Impressum

Renate Krüger

Herbst des Lebens

Betrachtungen über das Älterwerden

 

ISBN 978-3-96521-222-0 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

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Geschenkte Jahre

Ein uralter Menschheitstraum hat sich verwirklicht: Die menschliche Lebensgrenze ist hinausgeschoben, das Leben somit länger geworden. Grund zum Optimismus zumindest für die Schlagerszene: Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an … Da ist noch lang noch nicht Schluss …

Das, was wir heute als Alter bezeichnen, gibt es eigentlich erst seit 100 Jahren, nämlich diese im Vergleich zu damals 35 (oder mehr) „zusätzlichen“ Jahre. Um die Wende zum 20. Jahrhundert waren in Deutschland nur 5 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt, ein Jahrhundert später waren es über 25 Prozent. Um 1900 kamen auf einen Fünfundsiebzigjährigen 79 jüngere Personen, im Jahr 2000 waren es nur noch 12. Gegenwärtig können über 20 .000 Menschen in Deutschland einen dreistelligen Geburtstag feiern. An diese Entwicklung knüpfen sich viele existentielle Überlegungen mit zum Teil bedrohlichen Szenarien.

In den zahlreichen Publikationen und Diskussionen über das höhere Lebensalter spielen Gesundheit und soziale Probleme die Hauptrolle, ein Beweis für den gewachsenen Stellenwert dieser Thematik. Es geht dabei um einen höchst differenzierten Katalog von medizinischen Möglichkeiten, Hilfsmitteln und Kosmetik, Betreuungsdiensten und staatlicher Fürsorge. Mit diesem Bereich werden sich die vorliegenden Ausführungen nicht befassen, hier stehen Inhalt und Befindlichkeit der Altersjahre im Mittelpunkt, das Lebensgefühl, der Umgang mit Begrenzungen und neuen Möglichkeiten.

Das Alter ist nicht naturgegeben, sondern eine Kulturerrungenschaft. In primitiven Kulturen war die Daseinsberechtigung an Zeugung und Aufzucht der Nachkommenschaft gebunden. Wer in dieser Hinsicht keine Leistung mehr erbrachte, war „unnütz“, und sein Tod galt als folgerichtig. Heute werden uns noch viele zusätzliche Jahre geschenkt.

Was tun mit der gewonnenen Zeit? Viele Möglichkeiten, Pläne, und neue Inhalte bieten sich an, nicht selten begleitet von Standards und gängigen Klischees. Die Freizeitbereiche scheinen unerschöpflich: Reisen, Theater, Vorträge, Handarbeiten, Bildungsveranstaltungen, Gartenarbeit, Lesen, Sport. Der Begriff des „sanften Lebensstiles“, des „soft age“, wird unmerklich und unerkannt zu einem Ideal und verspricht die Beschwernisse des Alltags erträglich zu machen, ja zu überwinden …

Doch der Weg in die Zukunft ist unbekannt wie eh und je. Wichtiger als ihn zu erkunden und Perspektiven zu schaffen, ist es, ihn vertrauensvoll und entschlossen zu gehen. Zukunft bedeutet: neue Möglichkeiten, Offenheit, Aufmerksamkeit, Zugehen auf Fremdes, die Gewissheit, dass noch etwas vor uns liegt. Die Zukunft besteht auch in der Aufmerksamkeit für das, was auf den Menschen zukommt. Was auf uns zukommt, kommt uns zu, steht uns zu, fordert uns heraus.

Das Alter ist ein wichtiger und bisweilen aufregender Lebensabschnitt. Nichts ist mehr so wie früher. Und doch laufen frühere Linien weiter, aber gewandelt, verändert. Wenn wir nicht fähig sind, diese Veränderungen wahrzunehmen, werden wir unsere Kontinuität verlieren. Von außen werden keine Impulse mehr kommen, wir werden nicht mehr fasziniert sein. Nichts dynamisiert mehr als Faszination, aber nichts nutzt auch mehr ab. Wünschen wir uns die Gelassenheit des Alters, die weiß, wie vorläufig, unvollkommen und bruchstückhaft alles Erreichte, alle „Errungenschaft“ ist. Und doch auch – wie schön … Das Alter ist eine große Herausforderung. Die alten Lebenssysteme brechen zusammen, eins nach dem andern.

Im Alter kommt es nicht mehr auf Rück-Sichten im Wortsinne an. Wir müssen nicht all das berücksichtigen, was wir gelernt haben, um gut durch das Leben zu kommen, um Erfolg zu haben und Misserfolge zu vermeiden, um nicht aufzufallen, sondern angepasst zu leben, all die wohlerprobten Techniken und Praktiken, auf deren Besitz wir immer so stolz waren.

Auch der älter gewordene Mensch hat noch vieles zu verwirklichen. Viele Ideen wollen noch Gestalt werden. Ein großes Geschenk und ein besonderes Charisma des Alters ist es, in der Gegenwart leben zu dürfen, keine weit ausgreifenden Pläne mehr machen zu müssen, endlich ganz im Hier und Jetzt zu Hause zu sein. Wir gehen den Weg, den wir zwar noch nicht ganz kennen, der sich aber zur Entdeckung anbietet. Wir finden ihn, wenn wir alles andere lassen, die falschen Hoffnungen, die Illusionen, die Egozentrik. Wenn wir die Wahrnehmung der Gegenwart nicht mehr verpassen …

Wir haben Vorstellungen über unsere Altersjahre. Wir möchten frei, souverän, unabhängig sein, wir möchten schönen Beschäftigungen nachgehen, die wir selber steuern können, und wir möchten genügend Zeit für Gespräche, Briefe, Hobbys und Reisen haben. Das Alter kommt zwar von selber, aber die gute Bewältigung nicht. Es wird Zeit, über die Strukturen nachzudenken. Die Vorbereitung auf das Alter besteht nicht allein in der guten finanziellen Vorsorge, sondern mehr noch in der Einübung neuer Haltungen und Einstellungen, die alle etwas mit Abschied und Übergang zu tun haben.

Auch in den Altersjahren fließt der Lebensstrom. Er ist breit und tief, denn das Meer ist nicht mehr weit. Wir haben keinen Einfluss darauf, wie viel Wasser noch dazukommt, aber wir dürfen der Fließkraft vertrauen. Mitunter nehmen wir das Fließen nicht wahr, der Fluss scheint zu stehen. Dieser falsche Eindruck liegt oft an der mangelnden Sensibilität für Fließprozesse, an der mangelhaften Wahrnehmung. Für dieses Defizit gibt es wirklich ein Rezept, es heißt Geduld. Auch im Alter muss man sich immer wieder zum Weitergehen ermuntern und ermutigen. Nichts ist gefährlicher als das Bewusstsein, fertig zu sein und damit den gesamten Lebensbereich zu blockieren. Man muss immer wieder nach neuen Wegen suchen, nach neuen Erfahrungsbereichen, und sei man noch so alt! Den Gewinn hat der, der auch im Alter noch Neues entdeckt.

Und dennoch ist es notwendig, Abschied zu nehmen, das abzuscheiden und auszusondern, was zum Ballast geworden ist, um Neues zu beginnen, Neues auszuprobieren, auch in der Verantwortung für die Natur, für die Gesellschaft. Es ist für den alternden Menschen sehr wichtig, an die Zukunft der anderen Menschen zu denken, sich auch mit ihrer Zukunft zu beschäftigen.

Das Leben wird durchsichtiger, so wie im Herbst die Bäume gleichsam durchsichtig werden. Das ist ein Signal dafür, dass wir auf dem richtigen Wege sind. Allmählich können wir durch den Wust und Nebel, durch all den Wirrwarr des Alltags hindurch sehen.

Eines der großartigsten Geschenke des späten Lebensabschnittes kann die inzwischen reich entwickelte Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen, Dinge und Verhältnisse sein. Sie ist – nicht zuletzt als Entdeckerfreude – an allen Entschlüssen, Erwägungen und Impulsen entscheidend beteiligt und eine beglückende Entfaltung des Eros im Alter. Sie erlaubt die unmittelbare, unvermittelte Wahrnehmung des Augenblicks ohne Auflagen, ohne Druck. Einfühlung in andere Menschen ermöglicht eine Aufnahme des fremden Erlebens in die eigene Erfahrungs- und Erlebniswelt. Sie ist als liebende Aufmerksamkeit einer der Schlüssel zum Weltganzen, die Summe aus Beobachtung, ständiger Offenheit, Reflektion und Verinnerlichung. Einfühlung in andere ermöglicht neue Selbst- und Eigenerfahrung.

Eine der Voraussetzungen zur Einfühlung ist das „Dazwischensein“, lateinisch inter esse, das Interesse, auch wenn die einzelnen Impulse, Wünsche, Forderungen widersprüchlich bleiben und von Augenblick zu Augenblick wechseln. Auch der ältere Mensch sollte sich darauf einlassen und das Durcheinander nicht scheuen.

Eine Voraussetzung zur Einfühlung ist die wache Aufmerksamkeit, die Achtsamkeit, die gerade im fortgeschrittenen Lebensalter, nach der Überwindung so vieler Illusionen, gepflegt und entwickelt werden kann. Achtsamkeit ist mehr als Konzentration, sie ist eine Lebenshaltung. Wer achtsam ist, hat ein Gespür für Menschen und Dinge, er entdeckt immer tiefer, wie alles Lebendige miteinander verbunden ist und miteinander in einer Beziehung steht.

Auch in den Altersjahren sind noch viele Möglichkeiten zur Sinnfindung verborgen und warten auf Entdeckung. Die Sinnwerte des Menschen sind keinen Alterungsprozessen unterworfen: die Erlebniswerte, die schöpferischen Werte und die Werte der Einstellung zur Welt und ihren Möglichkeiten. Das Alter hält neue Chancen bereit. Alle Werte wollen noch einmal neu entdeckt werden, nachdem man gelernt hat, sie ohne Illusionen zu sehen. Sie bergen somit kein Enttäuschungspotenzial mehr, man erwartet keine automatische Wirkung. Fremdheit muss nicht zwangsläufig zu Gleichgültigkeit führen, sie kann auch zu Neuentdeckungen führen. Ganz neu anfangen …

„Heute beginnt der Rest deines Lebens …“ Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Der Mensch möchte nicht nur einen Rest, er möchte die Fülle. Wir haben die Verheißung nicht nur des Lebens, sondern der Fülle des Lebens. Fülle – das Wort steht in einem weiten Feld. In Hülle und Fülle: das bedeutet Überfluss. Beim jüdischen Sabbatmahl wird der gefüllte Becher durch einen zusätzlichen Tropfen zum Überfließen gebracht, um den Menschen zu beschenken. In der Antike kannte man das Füllhorn als Symbol für Wohlstand und Überfluss.

Fülle kann nur erfahren, wer noch Raum in sich hat, wer auch leer sein kann, wer nicht ständig etwas in sich hineinstopfen muss. Fülle ist Geschenk, Ergebnis von Aktivität, fordert neue Aktivität; Fülle bedeutet Freude, Heiterkeit, Farbe, Friede, Freundschaft, Weltfreundlichkeit. Der Wohlstand, die Lebensfülle in allen Bereichen ist ein Instrument, auf dem man spielen können muss. Wer diese Fähigkeit in seinen späten Jahren erlangt hat, besitzt Altersweisheit.

Herbst des Lebens … Die Natur liefert immer wieder Bilder für die Lebensalter. Und alle sind auf ihre Weise schön und hinterlassen tiefe Eindrücke. Schön ist die Natur im Aufbruch, schön ist sie vor der Reife, und schön ist sie auch vor dem Einbruch des Winter. Zauberhaft ist die Stimmung im Herbstwald. Diese Goldtöne zwischen Gelb, Grün und Braun mit Rot dazwischen … Aber es ist dennoch ein Bild von Vergehen und Vergänglichkeit und Zurücknehmen. Die Erfahrung des Unvollkommenen, die Sehnsucht nach Vollendung sind Qualitäten des Alters, die nicht mehr zu übertreffen sind. Aber man kann noch lernen und noch offener für die Schönheit der Altersjahre werden. Neues will werden und wachsen. Die Abendröte deutet auf den neuen Morgen hin.