Impressum

Christiane Baumann

Die Tote im Pfaffenteich

Nora Grafs erster Fall - Schwerin-Krimi

 

ISBN 978-3-95655-786-6 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-785-9 (Buch)

 

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto der Autorin: Sylvana Warsakis

Lektorat: Dr. Volkhard Peter

 

Alle handelnden Personen und ihre Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

© 2017 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860-505 788
E-Mail: verlag@edition-digital.de
Internet: http://www.edition-digital.de

Sonntag, 31. 7.   Ankunft

Nora Graf fuhr von der Autobahn ab. Auf einem Schild stand ‚Schwerin, 8 Kilometer‘. Ihr wurde etwas mulmig zumute. Die Würfel waren gefallen; es wurde wahr, was sie vor Wochen noch für unmöglich gehalten hätte: irgendwo anders als in Berlin leben und arbeiten. Sie hatte die Wahl gehabt: entweder ab ersten August die Stelle in Schwerin oder das war’s erst mal mit ihrem Job bei der Kripo.

Wenig später passierte Nora das Ortseingangsschild. Nur einzelne Fahrzeuge waren an diesem frühen Sonntagabend Richtung Zentrum unterwegs. Robert hatte ihr die Strecke vorgebetet, weil er wusste, dass sie aufs Navi verzichten würde. Der Gedanke an ihn war tröstlich. Wie rührend ihr Mann sie in den letzten Tagen betuttelt hatte; als träte sie eine Reise in die mongolische Steppe an. Dabei ging ihre Fahrt in die Stadt, in der sie vor siebenundvierzig Jahren zur Welt gekommen war und ihre ersten acht Lebensjahre verbracht hatte. Nach dem Umzug ihrer Familie nach Berlin war der Kontakt zu den Schweriner Familienangehörigen bald eingeschlafen. Nora hatte längst aufgehört, sich und ihre Geburtsstadt in irgendeiner Weise miteinander zu verbinden. Auch als feststand, dass sie hierhin strafversetzt werden würde, hatte sie nicht nach Kindheitserinnerungen gekramt.

 

Nora registrierte die vielen Wahlplakate am Straßenrand. Ah ja, sie hatte irgendwas von Landtagswahlen in Meck-Pomm gehört. An Laternenmasten hingen bis zu fünf Plakate übereinander. Wer sollte die denn beim Vorbeifahren lesen können! Dann ein Umleitungsschild. Noch eins. Betraf sie das etwa? Das hätte Robert wissen müssen! Nora beschloss, die Schilder zu ignorieren. Weil auf einmal der Wunsch in ihr aufkam, das Schloss zu sehen. Und da war es schon. Eingetaucht in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Ein Märchenschloss! Na ja, bis auf den Baukran. Der trübte den Schlossblick und half Nora, ein aufsteigendes Tränchen der Rührung zu unterdrücken.

Aber irgendwas stimmte nicht. Offensichtlich hatten die Umleitungsschilder einen Sinn gehabt. Sackgasse war angezeigt. Sie war falsch. Nora bog nach links ab und hielt. Wieso denn Sackgasse! Sie nahm den Stadtplan zur Hand und suchte ihr Ziel, den Pfaffenteich. Der würde wohl immer noch an seinem Platz sein. Nun gut, das müsste zu packen sein, umkehren, immer den Obotritenring lang, dann rechts halten … okay. Nora folgte den Hinweisen und landete schließlich in der Alexandrinenstraße. Links lag der Pfaffenteich. Es war fast geschafft, den Teich einmal umkurven, und sie wäre am Ziel. Nein, unmöglich. Was war das denn für eine Verkehrsführung! Sie wollte unbedingt im Hellen ankommen; viel Zeit blieb nicht mehr. Rechts von ihr ein mächtiges, ocker angestrichenes Gebäude mit Zinnen und Türmchen. Das erkannte sie, aber der Name war weg. Nora wendete das Auto. Die Alexandrinenstraße zurück und rechts rum. In die Schelfstraße. Auch gesperrt. Mann oh Mann! Halt weiter geradeaus bis zur Werderstraße. Die durfte befahren werden. In der Ferne erschien der große Turm des Schlosses. Nora konzentrierte sich auf die rechts liegenden Seitenstraßen. Sie fuhr die Amtstraße runter, an einer Kirche vorbei, und Nora war endgültig überzeugt, verkehrt zu sein. Sie konnte nur noch abwärts fahren. Gott sei Dank, am Ende einer abschüssigen Straße schimmerte der Pfaffenteich.

Ein Notruf

Nora meldete sich bei der Pensionswirtin, einer kleinen, freundlichen älteren Dame, und wurde herzlich begrüßt. Ihr Zimmer lag im Hochparterre, war überraschend geräumig und gefiel Nora auf Anhieb. Es war ausgestattet mit altmodischen Möbeln und verfügte glücklicherweise auch über einen Kühlschrank. Das Doppelbett und der Kleiderschrank waren weiß lackiert und leicht verschnörkelt.

Mit Blick zum Pfaffenteich gab es einen Erker mit vielen Fenstern, der mit einem roten Vorhang vom Rest des Zimmers abzutrennen war. Im Erker zwei schmale Korbsessel und ein dazugehörendes rundes Tischchen, auf dem eine Vase mit Kunstblumen stand. Nora schob eine Gardine beiseite und schaute hinaus. Inzwischen war es fast dunkel geworden. Sie erkannte eine Anlegestelle. Die Fähre! Ja, klar. Die fuhr also noch wie zu Kinderzeiten.

Das Handy meldete sich. Robert. „Bin gerade angekommen“, erzählte sie. „Das war vielleicht eine Rumkurverei in der Stadt, überall Sackgassen, Einbahnstraßen und Umleitungen. Aber ich habe ein sehr schönes Zimmer. Du wirst es mögen.“

Ihr Ehemann wollte wissen, ob sie den Fernseher ausprobiert hatte. Es gehörte zu seinen Gewohnheiten, gleich nach dem Einchecken in Hotels oder Pensionen das Fernsehgerät im Zimmer einzuschalten. Und Nora betete immer, dass es funktionierte, denn sonst war seine Laune erst mal verdorben.

Nora drückte die entsprechenden Tasten; der Bildschirm blieb schwarz.

„Geht er?“, fragte Robert.

„Selbstverständlich“, versicherte Nora ihm, „aber ich habe keine Lust auf Fernsehen. Ich muss die Koffer auspacken und überhaupt. Im Sommer laufen sowieso nur Wiederholungen. Hast du Daphne gesprochen?“

„Deine Tochter schwelgt im siebten Liebeshimmel, darüber vergisst sie ihren alten Vater.“

„Mich ruft sie noch viel seltener an als dich.“

„Ihr seid euch eben ähnlich. Nora, Schatz, wirklich alles okay mit dir?“

„Keine Sorge, Robert, ich bin schon groß. Und ich bin nicht in Sibirien, sondern in einer deutschen Landeshauptstadt. Alles paletti.“

Nach dem Gespräch packte Nora die Koffer aus und räumte ihre Sachen in den Schrank und in zwei Kommoden. Dabei rollte etwas aus einem Pulli auf den Boden. Überrascht hob Nora einen kleinen Holzelefanten auf. Den hatte Robert ihr von einer Indien-Reise mitgebracht. Sie war gerührt, dass er das Andenken in den Koffer geschmuggelt hatte und stellte es auf das Nachtschränkchen.

Nora holte sich aus dem Kleiderschrank ein paar legere Klamotten zum Umziehen. Nach dem Schließen der Schranktüren stand sie unvermittelt ihrem Spiegelbild gegenüber und war irritiert. Sie entdeckte einen ungewohnt angestrengten Zug an sich, das mochte aber auch am Pferdeschwanz liegen. Nora löste ihn, und als ihr Gesicht von ihrem blonden Haar gerahmt wurde, war sie mit ihrem Äußeren wieder zufrieden. Sie hatte kaum Falten. Konnte sein, dass sie deshalb oft um Jahre jünger geschätzt wurde. Der Bauch war noch flach. Sie befand sich im Mittelfeld der ansehbaren Frauen ihrer Altersgruppe, dachte sie über sich.

 

Nora schlüpfte in eine bequeme Hose, zog sich Socken und Strickjacke an. Ihr war kalt geworden. Ein Tee wäre wunderbar. Sie spähte auf den Flur hinaus, wo sie ein Tischchen mit Wasserkocher entdeckt hatte. Teebeutel ihrer Lieblingssorte hatte sie mitgebracht. Mit einer Tasse Earl Grey und einer Stulle setzte sie sich in den Erker. Auf den Straßen war kaum noch Verkehr. Nur ab und zu bog ein Auto um die Ecke, dann aber sehr geräuschvoll. Oh je, Lärm in der Nacht konnte sie gar nicht ab. Fraglich, ob Hörstöpsel ausreichen würden, um genügend Schlaf zu finden.

 

Noch vor elf Uhr legte Nora sich ins Bett. Doch um einzuschlafen, schwirrten ihr einfach zu viele Gedanken im Kopf herum. Morgen war ein entscheidender Tag. Wie würden die neuen Kollegen sie empfangen? Wussten die von der Strafversetzung und ihren Gründen? Man hatte ihr eine Mitschuld am Tod ihres Partners vorgeworfen. Konkretes Fehlverhalten konnte ihr nie nachgewiesen werden, trotzdem wollte niemand enger mit ihr zusammenarbeiten. Letztlich hatte ihr Chef gemeint, sie vor Mobbing schützen zu müssen. Warum aber Schwerin? Sie jedenfalls hatte ihren Ex-Chef nicht mit der Nase drauf gestoßen, dass sie gebürtige Schwerinerin war.

Sie hatte keine Schuld an Christians Tod. Bei der Verfolgung eines Bewaffneten war er übereifrig gewesen, hatte sie beide in Not und Gefahr gebracht, statt auf Verstärkung zu warten. Kopflos und ohne Deckung war er dem Flüchtigen hinterher, ließ sich nicht zurückhalten. Schon Sekunden später knallte es. Christian hatte seinen Übermut teuer bezahlt.

Ihre Versetzung war dagegen ein geringer Preis. Eigentlich lächerlich. Doch Nora hing an ihrer Arbeit in der Mordkommission, und bis zu Christians Tod war sie von den Berliner Kollegen geschätzt worden. Sie hatte ein Leben geführt, wie es ihr gefiel, und nun war alles brüchig und ungewiss geworden. Das konnte auch ihre Beziehung zu Robert betreffen. Zwar hatten sie sich in den vergangenen Wochen wieder angenähert, doch Nora gab sich keinen Illusionen hin. Robert war als freischaffender Fotoreporter viel unterwegs, und ‚Treue‘ war für ihren Ehemann ein dehnbarer Begriff.

 

Nora wälzte sich im Bett rum; nach zwanzig Minuten gab sie auf. Ein paar Schritte am Pfaffenteich entlang würden ihr helfen, müde zu werden. Sie überlegte, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Ganz um den Pfaffenteich herum zu laufen, wäre um diese Nachtzeit wohl zu viel des Guten. Links waren mehr Lichter; Nora hörte einzelne Rufe, also nach links, zur Altstadt, wo noch Leben war.

Am Ufer des Pfaffenteiches führten flache Stufen bis ans Wasser. War das immer schon so gewesen? Egal. Nur keine unnützen Vergleiche mit der Vergangenheit anstellen.

Jugendliche, die lautstark miteinander stritten, lungerten dort herum. Leere Bierdosen schepperten über die Stufen. Nora behielt die kleine Gruppe im Blick, während sie in gebührendem Abstand an ihr vorüber ging.

Sie ließ eine Art Biergarten hinter sich. Der war bestimmt erst nach DDR-Zeiten entstanden. Ein Straßenschild ‚Arsenalstraße‘. Ja, in der Straße, weiter oben, hatten sie gewohnt. Oder irrte sie sich? Mein Gott, war das lange her. Warum hatte sie ihre Kindheit in Schwerin ‚einfach so‘ vergessen?

Sie stand erneut vor dem ockerfarbenen Gebäude mit Zinnen und Türmchen, an dem sie vor wenigen Stunden vorbeigefahren war. Plötzlich war der Name da. Arsenal, na klar!

Nora drehte sich einmal um ihre Achse. Sie empfand die Umgebung als vertraut und fremd zugleich; ein irritierendes Gefühl. Einige Schritte weiter stieß Nora auf die Fähre. ‚Petermännchen‘, oder? War die Anlegestelle nicht genau in der Mitte des Teiches gewesen, wo es hoch zum Bahnhof ging? Aber konnte sie erwarten, dass sich in der Stadt in den vergangenen fast vierzig Jahren nichts verändert hatte? Unwillkürlich schritt sie schneller aus. Mal gucken, ob es die andere Anlegestelle noch gab. Tatsächlich, es gab sie.

 

Nora wollte zufrieden umkehren. Plötzlich fesselte etwas Unebenes im Pfaffenteich ihre Aufmerksamkeit. Nora wusste, bevor sie es deutlich sehen konnte, dass es sich offenbar um eine erwachsene Person handelte.

Obwohl sie rasch handeln musste, zögerte Nora. Seit Kindertagen hatte sie Angst vor offenen Gewässern und mied nach Möglichkeit jeden Kontakt mit ihnen. Nun musste sie im Dunklen an den Rand des Teiches, um eventuell noch zu helfen. Obwohl ihr Bauchgefühl sagte, dass jede Hilfe zu spät kommen würde. Nora stieg über den kleinen metallenen Uferzaun und bewegte sich vorsichtig die schräge Uferböschung hinunter. Sie wollte auf keinen Fall ausrutschen. Unten angelangt, erkannte sie an der Kleidung, dass eine Frau verunglückt war. Mehrmals rief Nora hallo, doch sie erhielt keine Antwort. Sie ahnte Schlimmes.

Nora kniete sich hin und versuchte, die Frau mit ausgestrecktem Arm zu erreichen. Vergeblich. Was nun? In den Teich? Nein, das konnte sie nicht; ihre Angst vor dem Wasser war zu groß.

Nora richtete sich auf. Kein Mensch war auf der Straße; kein Auto, das sie anhalten konnte.

Ein zweites Mal hockte sie sich hin und hangelte nach einem Zipfel der Kleidung. Sie beugte sich weit vor und verlor beinahe ihr Gleichgewicht. Im letzten Moment griff sie nach einem Grasbüschel und fand gerade Halt genug, um einen Sturz ins Wasser zu vermeiden. Der Schreck saß ihr tief in den Knochen, und ihr Herz pochte hoch im Hals. Nora wählte den Notruf.

Nora als Zeugin

Während Nora auf die Einsatzkräfte wartete, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Was war denn los mit ihr! War sie etwa wegen eines Leichenfundes so durcheinander? Oder war sie nur von der Rolle, weil ihr ausgerechnet am ersten Abend in Schwerin eine Tote vor die Füße fiel?

Endlich! Polizeisirenen! Erleichtert zeigte Nora den Kollegen, was sie entdeckt hatte. Dann gab sie bei einem Schutzpolizisten ihre Personalien zu Protokoll und trat hinter die Absperrung. Die Leiche wurde geborgen und der Fundort weiträumig abgesperrt. Scheinwerfer tauchten den Einsatzort in ein unangenehm grelles Licht. Eine Expertin begann, die tote Frau zu untersuchen, und Neugierige sammelten sich hinter dem Absperrband. Nora machte einige Fotos mit ihrem Smartphone.

 

Ein dicker, glatzköpfiger Kripobeamter näherte sich den Schaulustigen, zeigte auf Nora und winkte sie zu sich heran. „Sie haben die Tote entdeckt?“, fragte er, und als sie nickte, forderte er ihren Ausweis.

Nora schätzte den massigen Mann, der sie um einen halben Kopf überragte, auf Anfang fünfzig. Seine ungewöhnlich buschigen Augenbrauen fielen ihr auf. Mit Vollbart könnte er glatt als Seemann durchgehen.

„Nora Graf“, las der Beamte mit tiefer Stimme den Namen vom Ausweis ab, „Sie leben wo?“

„Im Prinzip in Berlin, aber ab morgen arbeite ich in Schwerin. Ich wohne vorerst in der Pension dort.“ Sie wies mit einer schnellen Handbewegung auf die gegenüberliegende Seite des Teiches und überlegte, ob sie sich als Kollegin zu erkennen geben sollte.

„Was arbeiten Sie denn?“, wollte er wissen.

„Ich bin Kriminalhauptkommissarin, und Sie sind …?“

„Hansen, Bert Hansen. Leitender Ermittler. So, so, die Neue.“ Er musterte sie ungeniert.

Die erste Begegnung mit Schweriner Kollegen hatte Nora sich anders vorgestellt. Zumindest hatte sie in einem sauberen Outfit erscheinen wollen, stattdessen waren ihre Klamotten verdreckt. Zwar unwichtig angesichts einer Toten, trotzdem war es unangenehm.

„Was getrunken?“

„Na, hören Sie mal! Selbst wenn, ist das in Schwerin verboten?“

„Schon gut, schon gut. Haben Sie jemanden in der Nähe beobachtet? Ist wer weggelaufen?“

„In der unmittelbaren Nähe war niemand. Im Biergarten weiter vorn neben den Stufen saßen ein paar Leute. Unwahrscheinlich, dass die was gesehen haben. Die waren zu weit weg.“

„Und was haben Sie zu dieser Zeit am Pfaffenteich gewollt, Frau Graf?“

„Ich bin spazieren gegangen. Frische Luft tanken.“

„So spät? Und allein?“

„Ich bin schon groß. Kann ich meinen Ausweis zurück haben?“

„Wenn ich Sie überprüft habe.“

„Können Sie sich sparen. Ich habe bereits Angaben gemacht.“

Hansen winkte ab. „Warten Sie hinter der Absperrung. Bitte mit Geduld, falls wir noch Fragen haben.“ Nach zwei Schritten drehte er sich um und rief: „Und nichts anfassen, ja!“

Idiot, dachte Nora, verärgert über seine belehrende Art. Der Hansen behandelte sie wie eine x-beliebige Zeugin. Nun gut, sie hatte vorhin ein bisschen Nervenflattern gehabt, sich für einige Minuten verunsichert gefühlt. Aber das war vorbei, und Hansen hatte davon kaum was bemerken können. Sie war ein Profi, Strafversetzung hin oder her.

 

Kurzerhand hob Nora in einem unbeobachteten Moment das Absperrband an und mischte sich unter die Kollegen, die um die Leiche herumstanden. Dass die Tote älteren Jahrgangs war, hatte Nora schon mitbekommen. Die Frau sah auf den ersten Blick völlig unverletzt aus, beinahe friedlich. Ein dünner Streifen hellerer Haut am linken Handgelenk ließ vermuten, dass dort offenbar eine Armbanduhr fehlte. Und am rechten Fuß fehlte ein Schuh, eine rote Sandale. An jeder Hand goldene Ringe; einer schien Nora ein Ehering zu sein.

Die Tote trug einen hellen Rock, eine Bluse und eine kurze dunkelblaue Jeansjacke. Zu jugendlich angezogen, ging es Nora durch den Sinn.

„Hey, Sie, weg da!“ Nora wurde unsanft beiseite gezerrt. Ein schlaksiger Mann mit einem Jungengesicht hielt sie am Arm gepackt. „Sie wissen doch, dass dieser Bereich für Sie tabu ist, Frau Graf!“ Er löste seinen Griff. „Keine Ahnung, wie die Berliner Kollegen so arbeiten, aber bei uns haben Unbefugte am Tatort nichts verloren.“

„Die Berliner Kollegen sagen einem wenigstens, wer sie sind, bevor sie einer Unbefugten fast den Arm brechen“, konterte sie. „Kann ich Ihren Worten entnehmen, dass die Frau an dieser Stelle umgebracht wurde? Sie sprachen von ‚Tatort‘?“

„Hoppla, war ich wohl zu voreilig; mein Fehler.“ Er reichte ihr den Ausweis zurück. „Mein Name ist Klein, Holger mit Vornamen. Und pardon wegen dem Arm.“

Nora legte ihren Kopf leicht in den Nacken und schaute in dunkle, unruhige Augen. Sein  üppiges schwarzes Haar gefiel ihr.

„Wenn Sie wollen, können Sie gehen“, sagte er.

Nora rieb sich am Oberarm. „Wie ist die Frau denn gestorben? Ist sie ertrunken?“

„Netter Versuch. Sehr hartnäckig. Der Chef will Sie morgen früh gleich sehen. Er schickt gegen acht jemanden zu Ihnen, der Sie abholt, damit Sie sicher zur Dienststelle finden. Äh, und damit keine weitere Leiche zufälligerweise Ihren Weg kreuzt. Bis dahin.“ Mit langen Schritten entfernte er sich.

Nora rief Robert an. Er würde staunen, wenn er hörte, was ihr am ersten Abend in Schwerin passiert war.

Montag, 1. 8.   Der neue Kollege

Vom nächtlichen Leichenfund und dem Einsatz der Kripo stand nichts in der Montagszeitung, die im Frühstücksraum auslag. Kein Wunder, dachte Nora, die Meldung war für die Presse zu spät gekommen. Oder Hansen hatte sie mit Absicht zurückgehalten, bis feststand, wer die Tote war.

Ein Artikel über eine Vergewaltigungsserie in der Stadt weckte Noras Interesse. Seit Beginn des Frühjahrs waren drei junge Frauen Opfer geworden. Die Verbrechen geschahen in Abständen von ein bis zwei Monaten, und alle Frauen hatten sie überlebt. Der Zeitungsschreiber klagte über die Unfähigkeit der Polizei, den Täter zu fassen. Dass es sich um ein und denselben handeln musste, war seiner Meinung nach sonnenklar. Nora ärgerte sich über die vermeintliche Anteilnahme des Berichtes, der zugleich Angst vor einer neuerlichen Tat schürte. Die – so war zwischen den Zeilen unschwer herauszulesen – würde unmittelbar bevorstehen.

Nora faltete die Zeitung zusammen und sah sich im Frühstücksraum um. Er befand sich im Obergeschoss und glich mit seinem Prunkstück von Büfett einem Wohnzimmer aus den 50er Jahren. Der Raum war fünfeckig und vollgestellt mit Esstischen verschiedener Größe und Form. Vier Türen gingen von ihm ab; an einer hing ein Schildchen mit der Aufschrift ‚privat‘. Die anderen waren vermutlich Gästezimmer. Nora blieb an diesem frühen Morgen allein und wurde von der Pensionswirtin persönlich umsorgt. Auf den kaputten Fernseher angesprochen, versprach sie bis zum Abend Abhilfe.

 

Nora hatte schlecht geschlafen. Die Tote im Pfaffenteich hatte für eine unruhige Nacht gesorgt. Robert hatte ihr erst nicht geglaubt, als sie ihm vom Leichenfund erzählte, und gemeint, sie scherze. Würde sie sich aber nie erlauben, weil Robert alles hasste, was mit Tod zusammen hing. Auch der Verkehrslärm, der am frühen Morgen einsetzte, und Möwengeschrei hatten Nora den Schlaf geraubt. Möwen wie an der Ostsee! Das allerdings würde ihrem Mann gefallen.

 

Um die Zeit bis acht auszufüllen, zog Nora das Frühstück in die Länge. Warum wurde sie abgeholt? Sie brauchte kein Taxi, konnte selbst fahren. Dass Hansen einfach nett sein wollte, war eher unwahrscheinlich. Er würde sie noch einmal zur gestrigen Nacht befragen. Das kannte sie, Zeugen immer mit denselben Fragen löchern, bis zum Erbrechen. Ab und zu hatte man Glück, und denen fiel tatsächlich noch was ein.

Ungeduldig checkte Nora ihre Uhr. Sie wollte den beruflichen Neuanfang hinter sich bringen; die Kollegen und ihr neues Aufgabengebiet kennenlernen.

 

Zehn Minuten vor acht hallte ihr Name durchs Haus. Eine männliche Stimme mit deutlichem norddeutschem Akzent rief: „Hallo, Frau Graf? Nora Graf, hallo?“

Schnell schnappte Nora sich ihre Jacke und eilte zur Treppe. Im unteren Eingangsbereich erwartete sie ein stark gebräunter, mittelgroßer Sonnenbrillenträger. Gekleidet in Jeans und über die Hose fallendem kariertem Hemd, dessen kurze Ärmel Ansätze bunter Tattoos sehen ließen.

Sein lockeres Aussehen verleitete Nora zu der Annahme, er wäre ein Taxifahrer. Der Mann schob seine Brille in die Stirn und reichte ihr die Hand. Tiefblaue Augen schauten sie neugierig an. „Thomas Weller.“

Also kein Taxifahrer.

„Nora Graf“, erwiderte sie.

„Dachte ich mir. Können wir gleich los? Hansen wartet äußerst ungern.“

Thomas Weller deutete ein leichtes Nicken und ein Lächeln an. Ging vor Nora zur großen schweren Eingangstür und hielt sie auf. Dasselbe tat er für sie mit der Beifahrertür, setzte sich hinters Steuer, schob seine Brille auf die Nase und fuhr los.

Es war windig und der Himmel trüb. Kein Wetter für das Tragen einer Sonnenbrille. Aber vielleicht hatte er was mit den Augen, eine besondere Krankheit.

Sie schwiegen eine Weile, für Nora war das okay. Sie hatte keine Lust auf Smalltalk, schaute aus dem Fenster, um sich die Fahrstrecke zu merken; ab und zu sah sie zu ihrem Kollegen rüber. In Gedanken sprach sie mehrmals seinen Namen aus, Thomas Weller, Thomas Weller, um ihn sich einzuprägen. Beinahe erschrak sie, als er sie ansprach. „Sie haben gestern die tote Frau im Pfaffenteich gefunden, habe ich gehört. Tut mir echt leid.“

„Wieso?“

„Na ja, sind gerade angekommen, wollen die Stadt beschnuppern und dann sowas. Muss doch ein Schock gewesen sein. Hatten Sie trotzdem eine erholsame Nacht?“

„Danke, war erträglich. Gibt es Neues zur Toten? Ist inzwischen bekannt, wer sie ist?“

„Sie fragen den Falschen, Frau Graf. Habe zwar für Hansen diese Fahrt übernommen, aber sonst fast nix mit ihm zu tun. Um Leichen schlage ich gewöhnlich einen riesigen Bogen.“

„Was ist Ihr Bereich?“

„Einbrüche, Diebstahl und sowas in der Art. Eben schlichte Polizeiarbeit.“

„Seit wann?“

„Von Anfang an.“

„Und wie läuft’s beim Einbruch?“

Er zuckte die Achseln. „Eher schlecht. Die Aufklärungsquote lässt bekanntlich sehr zu wünschen übrig. Und Sie? Wie lange sind Sie bei der Truppe?“

Bestimmt länger als du, dachte Nora. Sie schätzte den Kollegen auf Anfang vierzig. Weil sie nicht gleich zu erkennen geben wollte, dass sie älter war als er, antwortete sie absichtlich etwas nebulös und ausweichend. „Ich wollte schon immer zur Kripo.“

Er gab sich mit dieser Auskunft zufrieden. Sie fuhren am Schloss vorbei stadtauswärts. Nach einer Weile kam er mit einem anderen Thema: „Ihre Herfahrt gestern verlief ohne Probleme?“

Ja, wollte Nora antworten, bis ihr die vielen Straßensperrungen und Umleitungen einfielen. Ein gewisser Unmut darüber war zurückgeblieben, und sie erzählte davon. „Es war einfach kein Durchkommen zur Pension.“

„Das lag an den Schlossfestspielen“, erklärte er, „Open-Air auf dem Alten Garten. Von Freitag bis Sonntag ‚Aida‘, noch bis Ende August. Sehr empfehlenswert, falls Sie sich für Opern interessieren. Umleitung war doch ausgeschildert, oder?“

„Schon. Ich war wohl zu ungeduldig und unaufmerksam.“

„Schwerin ist eine kleine Stadt“, fuhr er fort, „die kleinste Landeshauptstadt in Deutschland. Es wird Ihnen bei uns gefallen. Wir haben auch eine wunderbare Landschaft, viele Seen. Sportmöglichkeiten ohne Ende.“ Er schaute kurz zu ihr. „Na ja, als Berlinerin ist das für Sie wie Provinz. Sie müssen sich erst einleben. Ist die Pension in Ordnung?“

Der redete wirklich wie ein Taxifahrer, fand Nora. Zugleich beruhigte sie, dass Thomas Weller keinen Dunst von ihrer Strafversetzung hatte. Woher auch, als Kollege vom Einbruchsdezernat?

„Die Pension ist ein bisschen altmodisch“, antwortete sie, „dafür habe ich sogar einen Kühlschrank im Zimmer. Der Fernseher ist zwar kaputt, soll aber heute Abend wieder funktionieren. Das Frühstück ist fantastisch. Soweit alles paletti. Nur das Wetter könnte etwas zulegen, von wegen Hochsommer. Leben Sie schon lange in Schwerin?“

Er lachte amüsiert auf. „Schon lange und überaus gerne. Mir gefällt die Stadt viel besser als das hektische Berlin.“

„Vorsicht, sehr, sehr dünnes Eis“, murmelte Nora vor sich hin. Beide schwiegen, bis sie die Kriminalpolizeiinspektion erreicht hatten.

Die Jungs vom Pfaffenteich

Holger Klein blieb an seinem Platz vor Hansens Schreibtisch sitzen und nickte Nora bloß zu. Bert Hansen dagegen erhob sich, reichte ihr die verschwitzte Rechte, wies auf einen freien Stuhl und plumpste in einen breiten Schreibtischsessel, der unter seinem Gewicht ächzte.

„Kommen wir gleich zur Sache, Frau Graf“, begann er und zeigte ihr ein Bild. „Die Tote aus dem Pfaffenteich. Ist sie Ihnen bekannt?“

Nora fand seine Frage abwegig. „Das wäre schon sehr verrückt, Herr Hansen. Woher sollte ich diese Frau kennen? Bin erst gestern Abend in Schwerin eingetroffen und war vor Jahrzehnten das letzte Mal hier.“ Auch wenn sie für völlig unwahrscheinlich hielt, mit der Person etwas anfangen zu können, betrachtete sie das Foto eingehend. Die Augen der Toten waren geschlossen, ihre Haare lang bis zum Nacken, strähnig vom Wasser; im Gesicht war keine Verletzung zu sehen. Das Alter der Frau schätzte Nora auf Mitte fünfzig oder älter. Nora schüttelte den Kopf. „Absolut unbekannt. Gibt es keine passende Vermissten-Meldung?“

„Bisher nicht.“

„Die Tote hatte einen Ehering. Ach ja, und keine Armbanduhr. Das ist mir aufgefallen.“

Hansen räusperte sich hörbar, und seine Stimme nahm eine gewisse Strenge an. „Und sonst? Außer diesen Gästen in der Freiluftgaststätte am Pfaffenteich, Sie meinen bestimmt die ‚Arsenal-Terrasse‘, war vielleicht doch noch jemand in der Nähe?“

„Nee, tut mir leid.“

„Die Tat könnte gerade geschehen sein. Haben Sie jemanden weglaufen sehen?“

„Herr Hansen, so genau habe ich die Gegend nicht beobachtet. Ich habe mich wie eine Touristin verhalten und war unkonzentriert.“

„Sie sind meine wichtigste Zeugin, Frau Graf, und zugleich vom Fach. In gewisser Weise eine glückliche Fügung für uns.“

„Mag sein, aber Mordkommission ist für mich leider passé.“

Hansen winkte ab. „Profi bleibt Profi.“

„Der erste Passant, den ich greifen konnte, der kam etwa fünf Minuten, nachdem ich den Notruf abgesetzt hatte. Vorher war niemand da.“

„Dann haben wir ziemlich wenig. Eine namenlose weibliche Leiche ohne Armbanduhr und Handtasche; sie wird ja wohl als Frau eine dabei gehabt haben, nehme ich an. Taucher habe ich auf die betreffende Stelle im Pfaffenteich angesetzt.“

„Die rechte Sandale des Opfers sollten Sie gleich mit suchen lassen.“

Hansen schaute missmutig. „Woher wissen Sie, dass die fehlt?“

„Ich habe den bloßen Fuß gesehen, als man die Frau aus dem Wasser zog.“

„Außer einem nackten Fuß haben Sie nichts Neues von Ihrem nächtlichen Spaziergang anzubieten?“

„Nein“, antwortete Nora, „ist schon festgestellt, wie die Frau starb? Ist sie ein Fall für Sie und Ihr Team?“

„Wir haben ein vorläufiges Obduktionsergebnis. Mehr kann und will ich Ihnen dazu nicht sagen.“

Nora lächelte Hansen an. „Immerhin habe ich die Leiche gefunden. Ist das kein Grund, mir das Ergebnis anzuvertrauen?“

„Nein“, sagte er kategorisch.

Trotz seiner entschiedenen Abwehr versuchte Nora, ihm Infos zu entlocken. „Gehen Sie von Raubmord aus?“

„Schön langsam mit den voreiligen Spekulationen, ja.“

„War nur eine naheliegende Frage. Ein paar Indizien sprächen dafür.“

„Das wird sich zeigen. Möchten Sie ein Glas Wasser?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, machte Hansen Holger Klein ein Zeichen, und der brachte Nora das Wasser. Aha, der war also, wie vermutet, der Assi vom Chef. Nora dankte dem jungen Kollegen. Sie trank, und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: die Jungs vom Pfaffenteich!

Nora stellte das Glas abrupt ab. „Eine Beobachtung hätte ich doch, Herr Hansen. Ein paar junge Männer hielten sich bei den Stufen am Pfaffenteich auf, als ich dort vorbei und in die Alexandrinenstraße bin, da, wo dieses Gebäude … na, wie heißt dieses große Dings links noch mal?“

„Arsenal. Sollte Ihnen als Schwerinerin bekannt sein.“

„Ich bin hier nur geboren.“

„Und sogar zur Schule gegangen.“

„Woher haben Sie das von mir und der Schule?“

„Bin immer gern ein wenig über neue Kollegen informiert. Sie werden aus Ihren Schweriner Kindertagen doch kein Geheimnis machen wollen, oder?“

Nora war irritiert, dass Hansen offenbar mehr über ihre Schweriner Zeit wusste, als ihr angenehm war. Sie hatte eine ruppige Erwiderung auf der Zunge, nach einem Seitenblick zu Hansens Assi verkniff sie sich die aber.

„Wie viele Jungs waren es?“, fragte Hansen betont sachlich.

„Drei oder vier, oder auch fünf, nein, höchstens vier. Alter schätzungsweise zwischen achtzehn und zweiundzwanzig. Sie stritten ziemlich heftig miteinander. Wahrscheinlich waren alle angetrunken. Bierdosen schepperten rum. Kleidung? Vorrangig schwarz, Jeans, Kapuzenshirt, Turnschuhe. An einen Rucksack erinnere ich mich. Für ein Phantombild wird‘s zu dünne sein.“

„Sahen oder hörten Sie später noch was von dieser Clique?“

„Nein, absolut nichts.“

„Danke. Das war’s erst mal“, knurrte Hansen und verständigte sich wortlos mit seinem Assistenten Holger Klein. Der verließ das Zimmer, und Nora vermutete, er gab den Startschuss für die Suche nach den Jugendlichen.

Sie stand auf, Hansen ebenfalls. Er schüttelte ihr kräftig die Hand. „Willkommen bei uns.“

„Danke“, murmelte Nora, zögerte aber zu gehen.

„Ja?“

„Verdächtigen Sie etwa diese jungen Männer, Herr Hansen? Warum sollten die sich ganz in der Nähe des Fund- oder Tatorts rumtreiben, wenn sie was mit der Toten zu tun hätten? Das wäre ziemlich doof.“

„Haben Sie eine Ahnung, wie dämlich Jungs manchmal sein können? Vor allem, wenn sie angetütert sind? Davon abgesehen, wir suchen mögliche Tatzeugen. Es besteht wenig Aussicht, die Gäste von der ‚Arsenal-Terrasse‘ zu identifizieren. Bei den Kerlen haben wir eventuell mehr Glück. Deshalb suchen wir sie, vorerst als Zeugen, nicht als Verdächtige. Als Zeugen, Frau Graf.“ Mehr zu sich und mit abgewandtem Gesicht fügte er leiser hinzu. „Sollten Sie eigentlich wissen.“

Neue Aufgabe

Nach dem Gespräch mit Hansen erledigte Nora die Formalitäten in der Personalabteilung. Thomas Weller passte sie danach wie zufällig ab. „Alles geklärt, Frau Graf?“

Nora kämpfte mit einem kleinen Schock. Ausgerechnet ins Einbruchsdezernat wurde sie versetzt. „Wie ich eben erfahren habe, sind wir beide ab sofort Partner. Sie wussten das doch schon heute früh. Warum haben Sie mich im Dunklen tappen lassen?“

„Weil ich nicht der Überbringer der schlechten Nachricht sein wollte. Habe geahnt, dass Sie tausendmal lieber beim Mord geblieben wären.“

Mies angezogen und auch noch feige, dachte Nora leicht angesäuert. „Ich habe kein Problem mit dieser Entscheidung“, sagte sie ein wenig von oben herab.

„Umso besser, ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.“

Wieder hatte er seine Sonnenbrille auf die Stirn geschoben und grinste sie an. Nora fand das auf einmal besonders blöd und ohne es zu wollen, platzte es aus ihr heraus: „Ich habe nicht die geringste Erfahrung mit Einbrüchen. Wie soll das mit uns gehen?“

Thomas Weller taxierte seine neue Kollegin argwöhnisch. „Ich glaube, wir reden erst mal miteinander.“

 

Eine Stunde später warteten beide auf ihre Bestellung im Cafè ‚Prag‘, Nora auf einen Caffé Latte und Thomas Weller auf einen doppelten Espresso. Obwohl es ziemlich frisch war, saßen einige Gäste draußen. Nora und ihr Kollege zogen sich weit ins Innere zurück, um ungestört zu sein. Über ihnen eine auf die Wand gemalte Ansicht von Prag, der Stadt, die dem Restaurant den Namen gegeben hatte.

Thomas Weller machte keine Anstalten, ein Gespräch in Gang zu bringen. Mord war nicht sein Ding, und Reden fiel ihm offensichtlich auch schwer. Ein echter maulfauler Mecklenburger, dachte Nora und schwieg ebenfalls. Durch die breiten Fenster sah sie Touristen die Schlossstraße hoch und runter schlendern und ihre Kameras zücken, sobald sie einen Schlossblick hatten.

Ab und zu musterte Nora ihren Kollegen aus den Augenwinkeln. Sie befürchtete, auf ihn etwas überheblich gewirkt zu haben. „Legen Sie los, Herr Weller“, sagte sie, nachdem der Kaffee gebracht worden war, „ich vermute, es wartet jede Menge Arbeit auf Sie. Äh, Verzeihung, auf uns natürlich, sind ja ein Team.“

„So ist es, und die Zahl der Brüche steigt und steigt. Sie sind eine willkommene Verstärkung, Frau Graf, auch wenn Sie keine spezielle Ahnung vom Metier haben.“ Er hob abwehrend eine Hand, um sie am Sprechen zu hindern. „Ich weiß, womit Sie in Berlin beschäftigt waren. Sie waren recht erfolgreich. Dann passierte diese tragische Geschichte mit Ihrem Partner. Und nun sind Sie bei mir gelandet.“

Gut zusammengefasst, dachte Nora. Verdammt, er wusste von ihrer Strafversetzung.

Thomas Weller fuhr fort: „Sie würden nicht neben mir sitzen, wenn Sie wirklich eine Schuld träfe. Blicken Sie nach vorn. Starten Sie einfach neu durch.“

„Danke für den Rat.“

„Noch schockiert wegen der Leiche gestern?“

„Leichen gehören nun mal zu einer MOKO. Aber meinen ersten Abend in Schwerin hätte ich mir weniger aufregend gewünscht. Nebenbei, wissen Sie, wie tief der Pfaffenteich ist?“

„Warum fragen Sie das?“

„Ja oder nein?“

Thomas Weller zückte sein Smartphone. „Im Mittel weniger als drei Meter.“

Das hätte ihr auch einfallen können. Irgendwie war sie in Schwerin noch ein bisschen neben der Kappe.

„Drei Meter sind weniger als ich dachte“, meinte sie, mehr für sich.

Thomas Weller wurde ungehalten. „Vergessen Sie diese bedauerliche Frau im Pfaffenteich, Frau Graf, sonst sehe ich schwarz für uns. Ich brauche einen Partner, der sich für den Job engagiert und auf den ich mich verlassen kann.“

„Man kann sich auf mich verlassen!“, entrüstete sich Nora, „ich kann nur nicht so schnell aus meiner Haut“, versuchte sie sich zu erklären, „hört sich blöd an, Herr Weller, aber die Mordkommission war mein halbes Leben.“ Diesmal hob sie die Hand energisch, um einen möglichen Einwand seinerseits abzuwehren, „und die andere Hälfte, das sind mein Mann und meine Tochter, damit Sie ganz genau über mich Bescheid wissen. Falls Sie noch weitere Fragen haben, immer her damit.“

Er verzichtete auf weitere Fragen, trank seinen Kaffee aus und zeigte schon wieder eine entspannte Miene. „Wir können uns Zeit lassen mit dem Kennenlernen.“

„Dann sollten wir wenigstens mit der Arbeit loslegen. Wer ist eigentlich unser Chef? Müsste ich den nicht mal treffen?“

„Der Chef bin ich, jedenfalls für Sie. Probleme damit?“

„Nee, habe sowieso viel lieber einen Mann als Chef.“

„Warum das?“

„Weil die meisten Männer mit Frauen klar kommen“, antwortete sie.

Thomas Weller schaute sie eindringlich an, und Nora bemerkte, wie besonders blau seine Augen waren und wie weich seine Lippen. Unwillkürlich fragte sie sich, wann sie Robert das letzte Mal richtig geküsst hatte. War das tatsächlich mehrere Monate her?

Verlegen wegen des abschweifenden Gedankens nippte Nora an ihrem kalt gewordenen Kaffee. Der Neubeginn - hier war er. Würde sie eben versuchen, Einbrüche aufzuklären. Das schien der Erfolgsquote nach ja schwieriger zu sein, als Mörder zu fassen.

Thomas Weller legte einen passenden Geldschein auf den Tisch. „Fühlen Sie sich eingeladen. Ich muss weg. Sie haben den Rest des Tages frei. Lernen Sie die Stadt kennen und richten Sie sich ein.“

Früher, als Kind, war diese Stadt mal mein Zuhause, wollte Nora erwidern, ließ es aber.

Zur selben Zeit   Der Name der Toten

Ein Uniformierter stürmte in Hansens Büro. „Chef, dringende Meldung! Ein Torsten Mann vermisst seine Frau Veronika. Nach Alter, Haarfarbe und Körpergröße könnte es die Tote vom Pfaffenteich sein.“

„Wo ist er?“

„Wache in der Schlossstraße.“

„Her mit ihm!“

Wenig später stand ein großer, gut gebauter Mann, etwa Mitte fünfzig, vor Hansens Schreibtisch. Breitbeinig, mit den Händen in den Hosentaschen, als hätte er immer und überall das Sagen.

Der Kommissar bat Torsten Mann, Platz zu nehmen. Doch der lehnte ab. „Wieso lande ich bei der Mordkommission, wenn ich meine Frau vermisst melden will?“

„Setzen Sie sich, bitte“, wiederholte Hansen geduldig.

„Wie Sie wollen, Herr Kommissar. Wissen Sie, wo meine Frau ist?“

„Wie heißt Ihre Frau mit Vornamen?“

„Veronika. Wo ist sie?“

„Haben Sie ein Foto von ihr dabei?“

„Nein, daran hätte ich denken sollen.“

Hansen sprach betont langsam und ernst auf sein Gegenüber ein. „Herr Mann, Sie müssen sich unter Umständen auf eine traurige Nachricht gefasst machen. Ich zeige Ihnen ein Foto von einer Frau, die wir Sonntagnacht tot aufgefunden haben.“

Hansen beobachtete, wie der Mann reagierte: der sprang vom Stuhl auf und lief hektisch hin und her. Ab und zu sagte er leise: „Das ist unmöglich, unmöglich.“

Hansen bot ihm ein Glas Wasser an.

„Ein Schnaps wäre mir lieber“, brachte Torsten Mann raus und fiel erschöpft auf einen Stuhl.

Hansen holte eine Halbliterflasche Wodka und zwei Gläser aus seinem untersten Schreibtischfach, goss ein und schob eins der bis zum Rand gefüllten Gläser in Richtung Torsten Mann. Der leerte es in einem Zug, während Hansen seins unberührt ließ. „Beantworten Sie mir bitte ein paar Fragen. Wann haben Sie Ihre Frau das letzte Mal gesehen?“

Der Angesprochene öffnete seinen Mund und klappte ihn wieder zu. Er schüttelte hilflos seinen Kopf.

Hansen wollte ihm ein paar Minuten gönnen, damit er sich fassen konnte. Er brauchte von ihm dringend Informationen darüber, was Veronika Mann am Sonntag getan und wo sie sich aufgehalten hatte.

Endlich regte sich Torsten Mann. „Wie war Ihre Frage?“

„Ich fragte, wann Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen haben.“

„Äh, Sonntag. Ja, gestern. Was soll das alles? Veronika ist tot? Warum?“

„Herr Mann, Ihre Frau ist keines natürlichen Todes gestorben. Wir gehen von Fremdverschulden aus. Es tut mir sehr leid“, weiter kam Hansen nicht. Mann sprang erneut von seinem Stuhl auf und fiel dem Kommissar aufgeregt ins Wort. „Veronika wurde ermordet? Unmöglich! Das kann nicht sein! Wieso denn? Das glaube ich nicht!“ Entgeistert sah er den Kommissar an.

Hansen wartete, bis Torsten Mann sich setzte. „Geht’s wieder? Wir brauchen Ihre Hilfe. Wo war Ihre Frau gestern?“

„Es ist eine schreckliche Zeit, einfach schrecklich. Ja, wo war Veronika … bei Katharina. Das ist eine ihrer Freundinnen. Die hatte Geburtstag. Veronika war auf der Feier. Sie ist um drei von zu Hause los.“ Er hielt inne und ergänzte: „Zu Fuß. Von uns aus, das ist in der Dr.-Wolf-Straße. Veronika geht gern zu Fuß.“

„Wie ist der Nachname von Katharina?“

„Eichler. Sie wohnt in der Puschkinstraße.“

„Um drei nachmittags, das war ihr letzter Kontakt?“

„Ja.“

„Und was haben Sie den Rest des Nachmittages getan?“

„Lag im Bett. Ich bin als Vertreter für Medizintechnik viel beruflich unterwegs. Habe zu wenig Schlaf. Ja, ich schlief, und das war’s nach meiner Erinnerung. Jedenfalls bin ich abends zur Oper.“

„Oper?“

„Die Aufführung von ‚Aida‘ auf dem Alten Garten. Dort war ich.“

„Allein?“

„Ja.“

„Und Sie blieben bis zum Schluss?“

„Ja.“

„Wann war das?“

„Ungefähr um Mitternacht.“

„Wieso hat Ihre Frau Sie nicht begleitet?“

„Das ist eine dumme Geschichte“, winkte Torsten Mann ab, „als ich die Karten kaufte, schon voriges Jahr, wegen des Rabatts, da hatte ich diesen Geburtstag total vergessen. Veronika wollte unbedingt zu Katharina. Außerdem mag sie zwar Musik, besonders Musicals, Opern sind weniger ihr Geschmack.“

„Hatten Sie Eheprobleme?“

Torsten Mann setzte sich sehr aufrecht und wies Hansens Frage als Unterstellung zurück. „Haben Sie eine Ahnung, wie ich mich fühle? Meine Frau ist tot! Ich will sie sehen.“

„Das wird leider erst in ein paar Stunden möglich sein.“

„Sie meinen, Sie schneiden meine Frau auf? Dazu gebe ich keine Erlaubnis!“

„Das müssen Sie auch nicht, Herr Mann. Können Sie mir Ihre Opernkarte zeigen, bitte?“

Reflexartig griff der Angesprochene in eine Hosentasche, zog seine Hand aber gleich wieder zurück. „Die Karte ist, äh, die ist in der Anzugshose von gestern. Ich hoffe, ich habe sie nicht weggeworfen. Mir fehlt die genaue Erinnerung.“

„Kein Problem, Sie können sie mir später geben. Hatte Ihre Frau eine Handtasche bei sich?“

„Sicher. Warum?“

„Weil die Tasche bisher fehlt. Und wie stand es mit Schmuck und Armbanduhr?“

„Ist alles weg, ja? Ich fass es nicht! Hat man Veronika etwa wegen diesem Tand getötet?“

„War es kein echter Schmuck?“

„Natürlich echt! Selbstverständlich! Veronika liebt Schmuck, Gold, Silber, Perlen, alles. Was sie Sonntag trug, ist mir entfallen.“ Er fuhr sich mit einer Hand durch‘s Haar. „Kann ich gehen?“

„Im Prinzip schon. Mich würde noch interessieren, wann Sie bemerkten, dass Ihre Frau verschwunden ist.“

Torsten Mann wurde verlegen. „Zugegeben, ziemlich spät. Wir haben getrennte Schlafzimmer, und ich bin heute sehr früh am Morgen zu einem Termin nach Hamburg, ohne nach Veronika zu sehen. Ich ging davon aus, dass sie zu Hause war. Wo sollte sie auch sonst sein? Um zehn rief mich die Schulsekretärin auf dem Handy an, wo Veronika bliebe. Sie ist Lehrerin und hatte Ferienaufsicht. Ich habe versucht, meine Frau telefonisch zu erreichen. Vergeblich. Ich rief auch bei Katharina Eichler an. Hätte ja sein können, Veronika hat bei ihr übernachtet. Fehlanzeige. Katharina sagte, Veronika wäre gestern Abend vor halb elf von ihr aufgebrochen. Ich bin schließlich zurück nach Hause gefahren und habe entdeckt, dass Veronikas Bett unangetastet war. Ja, und nun bin ich bei Ihnen.“

„Und gestern Abend“, bohrte Hansen nach, „als Sie von der Oper nach Hause kamen, haben Sie da nach Ihrer Frau geschaut?“

„Wie ich sagte, wir schlafen in getrennten Zimmern. Und ich wollte Veronika in Ruhe lassen. Wir kontrollieren gewöhnlich nicht, wann wer im Bett liegt. Zudem war es sehr spät, weil ich nach der Oper noch was trinken gegangen bin. So. Wenn Sie einverstanden sind, Herr Kommissar, nehme ich auch noch Ihren Wodka, und dann wäre ich gern allein. Sie erreichen mich zu Hause, wenn Sie weitere Fragen haben sollten.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, kippte er den Schnaps und wollte sich verabschieden.

Hansen übersah seine ausgestreckte Hand. „Wo sind Sie in der Nacht eingekehrt?“

„Irgendwo in der Altstadt. Verdammt! Was soll diese Frage?“

„Ich habe noch eine, Herr Mann, die ich Ihnen leider stellen muss. Wäre es vorstellbar, dass Ihre Frau von der Freundin Katharina zu einem anderen Mann ist?“

„Was? Sie meinen, Veronika hat mich betrogen? Soll das ein Witz sein?“

Torsten Mann beruhigte sich und fand beinahe einen lockeren Ton. „Möglich ist immer alles. Niemand kann in einen anderen hineinsehen.“

„Soll das eine Antwort sein?“

Der Witwer zuckte mit den Schultern. „Ich glaube kaum, dass Veronika untreu war. Wissen Sie schon, wann sie, also, wann genau es passierte?“

„Darüber reden wir später. Vielen Dank fürs Erste. Und noch einen Rat: lassen Sie das Auto stehen.“

 

Als Hansen wieder allein in seinem Büro war, steckte der uniformierte Kollege neugierig den Kopf durch die Tür. „Ist er verdächtig?“

„Er wie andere auch“, meinte Hansen lapidar und trommelte sein Team zur Besprechung zusammen.

Dienstag, 2. 8.   Erster Einsatz

Am Morgen bewegte sich Noras Clio weder vor- noch rückwärts. Sie probierte es mehrmals, aber es war sinnlos. Irgendetwas blockierte. Um den möglichen Schaden nicht zu vergrößern, unterließ sie weitere Versuche. Impulsiv griff sie zum Handy; sollte sich Robert um ihr Auto kümmern. Grad noch bemerkte sie ihre Dusseligkeit, Robert saß schließlich in Berlin.

Sollte sie sich um ein Taxi bemühen oder erst Thomas Weller, ihren neuen Chef, informieren, dass sie sich verspäten würde? Als wüsste er, dass sie an ihn dachte, rief ihr Kollege in dem Moment an. Ohne zu fragen, was er von ihr wollte, erklärte Nora ihm gleich ihre missliche Lage. Er bot an, sie abzuholen, wäre kein großer Umweg.

 

Nora wartete nur wenige Minuten auf ihn. Das war der Vorteil einer im Vergleich zu Berlin kleinen Stadt: keine langen Wege, vermutlich selten Stau. Thomas Weller schob seine Sonnenbrille in die Stirn und begutachtete Noras Auto. „Muss in die Werkstatt“, verkündete er, „soll ich das für Sie organisieren?“

„Schaffe ich selbst, will Sie nicht über Gebühr beanspruchen“, wehrte sie ab, „ich wende mich später an den ADAC, wozu zahle ich meine Beiträge. Bis dahin tut’s Ihr Auto ja auch.“

„Mit der Technik stehen Sie auf Kriegsfuß, was? Fernseher kaputt, Auto streikt. Bin gespannt, was morgen hin ist.“

Nora ignorierte seine hämische Bemerkung. „Fernseher ist wieder in Ordnung.“ Sie lächelte den Kollegen übertrieben freundlich an, obwohl ihr ganz anders zumute war.

 

Sie fuhren aus der Altstadt raus. Gestern, an ihrem von Thomas Weller spendierten freien Tag hatte sie sich dort genauer umgesehen und danach in den Shopping-Centern am Marienplatz einige Einkäufe getätigt wie Brot, Käse, Obst, dazu Rotwein. Genug für ein Abendessen in ihrem Pensionszimmer. Zuerst war sie jedoch zum Schloss gegangen, vorbei am Alten Garten mit der imposanten Open-Air-Bühne. Es gab noch Karten für ‚Aida‘, doch Robert warnte vor einem vorschnellen Kauf. Zwar wolle er sie am Wochenende besuchen, und ein Opernabend wäre wunderbar. Könnte aber auch sein, er müsste zu einem Termin in seinem Job als Fotograf.

 

Als sie vor dem Schloss stand, war die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen. Nora konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick in den Burggarten zu werfen. Unter der prächtigen Hängebuche erinnerte sie sich, dass sie unter den gewaltigen Zweigen mit ihren jüngeren Brüdern Fangen gespielt hatte. In der Grotte hatte sie eine unerklärliche Beklommenheit gespürt, gleichzeitig eine ängstliche Vorfreude auf etwas Unheimliches, genau wie in der Kindheit.

Völlig sachlich dagegen verlief ihr Wiedersehen mit dem Haus, in dem ihre Familie bis zum Umzug nach Berlin gelebt hatte. Vergeblich hatte sie auf ein vertrautes Gefühl oder eine sich aufdrängende Kindheitserinnerung gewartet.

Nach dem ausführlichen Spaziergang hatte Nora sich eingebildet, die Stadt wieder zu kennen und sich in ihr orientieren zu können. Aber würde sie auch Freunde finden?

 

Nora sah vom Beifahrersitz zu Thomas Weller rüber. Der wirkte überaus zufrieden, als hätte er einen Dieb auf frischer Tat ertappt. Sie verkniff sich die Frage, ob er zufällig Weiteres zur Toten vom Pfaffenteich erfahren hatte. Er würde ihr sonst wieder mangelndes Interesse an ihrer neuen Arbeit unterstellen.

Heute war in der Tageszeitung ein Zeugenaufruf zur getöteten Frau erschienen. Ihr Name war mit Veronika M. angegeben, der sagte Nora nichts.

„Warum haben Sie mich eigentlich vorhin angerufen?“, fragte sie, um das Schweigen zu brechen.

„Hatte so eine Ahnung, dass Sie meine Hilfe brauchen würden.“

Blödsinn, dachte Nora, aber im Grunde war es ihr egal. „Wohin geht’s?“

„Krebsförden.“

Mit dieser Ortsbezeichnung konnte Nora wenig anfangen. Vielleicht hätte sie doch einen Blick in den Stadtplan werfen sollen, den Robert ihr mitgegeben hatte.

„Spurensicherung schon vor Ort?“

„Ich bin die Spurensicherung.“ Er stockte: „Und Sie“, fügte er mit freundlichem Grinsen hinzu.

Noras Handy klingelte. Daphne. Weil sie in Anwesenheit des Kollegen private Gespräche vermeiden wollte, drückte Nora den Anruf weg.

„Können ruhig rangehen“, meinte er.