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Die Reise von Neukuckow nach Nowosibirsk


Die Reise von Neukuckow nach Nowosibirsk


1. Auflage

von: Uwe Kant

7,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: EPUB
Veröffentl.: 03.04.2023
ISBN/EAN: 9783965218925
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 289

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Jürgen sang. Vorher hatte er schon „Yvetta“ gesungen. Jetzt sang er „Crazy Horses“, einen Titel oder „Teitel“, von dem er nicht mehr beherrschte als eben jene beiden Worte und ein abschließendes Wiehern. Das machte ihm aber nichts aus: Er sang mit rhythmisch hin und her geworfenem Kopf, „crazy horses, wihihiii“ und fühlte sich wie der Hirtenknabe, der gerade zwei mehrköpfige Drachen erschlagen, einigen Riesen Manieren beigebracht, die Königstochter geheiratet und die Hälfte des Reiches übernommen hatte. Er fuhr dahin durch seine Lande und war es zufrieden über die Maßen.
Die Reise von Neukuckow nach Nowosibirsk bringt für Jürgen Rogge erstaunliche Erfahrungen. Vornehmlich Erfahrungen mit sich selber, denn Nowosibirsk liegt nur ein paar Kilometer hinter Neukuckow.
Geboren am 18. Mai 1936 in Hamburg-Lurup als viertes Kind eines Gärtners. Wegen der drohenden Bombenangriffe zog die Familie 1940 ins Haus seines Großvaters in Parchim. Dort legte er 1956 sein Abitur ab und studierte anschließend Germanistik und Geschichte in Rostock und Berlin. Von 1961 bis 1964 arbeitete er als Lehrer in Lübbenau und veröffentlichte gleichzeitig erste literarische Arbeiten. Von 1964 bis 1967 arbeitete er als Literaturredakteur der Zeitschrift „Magazin“. Seit 1967 ist er freischaffender Journalist und Schriftsteller. Er war in der DDR ein erfolgreicher Kinder- und Jugendbuchautor, seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Zwei Bücher wurden von der DEFA verfilmt: 1971 „Das Klassenfest“ unter dem Titel „Männer ohne Bärte“ und 1977 „Der kleine Zauberer und die große Fünf“.
1978 erhielt er den Nationalpreis III. Klasse für Kunst und Literatur, 1981 noch einmal, gemeinsam mit Winfried Junge und Hans-Eberhard Leupold. Von 1999 bis 2020 lebte er in Neu Ruthenbeck in der Gemeinde Friedrichsruhe, seit 2020 in Panketal.
Das nächste Dorf hieß Zinzerow. Es sah gut aus. Jemand hatte einmal angefangen, sein Haus zu bemalen, und die anderen hatte das nicht ruhen lassen. Nun standen links und rechts der Straße himmelblaue, lindgrüne, rosa, hellgelbe Häuser und sahen richtig gut aus. Jürgen rollte bis vor den Konsum, der an Schönheit mit den Häusern nicht ganz mithalten konnte. Neben dem Eingang saßen auf kopfgestellten Kartoffelkörben zwei Männer in braunem Manchesterzeug, die Bier tranken und ihm ruhig und aufmerksam zuguckten, wie er das Mofa abstellte und in den Konsum ging. Als er mit zwei Brötchen und einer kleinen Dauerwurst wieder herauskam, setzte der eine Manchestermann die Flasche ab und sagte: „Willst da heute noch hin?“ Jürgen guckte auf seine Armbanduhr und schüttelte grinsend den Kopf. Der andere Mann zeigte mit dem Kinn auf Brötchen und Dauerwurst und sagte: „Is dat nicht ’n bäten drög? Ist das nicht ’n büschen trocken?“ „Ja“, sagte Jürgen, „bäten drög is dat, aber die haben nix mehr, alles ausverkauft.“ Der ihn gefragt hatte, stand auf und rief von der zweiten Stufe her durch die geöffnete Ladentür: „Paula, du woll’st mir doch ’ne Limo kalt stellen, bring mir die doch mal eins raus!“ „Ha, komm du man rein, Otto, und hol sie dir“, rief Paula zurück, „dat is hier ’n Konsum und kein Gartenlokal!“ „Det heww ick mi bald dacht, das is mir vorhin schon bald so vorgekommen“, sagte Otto und zwinkerte Jürgen zu. Er setzte sich seelenruhig wieder auf seinen Korb. Nach zehn Sekunden erschien Paula in der Tür und warf ihm eine grüne Limonadenflasche mit altertümlichem Bügelverschluss zu. Er reichte sie an Jürgen weiter, mit dem Daumen zeigte er auf den Konsum und sagte: „Meine Frau. Die kenn ich.“ Die Limonade schmeckte, wie sie aussah: grün. Kenner von grünen Limonaden wissen, was das zu bedeuten hat. Andere sollen sich darunter vorstellen, was sie mögen. Für Jürgen waren nur Temperatur und Aggregatzustand wichtig: kühl und flüssig. Kühl und flüssig war sie. Jürgen trank die Flasche in einem Zug bis auf zwei Daumenbreiten leer, „’n ganz netten Schluck, nicht Willi?“, sagte Otto zu dem Mann auf dem anderen Kartoffelkorb. „Ja“, sagte der, „ganz nett soweit.“ Er sah so aus, als ob er sich nicht unterhalten wollte. So gesprächig wie ein Löwe aus Zement. Aber Otto wollte. Otto sagte nun: „Wolltest du schon mal so weit weg, Willi?“ „Nee“, sagte Willi und schnäuzte sich merkwürdig elegant über den rechten Zeigefinger. Otto meinte: „Ich weiß nicht, als jungscher Bengel wollt’ ich immer gern mal nach Paris, mit Colette oder wie die Deerns so heißen von Eiffelturm kucken. Äwwer an min Fahrrad heww ick dat nicht ranpappt, nee.“ „Colette“, knurrte Willi höhnisch und sprach es offen gesagt so wie „Toilette“ aus, „du auch grade.“ „Ja, ich auch grade, ich hab ja dann auch Paula gekriegt, und da waren noch ganz andere hinterher, nicht, Willi Fehse?“, sagte Otto und nickte seinen Worten bekräftigend hinterher. Willi Fehse sagte darauf gar nichts mehr, sondern zog nur eine gefährlich aussehende Zigarre aus der Brusttasche und steckte sie in Brand, dass die Funken flogen. Jürgen war jetzt wirklich heilfroh, dass dies alles keine feurigen Sizilianer oder wilden Kurden waren hier auf den Kartoffelkörben. Immerhin fühlte er sich doch verpflichtet, Wasser auf den aufgewühlten Vulkan der Leidenschaften zu gießen. Wer hätte das auch ahnen können, dass gleich so viele hinter dieser Paula her gewesen waren. Und durch sein Erscheinen waren sie überhaupt erst wieder draufgekommen. Er sagte: „Ist jetzt gutes Wetter für die Landwirtschaft, nicht?“ Willi Fehse ließ seine fackelartige Zigarre sinken und guckte ihn an, als hätte er gerade geäußert, die Gurke sei den Ölfrüchten zuzurechnen. Otto patschte sich mit der Hand aufs Manchesterknie und sagte: „Ha, das is’n Ding, das is dir vielleicht ’n Ding!“ Und er lachte herzhaft dazu. Einer wenigstens, schien es, hatte nun wieder gute Laune. Die vielbegehrte Paula guckte wieder aus der Tür, ließ sich misstrauisch den Grund so vernehmbarer Heiterkeit sagen und sagte ihrerseits zu Jürgen: „Nee, mein Jung, das is nun wieder büschen viel Sonne auf einmal, aber recht hast du trotzdem, wenn einer die beiden Kerle hier so sitzen sehen tut, denn muss er ja denken, das macht sich alles von selber. Da braucht hier gar keiner lachen, ja, ja!“ Otto fasste das denn auch gleich ganz und gar persönlich auf: Er hörte mit sofortiger Wirkung auf zu lachen. Und wer flink genug war, der konnte in diesem Augenblick noch ein Krümelchen schadenfrohen Schmunzelns in Willi Fehses Mundwinkel erkennen. Der war doch wohl manchmal froh, dass er seinerzeit nur den ehrenvollen zweiten Platz belegt hatte. „Ja“, sagte Otto, „ich muss denn ja los, nich, mal nach’m Rechten sehen.“ „Ja“, sagte Paula, „aber guck dich man nicht fest.“

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