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Nietzsche in Turin


Nietzsche in Turin


1. Auflage

von: Volker Ebersbach

6,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: PDF
Veröffentl.: 08.03.2022
ISBN/EAN: 9783965216334
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 133

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Sein Leben und Denken lässt sich exakt in ein Davor und ein Danach teilen. Am 3. Januar 1889 sah Nietzsche in Turin, wie ein Kutscher sein Pferd schlug, eilte hinzu, umarmte es voller Mitleid, umschlang seinen Hals – und brach zusammen. Danach war nichts mehr, wie es war. Aber wieso Turin?

Wie heiß war der vorige Sommer in Sils gewesen. Diesmal zog es ihn nicht ans Meer, nicht nach Genua oder Nizza. Die Erlösung für Hirn und Auge wusste er anderwärts: Turin. Warum hatte er es nicht eher gefunden? Diese Stadt war im April ein einziger Blütenkelch voll guter Laune gewesen, er hatte trotz des Karossengerassels einen elysischen Schlaf genossen. Nirgends war er je mit so viel Freiheit herumgegangen wie in diesen blütenüberschütteten Alleen, im Halbschatten der aristokratisch ruhigen Arkaden und in den Promenaden am Po mit wechselnden Blicken über grünende Inselchen in die reiche, bunte, malerische, von Wipfeln überquellende Hügelwelt der Gärten und in die ferne, reine, in ihrer Klarheit dennoch übernahe Schneewildnis des Hochgebirges. Die Stadt, für die Füße wie für die Augen klassisch, würdig und ernst, großartig, nicht großstädtisch, ohne das prätentiöse Durcheinander widerstreitender Epochen durchweg in einem fürstlichen Geschmack erbaut, sich überall selbst entsprechend bis in die Farbe, gelb bis rötlichbraun, hatte mit ihrem angenehmen, dem Kurzsichtigen nicht mit Stolperkanten auflauernden Pflaster und ihrer Größe und Großartigkeit die angenehmste Gefangenschaft über ihn beschlossen, ihn bestrickt mit einem Fluidum, das immer schon das seine gewesen war. Mit dem Turiner Wetter ließ sich leicht fertig werden, sogar bei trübem Himmel. Mehr Sonnentage als Nizza! Die reizend leichte, leichtfertige, stets lichterfüllte Luft verlieh schwerfälligsten Gedanken Flügel. Sie hatte ihn, trocken und anregend, wie er sie brauchte, in einen Arbeitsrausch versetzt, manchmal bei offenem Fenster bis tief in die von Lauten der Lebenslust durchtanzte Nacht. Jedes Gesicht war ihm irgendwie liebenswürdig vorgekommen, keine Spur Vorteilsucht oder Betrug, nur Sympathie, die Sympathie erwidert, vor allem bei jungen Leuten und älteren Junggesellen, höheren Schülern und Offizieren, in Trattorien wie in luxuriösen Cafés ein unglaubliches Entgegenkommen, auch bei den Preisen, abends im Lichterglanz Musik ohne Aufpreis, hübsch, frivol und simpel und doch voll Noblesse, wie es sich für eine Residenz gehörte. Eine kapitale Entdeckung, dieses Turin. Der erste Ort, an dem er möglich war.
I. ZEUS
II. HERA
III. POSEIDON
IV. DEMETER
V. APOLLON
VI. ARTEMIS
VII. ARES
VIII. APHRODITE
IX. HERMES
X. ATHENE
XI. HESTIA
XII. HEPHAISTOS
Epilog: DIONYSOS
Nachbemerkung
Volker Ebersbach ist am 6. September 1942 in Bernburg/Saale geboren und dort aufgewachsen. Nach Abitur und Schlosserlehre studierte er von 1961 bis 1966 Klassische Philologie und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 1967 promovierte er über den römischen Satiriker Titus Petronius. Danach lehrte er Deutsch als Fremdsprache ab 1967 in Leipzig, 1968 in Bagdad, 1971 bis 1974 an der Universität Budapest, wo er auch mit seiner Familie lebte.
Seit 1976 ist er freier Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber. Er schreibt Erzählungen und Romane, Kurzprosa, Gedichte, Essays, Kinderbücher, Biografien und Anekdoten. Er übersetzte aus dem Lateinischen ausgewählte Werke von Catull, Vergil, Ovid, Petronius, das Waltharilied, Janus Pannonius und Jan Kochanowski. Einzelne Werke wurden ins Slowenische und Koreanische übersetzt.
Von 1997 bis 2002 war er Stadtschreiber in Bernburg. Danach lehrte er bis 2004 an der Universität Leipzig.
Lion-Feuchtwanger-Preis, 1985
Stipendiat des Künstlerhauses Wiepersdorf und des Stuttgarter Schriftstellerhauses, 1993
Ehe er die Augen aufschlug, rätselte er, wo er war. Die Silser Hütte roch anders. Lag er im augenfreundlichen Venedig? In einem dieser hohen, durch spanische Wände unterteilten, schwer vermietbaren, also billigen Gehäuse mit dem beruhigenden Blick aufs Meer und auf die Toteninsel? Die Luft hätte sich viel feuchter fühlen müssen. Nizza? Die einst griechische Kosmopolis, deren Name sich auf Sieg bezog? Zu laut, zu lebhaft, zu gewöhnlich war sie ihm zuletzt geworden. Immer hatte er sich in einem Quartier vom anderen erholen müssen. Nur in Messina war solch ein Wohlgefühl über ihn gekommen, eingeschlossen der Verdacht, es sei ihm jemand heimlich vorausgereist, um alle Leute für ihn einzunehmen. Aber dann der Schirokko! Nein, es war Turin, sein vierundvierzigster Geburtstag.
Warum jetzt aus dem Bett? Er durfte sich ja feiern, sich vergöttern, wie er von Frauen vergöttert worden war, von Mutter, der allzu jungen Witwe, von Großmutter Erdmuthe, der geborenen Krause, Schwester eines Nachfolgers in Herders Weimarer Amt, dem Muthgen, dem Goethe hold gewesen, von Tante Rosalie, die nie erfahren hatte, was ein Mann sei, von Elisabeth, der kleinen, stets zu ihm aufschauenden, allzu lange jüngferlichen Schwester, und von Malwida, der Frauenrechtlerin, die, vom Verlobten früh verlassen, keinen Mann mehr wollte. Von meiner Zeit ist nicht viel übrig, sagte er. Andere haben jetzt ihre Zeit. Ich gehe unter, und das heißt: hinübergehen. Denn ich liebe dich, o Ewigkeit.
Warum sollte er sie sich nicht gönnen, die kleine Selbst-Apotheose! Da König Friedrich Wilhelm IV., dessen Namen er trug, am selben Tag geboren war, hatte er die ganze Kindheit hindurch seinen Geburtstag als Feiertag begehen dürfen, an dem es schulfrei gab und alle Leute sich festlich kleideten zum Geläut der Domglocken.
Er sah sie in Gedanken, die Geschenke dieses Jahres. Die Götzendämmerung, die dithyrambischen Lieder Zarathustras, das Erste Buch der Umwertung, genannt Der Antichrist. Was habe ich da nur für Perlen eingesammelt! Aus welcher Tiefe habe ich sie geholt! Der vertraute Geruch des eigenen Speichels in den Zotten des Schnauzbartes, auf den Fingerspitzen, dem Handrücken, wo immer er sich küsste. Aber bei Fromentin hatte er gerade wieder Augustins Warnung vor Narziss und seinem Spiegelbild gelesen: Wenn es Ihnen widerfährt, sich handelnd, leidend, liebend und lebend zu erblicken, wenden Sie sich ab, so verführerisch auch das schmeichelhafte Gebilde Ihrerselbst sein mag! Nein, es war ein pflanzlicher Duft im Raum von springenden Knospen und feuchten Blättern. Aus den Ecken des Zimmers, unter den Möbeln hervor, rankten, ganz weich gezeichnet, Efeu und andere Gewächse, die überall emporkrochen, sich verzweigten, langsam, lautlos erblühend. Er lag am Hinterausgang seiner Höhle im trockenwarmen Waldgras verborgener Pflanzenwelten, an vulkanischen Hängen, schaute über eine kleine, sonnenhelle Lichtung ins Dickicht, wo es knackte. Eine Hirschkuh sprang mit verhetztem Blick vorüber, geschwind, beinahe schwerelos, verfolgt von den gebleckten Zähnen und rosigen Zungen kläffender, geifernder Hunde, von Hörnerrufen und Peitschengeknall. Hufgetrappel, Blätterwirbel. Artemis, die lärmende, wilde, reine Jungfrau, Apollons Zwillingsschwester, Meisterin treffsicherer, in wilde Herzen treffender Pfeile, auch sie jagte durch den goldenen Oktober.
Artemis legt eine Hirschkuh auf den Altar, entrückt Iphigenie nach Tauris, um den Griechen das Ende aller Menschenopfer anzuzeigen, wie es auch Jahwe tut, sobald Abraham seinem Sohn Isaak das Messer an die Kehle setzt. Dionysos aber wird von Titanen in Stücke gerissen, und Christus wird gekreuzigt. Und der Lehrer der Ewigen Wiederkunft bringt sich selbst zum Opfer. Auf ihn führte alles hin, von ihm führt alles weg. In ihm beißt die Schlange des Universums sich in den Schwanz.
Aus der adligen Jagdgesellschaft löste sich, hoch zu Ross, eine Blondine im Jersey, nach Herrenmode geschnitten, doch eng in der Taille, so dass die hochgeschlossene Büste ebenso stark hervortrat wie überm Rand des Sattels die Tornüre. Das sah der Schwester ähnlich, nicht der ältlich bigotten Jungfer, die mit diesem antisemitischen Agitator Förster nach Paraguay gegangen war und nur den Mottenpulvergestank der Prüderie hinterlassen hatte, sondern der Jungen, dem Lieschen, dem Pusselchen mit dem Näschen und dem Pony, das die zu wuchtige Stirn verhängte, mit der knappen Oberlippe und der volleren Unterlippe, was einen endlosen Widerstreit von Sittsamkeit und Sinnlichkeit verriet, mit den biedermeierlich goldenen Korkenzieherlocken und den blaugrauen, wie beim Vater kaum merklich zum Silberblick verstellten Augen, hell wie der felsig schmeckende Unstrutwein, den sie manchmal, selten, heimlich getrunken hatten, während sie Stifters nach späten Rosen duftenden Nachsommer gemeinsam lasen – sie las dem Maulwurf vor, er kommentierte –, dem treuen Lama, das sich schulmeistern und herumschicken ließ, aber auch spucken konnte und bei Überbürdung sich hinlegte und keine Nahrung, keinen Trost mehr annahm, von dem er nie gedacht hätte, dass sie sich mirnichtsdirnichts mit einem fremden Mann abgeben würde.
Sie hatte stets an ihren Herzensfritz geglaubt, zu jedem Knittelverschen brav gelacht, auch wenn er gezwungen oder schwarzhumorig war, hatte ihm den Baseler Maulwurfshaushalt geführt und nie etwas Lächerliches daran gefunden, wenn man nicht druckte, was er schrieb, oder wenn das Gedruckte niemand kaufte, niemand kannte. Und nun, auf der Schwelle zu seinem Weltruhm, schickte sie diesen geschmacklos höhnischen Geburtstagsbrief, als machte er sich schmutzig, wenn er anfing, anerkannt zu werden. Das müsse ja ein schönes Gesindel sein, das an Ihn glaube, was er sich da wohl ausgesucht habe als Anhängerschaft, Juden wie Georg Brandes, die schon an allen Töpfen geleckt hätten. Also begänne Zarathustras Untergang! Wie doch die Antisemiterei allen feinen Geschmack zersetzt!
Wisst ihr denn nicht, dass bald schon die ganze Welt von mir redet? Dass dann jedermann eure Schande erfahren wird? In zwei Monaten bin ich der erste Name auf der Erde.
Mutter wusste nichts von der malice. Die Mämms unterließ alle Vorwürfe, seit er sie mit Schweigen strafte, mit jenem pfeilspitzen Schweigen Cosimas, sobald nur ein Wort an etwas wie Schande für das Grab des Vaters oder Schimpf der Familie erinnerte. Eine Mutter weiß natürlich auch, dass sie vergessen wird, sobald der Sohn ein Frauenzimmer hat. Darum der Eifer gegen Lou! Wer einer Frau verfällt, der bringt in seinem Herzen wie Orest die Mutter um, die wie Jokaste mit ihm schlafen wollte! Nicht wahr? Hätte er mit Lou wirklich Cosima vergessen? Er konnte keine Frau neben sich denken als Cosima. Er weigerte sich nur, an sie zu denken. Er versuchte allenfalls, sich in sie zu verwandeln. Es ging nicht. Die Tochter des ungarischen Abbé Liszt war, auch als ehebrecherische Mutter von Bülows und Wagners Kindern, im Innersten immer die jüngferliche Katholikin geblieben. Aber um Cosima, die Schmalgesichtige, Langnäsige, bekam der Weihrauch etwas Aphrodisisches. Ihre im Buch der Ewigkeit mit ihm geknüpfte Ehe hatte sie, noch ehe sie einander kannten, zweimal gebrochen.
Hat Apollon nicht, um den Mord an der Mutier zu sühnen, den Orest nach Tauris geschickt, zum Kultbild der Artemis, das seine Schwester Iphigenie pflegt?
Hinter der Reiterin irrlichterten grüngoldene Strudel aus Sonnenpfeilen durch die webenden Tiefen des Waldes.
Mir aus den Augen! Du hast mich vor allen verleumdet! Vor meiner Mutter. Und in Bayreuth vor Malwida, der ich Lou verdankte, vor Cosima und Richard, die noch auf ein Zeichen von mir warteten. Du hast mich in Tautenburg verleumdet, nur um mich ganz für dich allein zu haben! Wie Mutter! Das ging weit über die Befugnis einer Anstandsdame! Unter dem Vorwand, mich vor einem kaltherzigen Biest zu schützen, hast du das zweieinsiedlerische Waldweben in einen Streit zweier törichter, tödlich verfeindeter Jungfern verwandelt. Die Todfeindin meiner Freundin jede Nacht im Zimmer meiner Freundin. Auftritte und Szenen. Jedes Wort eine Kröte, eine Spinne, ein Skorpion. Das nenne ich die wahre Unzucht! Moralische Unzucht zu Dreien! Die Notzüchtigung des freien Geistes nenne ich das!
Im Gegenteil, Herr Professor. Sie wollten mich ganz für sich allein! Und ich hatte darauf keine Lust.
Er wollte sich nicht unterbrechen lassen. Hattest du dich mit Ree zusammengetan, wärest du mit ihm nach Pommern gegangen statt nach Paraguay, wir wären zwei Paare geworden statt dieses doppelten Kleeblattes. Aber Ree schickte sich ja für dich nicht als Jude. Lou kannte solche Vorurteile nicht.
Was reden Sie! Ich bin Lou.
Die Jagdgesellschaft war verschwunden.
Sie sah ihn an, neugierig, abweisend, den Spott und den Hass aller Frauen vorwegnehmend, Lou von Salome, Tochter des russischen Generals hugenottischer Abstammung. So hatte sie ihn angesehen bei ihrer ersten Begegnung in Rom, unter der Kuppel des Petersdomes, während Ree in einem Beichtstuhl Aphorismen schrieb, und dann in Malwidas Wohnung nach seinem Heiratsantrag, ihr durch Ree übermittelt, aus dem Abstand der sechzehn Jahre, die sie jünger war. Die Schneewelt des Nordens hatte in diesem Blick gelegen, die Pracht des Winterpalais in Sankt Petersburg, in deren Widerschein sie Mädchen gewesen war, die Gottlosigkeit, die Dostojewskis Helden umtrieb, die Kühnheit der Attentate auf den Zaren.
Wie bei ihm selber war Kränklichkeit Pate des Scharfsinns, ein Bluthusten, den der Süden austrocknen sollte. Kindlicher Eigensinn, ein löwenhafter Mut und starker Wille sprachen aus ihren Versen, aus ihrer klugen, ja gescheiten Art, über Moral zu plaudern, über Gemeinsames in den Religionen, über die Unabhängigkeit des Geistes. Eine Schülerin? Eine geistige Blutsverwandte, das Geschwistergehirn eines Immoralisten, auf die erstaunlichste Weise gerade für sein Denken vorbereitet: Auf die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit. Aber zuletzt doch nur ein dummes Mädchen, eine gelehrte, frigide Gans, die von Musik nicht eine Spur verstand. Bei seinem Heiratsantrag hatte er nicht gewusst, dass sie sich nachts in Rom auf langen Umwegen von Ree nach Hause begleiten ließ. Erst zu Malwidas gouvernantenhaft besorgten Äußerungen war er aufgeschreckt.
Ich mag das männliche Begehren, sagte sie. Aber ich werde es nicht erfüllen, wenn es ins Joch führt. Ich bin emanzipiert. Ich bekam oft Heiratsanträge, schon in Sankt Petersburg. Und in der Villa Wahnfried, zur Uraufführung des Parsifal, konnte ich mich davor kaum retten. Ihr Fräulein Schwester wurde grün vor Neid! Sie hat Ihnen von dem russischen Bühnenbildner erzählt? Ich kann mir denken, was!
Er war wütend geworden, als seine Schwester über Lou sagte: O diese Frau! Oder besiehst du darauf, dass ich sie Fräulein nenne?
Lou hatte gehofft, mit Bee und Nietzsche in Wien oder Paris zu dritt in einem Haus zu wohnen, mit ihnen zu studieren: Ich wollte keinen Mann. Ich wollte freie Geister, ohne Männer-Eifersüchteleien. Ich wollte Freundschaft.
Aber ihr Weiber seid doch zur Freundschaft gar nicht fähig. Allzu lange war in euch der Sklave oder der Tyrann versteckt. Ihr kennt nur Liebe.

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