Details

Leise tönt das Martinshorn


Leise tönt das Martinshorn

32 Randbemerkungen
1. Auflage

von: Wolfgang Eckert

6,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: PDF
Veröffentl.: 05.12.2022
ISBN/EAN: 9783965218031
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 122

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Der Titel dieses Buches hat den Charakter eines Oxymorons – also eines Widerspruchs in sich wie etwa ein schwarzer Schimmel. Denn eigentlich ist ein Martinshorn dafür da, sich laut bemerkbar zu machen …
In seinen 32 Randbemerkungen nimmt sich der Autor vieler verschiedener Dinge an, so zum Beispiel dem Recht auf Traurigkeit – wofür es nach der Wende den einen oder anderen Grund gibt -, den Vorstellungen der Deutschen vom Paradies und dem Beginn der Mode (Stichwort Evas Feigenblatt), den Ritualen am Nikolaustag, einer neuen Partykultur, dem Liebesleben ostdeutscher Frauen (sie kommen im Bett eher als westdeutsche) und der Vernunft im philosophischen Sinne, den Ossis und den Wessis, dem Wahlkampf, den Gewinnern und Verlierern, dem Lottoglück und einer ganz besonderen Art von massentauglicher Literatur, der bundesdeutschen Währungsunion sowie Staatsmännern und Rasierklingen, einem unechten Onkel Willy, der ein echter Gipfelstürmer ist, einem Besuch bei einer wirklich alten Dame (91) und einem Splitternacktschwimmer, dem richtigen Umgang mit Zorn und der Fantasie von Schriftstellern, Weihnachtsgedanken, nach der Wende verschwundenen Begriffen wie zum Beispiel Schichtzüge, Ereignissen der unmittelbaren Nachkriegszeit, der begeisterten Karl-May-Lektüre eines kleinen Jungen, dem Alltagsleben der Stare und dem Nachdenken über Narren, Märchen und Lügen, verschwundenen Hoffnungen aus DDR-Zeiten, Humor und Traurigkeit (wie beim Dichter Joachim Ringelnatz), deutschen Philosophen und deutschen Zuständen, dem Klicksern (falls Sie nicht wissen sollte, was das ist, lesen Sie Randbemerkung Nr. 26), seiner Heimatstadt Meerane und ihren Menschen sowie Schwierigkeiten mit der Bildung, der gesellschaftlichen Funktion der Dichtkunst und einem Amoklauf an einem Erfurter Gymnasium, einem Tag im Jahre 1918 und nicht zuletzt Lesungen im Stollberger Frauengefängnis „Hoheneck“ und Erfahrungen mit dem Arbeitsamt und dem Untergang eines Menschen.
Und damit noch einmal zur Geschichte Nr. 26 und zu dem eingangs erwähnten Oxymoron. Denn diese Randbemerkung endet folgendermaßen:
Wer sich über das Gedicht meines in Zöblitz lebenden Freundes Wolfgang Buschmann freuen kann, der hat noch jenen ungetrübten Rest an Kindheit, von dem ich anfangs schrieb, in sich.
Es war einmal ein Martinshorn,
das hatte einen Ton verlorn.
Er fiel ins hohe Gras hinein
und schlief nach fünf Minuten ein.
Dort fand ihn die Kuh Liese
und fraß ihn als Gemüse.
Am nächsten Morgen muhte sie,
und zwar: tatü, tata, tatü.
Flöhe im Teppich
Letzter Sommer
Vertriebsgesellschaft Paradies
Zeigt her eure Schuh‘ ...
„Schön, dass Sie da sind!“
Oben ohne
Hallo, Wessi!
Der Sängerwettstreit
Derwischt
Aber es bleibt immer einer oben
Modernes Glasperlenspiel?
Von Menschen und Leuten
Na, kleiner Mann
Eine langweilige Geschichte
Onkel Willy
Besuch bei einer alten Dame
Oss
Kampfesel Alfredo
Weihnachtsgedanken
Die Leute auf der Südterrasse
Als die Koffer flogen
Als ich Old Shatterhand erschlug
„Scheint's nicht, als wäre alles Betrug ...“
Hopplahopp
Hans im Glück – einmal zurück
Eine unzumutbare Geschichte
Stiller Herbst
Ausschreibung: Philosoph gesucht
Tatü, tata, tatü!
Meine kleine Stadt
Pisa – einmal hin und zurück
Katharsische Fragen
Karlstraße
Wenn sich eine Tür schließt
Blick nach draußen
Geboren am 28. April 1935 in Meerane.
Nach der Grundschule Besuch der Meeraner Webschule mit dem Abschluss als Wollstoffmacher und arbeitete anschließend in Webereien.
Von 1960 bis 1963 studierte er am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“. Danach leitete er die Gewerkschaftsbibliothek im VEB „Palla“. Neben der Halbtagstätigkeit widmete er sich seinem schriftstellerischen Schaffen.
Er gründete einen Literaturklub, war künstlerischer Betreuer des Zirkels Schreibender des Kulturbundes des Kreises Glauchau.
Von 1989 bis 1992 war er Redakteur beim „Meeraner Blatt“ und von 1992 bis 1993Referent des sächsischen Landtagsabgeordneten Joachim Schindler (SPD).
Seit 1970 schrieb Eckert als freiberuflicher Schriftsteller zwei Fernsehspiele, ein Theaterstück, zwei Romane, Erzählungen, Feuilletons, Geschichten, Aphorismen, Autobiografien, eine Biografie und Gedichte. Außerdem verfasste er Beiträge für 24 Anthologien sowie Artikel für zahlreiche Zeitungen. Eckerts Erzählweise reicht von humoristischen, ironisch-satirischen, politisch bissigen bis hin zu ernsten Tönen.
Auszeichnungen:
Förderpreis des Institutes für Literatur „J. R. Becher“ Leipzig und des Mitteldeutschen Verlages Halle 1972
Hans-Marchwitza-Preis der Akademie der Künste der DDR 1974
Kurt-Barthel-Preis des Bezirkes Karl-Marx-Stadt 1983
Johannes-R.-Becher-Medaille in Silber und Bronze des Kulturbundes der DDR
Bürgermedaille der Stadt Meerane 2016
Besuch bei einer alten Dame
Ich musste immer zweimal klingeln, wenn ich sie besuchte. Einmal kurz und einmal lang. Damit sie gleich wusste, wer da kommt. Die Küchentür klickte, ihre kurzen schlürfenden Schritte waren im Vorsaal zu hören. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt nur, und sie sah ängstlich geworden heraus in die Welt, die für sie kleiner wurde. Dort draußen lehrte sie einst Hauswirtschaft und Kochen, und das war lange her. An ihrem Gesicht erkannte ich, ob es heute ein guter oder ein schlechter Tag ist. Manchmal lag sie im Zimmer, und sie konnte sich die Ursache nicht erklären. Vor Jahren führte sie mich stets ins Wohnzimmer. Wir saßen dann vor dem Schrank, der das Kostbarste aufbewahrte, was sie noch besaß: Bücher. Seit ihrer Jugend hatte sie die Angewohnheit, Zeitungsartikel über diese Bücher oder ihre Autoren zwischen die Seiten zu legen. Jetzt, da ich ihre Bibliothek besitze, erweist sich solch eine Sammlung als absolute Seltenheit. Schlägt man Remarques „Im Westen nichts Neues“ auf, fällt einem ein vergilbter Zeitungsfetzen entgegen, in dem zu lesen ist, dass sie Remarques Schwester nur deshalb ins KZ verschleppten, weil sie des Bruders nicht habhaft wurden. An den Rand der Buchseiten schrieb sie ihre Bemerkungen, heftig zustimmend oder erzürnt ablehnend mit Ausrufungszeichen. Manchmal ein Fragezeichen. Man sieht, wie sie dachte und mitempfand, was sie dachte, wie sie lebte. Sie ist auf eine immer noch wundersame Weise da. Stets lagen irgendwelche Aphorismen herum, die sie bis zu meinem Besuch aufgehoben hatte, damit einer mit ihr über den Witz eines Gedankens lachen konnte. Allein lachen, machte ihr immer weniger Spaß.
Im Wohnzimmer standen etwa zehn Fotos ihrer Angehörigen auf dem Schreibtisch im Halbkreis um ein Biedermeiersträußchen versammelt. Von ihnen lebte keiner mehr. Medaillons mit ihren Eltern hatte sie etwas vorangestellt. Ich glaube, sie hatte alle dort aufgebaut, weil sie mit ihnen redete. Manchmal, wenn sie aus dem Wohnzimmer kam, sah es so aus, als hätte sie geweint. Vielleicht war das Wohnzimmer eine Erinnerung an schöne Tage. Die letzte Feier gab es dort zu ihrem neunzigsten Geburtstag. Seitdem wirkte das Zimmer mit den von ihren Eltern geerbten uralten verzierten Möbelstücken wie aus einer fernen Vergangenheit, wie ein Museum. Später reichte die enge Küche für unsere Begegnungen.
„Guck dich nur nicht so um, wie es bei mir aussieht“, sagte sie jedes Mal, obwohl sie doch wusste, dass ich nie zu jemandem kam, um zu sehen, wie es dort aussieht. Die alte Kamelhaardecke auf dem Sofa beulte sich einer Höhle gleich, aus der sie gekrochen war. Sie lag jetzt immer häufiger darunter, frierend, und zu den Büchern greifend, die auf dem Tisch herumlagen wie Inseln.
Nachbarn kümmerten sich rührend, versorgten sie, wann sie nur konnten mit allem, was sie brauchte. Sie wäre ohne diese gütigen Nachbarn nicht mehr in der Lage gewesen, den ganzen langen quälenden Tag zu bewältigen. Noch eine Frau kam, die resolut und voller derber Wärme die Wohnung in Ordnung hielt. Sie sprach mit ihnen allen über die wichtigen Dinge des Alltages, über die Brikett, die noch aus dem Keller geholt werden mussten, den vollen Aschekasten, ob vielleicht Post im Briefkasten liegt. Wer nicht allein lebt, weiß gar nicht, was das bedeutet: Mit jemandem sprechen dürfen.
Mich brauchte sie nicht dazu. Unsere Gespräche drehten sich fast immer um die Literatur. Um die Herren Schiller und Goethe wie um die Herren Ringelnatz, Tucholsky, Kästner oder Büchner. Damit verbunden kamen ihr Erinnerungen wieder an Leipziger Theaterbesuche in den Dreißigerjahren. Dort hatte sie einst gewohnt. Ihre Augen leuchteten, sie verblüffte mich mit Dialogen aus „Dantons Tod“.
Wie eitel kann der Mensch manchmal sein! Ich glaubte, wenn ich bei ihr sitze und ein Gedicht von Kästner zitiere, dann gebe ich ihr etwas. Wirklich aber gab sie mir, indem sie lange zuhören konnte. An ihr bemerkte ich, diejenigen Menschen werden weniger, die solches noch bringen. Eine Woche später hatte sie vergessen, was ich ihr sagte. Aber darauf kam es gar nicht an. Nur auf diese Stunde gegen Abend in der Küche, wo wir über die Köstlichkeit einiger Sätze aus einem Buch schwärmten, also über etwas, auf das die meisten Menschen mühelos verzichten konnten. Tucholsky nannte es „die Seele baumeln lassen“.
Wenn der Mensch so alt ist wie sie, einundneunzig, passt das, was noch zum Leben gehört, auf einen einzigen Tisch: Ein paar Zeitungen, ein Kofferradio, ein paar Bücher, ein Vergrößerungsglas, die Augen schaffen es normal nicht mehr, ein Foto vom längst eingeebneten Grab des Vaters, ein Spruch: ES KOMMT NICHT DARAUF AN, WIE ALT MAN IST, SONDERN WIE MAN ALT IST, ein paar Ansichtskarten von Gegenden, die sie bereiste, ein Brief, in dem die Nachricht vom Tod ihrer letzten Freundin steht ...
Radio hört sie nur noch, wenn es einmal beängstigend still ist, die Nachrichten schon gar nicht. Zeitungen liegen als Stillleben herum.
„Wozu?“, fragt sie. „Es ist doch immer dasselbe. Ein ewiges Gezappel. Panoptikum. Es interessiert mich nicht mehr. Mein Vater ging früher in Leipzig zu öffentlichen Stadtverordnetenversammlungen. Wenn er nach Hause kam, fragten wir atemlos: Na und, was gab es Neues – ? Er sah uns lächelnd an und sagte: Großmutter war wieder einmal die Älteste.“
Vielleicht ist es dann so. Wir Jüngeren nicken uns wissend zu und stellen fest: Das ist das Alter. Vielleicht aber ist es die Weisheit. Alles ist erkannt. Der Flitter ist weg. Und es zeigt sich das pure vergehende Leben. Jetzt ist der Mensch der Mensch. Er muss, um Glück zu haben, keine Faxen mehr machen.
Als auch die Kraft derjenigen erlahmte, die sie bisher versorgten, kam sie in ein Altersheim großen Ausmaßes mit weißen Türen auf langen Korridoren, in denen die Pflegeschwestem eilig umherlaufend ihre Pflichten erfüllten. Am Ende der Korridore oder im Gesellschaftsraum saßen die noch bewegungsfähigen Alten und erzählten sich immer dasselbe. Sie musste ihr Zimmer mit einer anderen teilen. Statt sich darüber zu freuen, beunruhigte sie das. Gleich am nächsten Morgen besuchte ich sie. Aber schon am Abend rief sie an, wann ich denn endlich käme. Niemand ließe sich sehen! Erschrocken ging ich am nächsten Tag wieder hin, und sie fragte mich sogleich, wie lange sie denn noch hier bleiben müsse. Wir liefen ein Stück im Garten umher, setzten uns auf eine Bank. Sie legte plötzlich die Hand auf meinen Arm, sah mich klar und begreifend an und sagte traurig: „Brauchst dich nicht ängstigen. Ich bring es nicht fertig.“
An diesem Tag hatte ich nicht einmal Lust, sie mit Ringelnatz zum Lachen zu bringen. Das Heim war sauber, beinahe zu sauber. Aber es fehlte der tiefe Gong der Standuhr, welcher abends aus ihrem ehemaligen Wohnzimmer zu uns herüberklang und den Fortgang der Zeit scheinbar harmonisierte; es fehlten die Bücherreihen und der Spruch auf dem Tisch. Das Schlimmste war wohl, dass sie nicht mehr lesen konnte. Es ging für sie eine fantastische Welt unter, die ihr die jetzige eintönige hätte noch mit Wärme erfüllen können. Zwischen den Essenzeiten wurde sie unter eine Gruppe von Frauen gesetzt, mit denen sie nicht über Bücher, Bilder oder Musik sprechen konnte. Ihre ersten zaghaften Versuche prallten am Unverständnis und Desinteresse ab. So bat sie bald darum, in ihrem Zimmer bleiben zu können. Dort saß sie, unbeweglich und nun vollends schweigend. Kam ich zu ihr, blickte sie mich erst eine Weile überlegend an. Dann erkannte sie mich, und ein Lächeln veränderte ihr klein gewordenes Gesicht. Ich hatte ihr Morgenstern mitgebracht. Ich begann daraus zu lesen. „Palmström, etwas schon an Jahren ...“
„Ach ja, Palmström“, unterbrach sie mich ohne Freude. Dann zeigte sie auf die zwei Medaillons auf dem Tisch. Es waren die Bildnisse ihrer Eltern. Die hatte sie aufstellen dürfen. „Kannst du mir sagen, wer das ist?“
„Deine Eltern.“
„Und wo sind die jetzt?“
Ich überlegte, was zu antworten sei. Schließlich sagte ich ihr die Wahrheit.
„Ich hab’ Angst“, sagte sie. „Wie wird das wohl sein, wenn ich zu ihnen gehe.“
„Es ist“, erwiderte ich, „ als gingest du an einem Ufer in ein Wasser. Die Wellen tragen dich ganz leicht und sanft zu einem anderen Ufer. Und dort stehen sie schon und warten auf dich.“
Das Bild schien ihr zu gefallen. Ich schämte mich meiner Erfindung. Aber das hatte sie ruhiger gemacht.
Als ich ging, wusste ich nicht, dass es mein letzter Besuch gewesen war. Unwillkürlich drehte ich mich auf der Straße um und blickte zu ihr hoch, obwohl ich doch wusste, sie sah mir nie nach. Diesmal stand sie am Fenster. Sie konnte mich doch gar nicht erkennen, wusste nicht einmal, ob es draußen regnete oder die Sonne schien. Sie stand am Fenster und winkte mit der Hand. Eine kleine Person. Winkte ganz leicht mit der Hand. Als wollte sie mir meinen möglichen, ähnlichen Weg weisen.

Diese Produkte könnten Sie auch interessieren:

Elitepartner und Omatyp
Elitepartner und Omatyp
von: Martin Meißner
PDF ebook
8,99 €
Möckels gestresste Tiere
Möckels gestresste Tiere
von: Klaus Möckel
PDF ebook
4,99 €
Möckels gestresste Tiere
Möckels gestresste Tiere
von: Klaus Möckel
EPUB ebook
4,99 €