem Hund, immer in meiner Nähe blieb. Wenn sie satt war und gemolken werden wollte, kam sie zu mir und wir gingen wieder nach Hause.

Eines Tages sagte meine Mutter zu mir: „Es wäre doch ganz gut für uns, wenn Gretel ein Junges bekommen würde, dann hätten wir später etwas Fleisch. Bist Du damit einverstanden, schließlich hast Du dann eine kleine Ziegen-Familie zu versorgen?“ – Ich war einverstanden und wir gingen mit Gretel in der Nachbarschaft zu einem Ziegenbock. Der Ziegenbock stank zwar fürchterlich, machte aber seine Sache gut und Gretel wurde trächtig. Eines Morgens lag ein kleines Zicklein im Stall, das sich als Böckchen erwies und Peterle genannt wurde. Peterle war ein lustiges Kerlchen, als er klein war. Er wurde aber schnell größer und zwang uns zu einer tiefgreifenden Entscheidung. „Wir können keinen Ziegenbock großziehen“, sagte meine Mutter, „deshalb muss Peterle schweren Herzens geschlachtet werden. Und dann feiern wir ein großes Schlachtfest!“ Und so geschah es, dass Peterle von einem Nachbarn geschlachtet und von meiner Mutter gebraten als Festbraten auf dem Tisch stand. Wir saßen alle rund um den Tisch und dachten: Wann hatten wir jemals in unserem Leben so viel Fleisch gesehen?

Und dennoch war uns allen irgendwie nicht wohl!

Meine jüngere Schwester brachte unser aller Gefühl auf den Punkt und sagte: „Ich kann Peterle nicht essen!“ – Atemlose Stille. Keiner sagte ein Wort. Nach einer Weile sagte ich: „Ich habe ihn großgezogen und deshalb kann ich Peterle auch nicht essen.“ Schließlich konnte niemand ein Stück von Peterle essen. Die Folge war, dass meine Mutter den Peterle-Braten zu ihrer Schwester brachte. Ein Unglück kommt aber selten allein, denn im Hof ihrer Schwester stürzte meine Mutter, Peterle im Arm, über einen Stein, prellte sich mehrere Rippen, und der Peterle-Braten flog in hohen Bogen in den Hof. Kein Problem. Peterle wurde aufgehoben, gereinigt und von der Familie meiner Tante genüsslich aufgegessen.

Kurze Zeit später wurde Gretel leider sehr krank. Wir konnten sie nicht heilen und mussten uns von ihr verabschieden. Das war fast so traurig, als ob ein Mitglied der Familie von uns gegangen wäre. Ich war besonders traurig, hatte ich doch innerhalb kurzer Zeit meine gesamte Ziegenfamilie verloren.

Aberglaube, Bräuche, Sagen

Aberglaube war noch bis in die Nachkriegsjahre hinein unter der älteren Einwohnerschaft von Cotta weit verbreitet. Für mich war das ein Problem. Die alten Frauen im Dorf erzählten mystische und unglaubliche Geschichten, die mir zwar manchmal Furcht einflößten, die ich aber nicht glauben konnte. Gleichwohl durfte ich den Erwachsenen nicht unterstellen, dass sie die Unwahrheit sagen. Dieser innere Zwiespalt hat mich damals zeitweise belastet. Zwei Beispiele dörflichen Aberglaubens sind mir in besonderer Erinnerung geblieben.

Als 6–jährigem Jungen wurde mir erzählt, dass genau zur gleichen Zeit, als mein Vater in Ausübung seines Dienstes von einem Verbrecher erschossen wurde, sein Foto in unserer Küche von der Wand fiel, ohne dass weder das Bild noch die Bildaufhängung beschädigt war. Das Bild soll danach unversehrt auf dem Fußboden unserer Küche gestanden haben. Ich trug schon schwer am unerwarteten und unerklärlichen Tod meines Vaters. Und nun sollte ich auch noch diesen Unsinn glauben? Das war fast zu viel für die Psyche eines sechsjährigen Schulkindes.

Das zweite Beispiel, das mich tief beeindruckt hat, hing mit dem Brand einer mit Heu und Stroh gefüllten Scheune neben unserem Haus zusammen. Bei diesem durch Blitzschlag ausgelösten Brand loderten die Flammen, vom Wind angefacht, haushoch und leckten schon am Giebel unseres Hauses, als es der Dorf-Feuerwehr gelang, den Brand zu kontrollieren und unser Haus zu retten. Am nächsten Tag hörte ich im Dorf, dass der Brand kein Zufall gewesen sei, hatte doch tags zuvor eine alte Frau den Roten Hahn auf dem Dach dieser Scheune gesehen. Das Erscheinen dieses Untiers wurde als untrügliches Zeichen dafür gedeutet, dass ein großes Unglück bevorsteht.

Von den vielen Bräuchen im Dorf war damals der Brauch vom Osterwasser der lustigste. Auf dem Cottaer Spitzberg existiert eine echte Quelle, deren Wasser, am Ostersonntag getrunken, Glück und Gesundheit für das ganze Jahr versprach. Der Zauber soll aber nur dann wirken, wenn am Ostersonntag zuvor kein einziges Wort gesprochen wird. Viele Jungen und Mädchen aus dem Dorf stiegen gegen Mitternacht stumm auf den Spitzberg, um Osterwasser aus der Quelle zu trinken. Dabei war es für uns Jungen der größte Spaß, die Mädchen unterwegs solange zu ärgern und zu reizen, bis sie sich vergaßen und uns beschimpften. Damit hatten sie geplappert und verloren. Unter dem Hohn und Spott der Jungen konnten sie jetzt statt Osterwasser nur noch Plapper-Wasser trinken.

Um den Ort Cotta und den Spitzberg ranken sich auch viele Sagen. Die bekannteste ist wohl die Volkssage von den Zwergen im Cottaer Spitzberg.

In grauer Vorzeit sollen viele der kleinen Wichte, die im Volksmund Quarkse genannt wurden, auf dem Cottaer Spitzberg gelebt haben. Die Quarkse waren harmlose und gutmütige Geschöpfe, die den Dorfbewohnern nur Gutes getan hatten. Als sie von einem Mädchen, das ihre Höhle kannte, verraten worden sind, zogen sie vom Spitzberg ab. Diese Sage kann man in voller Länge bei WIKISOURCE nachlesen.

In der Nachkriegszeit wurde diese Sage von einem sächsischen Heimatdichter zu einem Theaterstück verarbeitet, das von uns Cottaer Schülern mehrmals aufgeführt wurde. Ich spielte in diesem Stück, meiner damaligen Körpergröße angemessen, einen Quarks. Noch bis vor einigen Jahren wurde diese Sage unter dem Titel Die Suche nach den Zwergen vom Cottaer Spitzberg auf der Naturbühne Maxen durch den dortigen Heimatverein aufgeführt.

Als Schulkind stieg ich viele Male auf den Cottaer Spitzberg und bestaunte von dort aus die markante Basaltkuppe des Spicak (Sattelberg) im böhmischen Erzgebirge. Dieser Berg war das Traumziel meiner Kindheit. Er war so nah und gleichzeitig so fern, weil noch eine unüberwindliche Grenze zwischen Ostdeutschland und Tschechien dazwischen lag. Erst Jahre später öffnete sich die Grenze für Wanderer, wodurch ich diesen Berg besteigen konnte. Und wenn ich heute auf Wanderungen zwischen Sachsen und Böhmen unterwegs bin, erkenne ich oft die Staatsgrenze nicht mehr. Dann wird mir bewusst, wie eng beide Länder zusammengewachsen sind und wie selbstverständlich ein grenzenloses Europa in unserem Leben bereits geworden ist.

Hunger

Wenn ich heute im Fernsehen hungernde Kinder in Afrika sehe und gleichzeitig lese, dass täglich in den europäischen Ländern Tonnen hochwertiger Lebensmittel in die Tonne gekippt werden, wird mir übel. Das hat auch damit zu tun, dass ich als Kind und Jugendlicher noch echten und quälenden Hunger kennenlernen musste. Der Hunger hat unsere Familie in den ersten Nachkriegsjahren eigentlich immer begleitet. Zwei Hunger-Geschichten, welche diese Situation kennzeichnen, sind mir aus dieser Zeit noch in guter Erinnerung.

Um an Kartoffeln zu kommen, wurde nach der Kartoffelernte auf den Feldern des Dorfes gestoppelt. Stoppeln hieß das Nachlesen und Nachhacken der abgeernteten Kartoffelfelder in der Hoffnung, noch einige Knollen zu finden. Wir fanden eigentlich immer etwas, dennoch reichten die Kartoffeln nie aus, um uns satt zu bekommen. Meine Mutter verfügte deshalb, die Kartoffeln grundsätzlich nicht mehr zu schälen. Sie wurden mit Schale und allen Keimen, die wir auch Popel nannten, durch den Wolf gedreht, als Kartoffel-Keulchen auf der Herdplatte gebacken und dann zum Essen angeboten. Als ich die vielen Schalen und Popel in den Keulchen sah, fasste mich Ekel an. Wegen meines Hungers überwand ich mich und aß mit Abscheu diese Keulchen.

Der Anblick ungeschälter Kartoffeln hat mich ein Leben lang verfolgt. Und wenn mir heute Kartoffeln mit Schale als besondere Delikatesse angeboten werden, steige ich aus. Wie unlängst während eines Essens bei Freunden, wo die Hausfrau Kartoffeln mit Schale servierte und äußerst pikiert war, als ich diese Kartoffeln nicht anrührte.

In den ersten Nachkriegsjahren war das Brot bekanntlich noch rationiert. Die Rationen waren so knapp, dass unser Brot nie reichte. Dieses Problem löste meine Mutter genial, indem sie einen Zollstock nahm und unser Brot durch Abmessen und Einritzen in so viele Schnitten einteilte, wie bis zum Kauf eines neuen Brotes notwendig war. Weil wir aber heranwuchsen und immer mehr Schnitten brauchten, nahm die Dicke der Brotschnitten im Laufe der Zeit immer mehr ab. Diese einzigartige Methode hatte den großen Vorteil, dass unser Hunger bis zum nächsten möglichen Brotkauf zumindest gleichmäßig verteilt werden konnte.

Das Leben im Dorf Cotta

Das Leben im Dorf Cotta hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Ein gemeinschaftliches Dorfleben, wie ich es aus meiner Kindheit und Jugend kenne, gibt es dort heute kaum noch. Man bleibt jetzt vorrangig in Familie, denn man hat ein eigenes Haus, mindestens ein Auto, einen Fernseher mit vielen Fernsehkanälen, man hat iPads, Tablets, Computer mit Internetzugang und noch viel mehr. Und weil man zudem beruflich sehr angespannt ist, bleibt für ein gemeinschaftliches Leben im Dorf nur noch wenig Zeit. Dadurch sind im Laufe der Zeit in Cotta nahezu alle gemeinsamen sportlichen und kulturellen Veranstaltungen zum Erliegen gekommen.

Und wie war es damals?