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Doberaner Maßwerk - Einsichten und Sehweise


Doberaner Maßwerk - Einsichten und Sehweise

Literarische Reportage
1. Auflage

von: Renate Krüger

7,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: EPUB
Veröffentl.: 03.02.2020
ISBN/EAN: 9783965212206
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 142

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Nur noch wenige Augenblicke, dann werden die Besucher und Touristen wieder ins Münster strömen. An der Kasse wird sich eine Schlange bilden, und die Führer sammeln ihre Gruppen. Der Sommer an der Küste ist kurz und intensiv. Wir wollen sehen, genießen, erleben. Fast alle, die das Münster umkreisen, haben einen Fotoapparat bei sich, sind auf der Suche nach dem Punkt, von dem aus man das Ganze erfassen könnte, die Gesamtaufnahme. Sie ist schwierig genug, nicht nur technisch. Es scheint erstrebenswert: das ganze Münster zum Mitnehmen! Vielleicht ist es möglich, wenn Umschreiten und Eintreten einen anderen Sinn erhalten als Vereinnahmen, Inbesitznehmen.
Renate Krüger versucht die Annäherung an das bedeutende Bauwerk der norddeutschen Backsteingotik auf ihre Weise. Sie vermittelt „Einsichten und Sehweise“, die über das bloße kunstästhetische Erleben, aber auch über die kunstwissenschaftliche Darstellung hinausgehen. Sie plädiert für eine sensible Bereitschaft, mit Bedacht einzutreten und zu sehen, um die Kunstwerke der Vergangenheit zu erleben und verstehen zu lernen. In ihrer literarischen Reportage fügt sie kunsthistorische Betrachtung, Reflexion, Meditation und fantasievolle Legendenbildung zu einem lebendigen Bild der wechselvollen Geschichte des Doberaner Münsters von der Gründung bis zur Gegenwart.
Geboren 1934 in Spremberg/Niederlausitz. Seit 1939 bis zu ihrem Tode am 27. Mai 2016 in Schwerin ansässig.
Studium der Kunstgeschichte und klassischen Archäologie in Rostock.
Tätigkeit am Staatlichen Museum Schwerin. 1965 Verlust des Arbeitsplatzes aus politischen Gründen, seither freiberuflich als Publizistin und Schriftstellerin tätig:
Sachbücher (Die Kunst der Synagoge 1966, Das Zeitalter der Empfindsamkeit 1972, Biedermeier 1979, Spurensuche in Mecklenburg 1999, Aufbruch aus Mecklenburg. Die Welt der Gertrud von le Fort, 2000),
Belletristik (Licht auf dunklem Grund, Rembrandt-Roman, 1967, Der Tanz von Avignon, Holbein-Roman 1969, Saat und Ernte des Joseph Fabisiak, 1969, Nürnberger Tand 1974, Malt, Hände, malt, Cranach-Roman 1975, Jenseits von Ninive, 1975, Aus Morgen und Abend der Tag, Runge-Roman, 1977, Wolfgang Amadés Erben, 1979, Türme am Horizont, Notke-Roman 1982, Die stumme Braut, 2001, Paradiesgärtlein, 2008),
Jugendbücher (Geisterstunde in Sanssouci, Menzel-Erzählung 1980, Das Männleinlaufen, Alt-Nürnberger Geschichte 1983, Des Königs Musikant, Erzählung über Carl Philipp Emanuel Bach 1985).
Nach 1989 Mitarbeit am Aufbau der parlamentarischen Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern, Archivarbeiten.
Der Ordensbruder weiß genau, wohin er zuerst gehen, dass er bei Adam und Eva beginnen muss, und es wundert ihn kein bisschen, als der Büffelköpfige dem Altar unter dem großen Kreuz zutänzelt, um dort auf seine Verwandte, die Schlange, zu treffen. Er sehnt sich nach ihr, hat aber zugleich Angst. Es macht ihm so viel Mühe, diese Szene zu durchschauen, hindurchzuschauen. Durch das Türchen nämlich. Natürlich könnte er es mit seinen Nüstern ganz einfach zur Seite schnauben. Aber gerade das wäre kein Erfolg, den Kräften eines Büffelköpfigen nicht angemessen. Doch wer würde das Türchen öffnen? Wer könnte es wagen, die mühsam eingefangenen Ängste wieder freizulassen?
Diese Frage stellen sich auch Adam und Eva, als sie den kleinen Gestaltenzug herankommen sehen. Wie sehr hoffen sie darauf, dass sie von ihrem lästigen Türchen befreit würden! Denn nur so könnte die Sache endlich zur Sprache kommen. Nur so könnte man sehen, dass das gekrönte Häuptlein dort im Baum auf einem geringelten Schlangenkörper sitzt. Doch wie schon so oft würde sich wohl auch diesmal ihre Hoffnung wieder zerschlagen. An dieses Türchen wagte sich niemand heran, denn die Schlange selbst hat es geschlossen.
Auch die Schlange hat längst gemerkt, dass der Ordensbruder und der Büffelköpfige auf das erste Menschenpaar zusteuern. Und als nun gar der Ordensbruder mühsam mit seinen kurzen Beinchen auf den Altartisch klettert und ohne Zaudern das goldene Türchen öffnet, zuckt sie zusammen, dass ihr das Krönchen vom Kopf rutscht, und zischt: Was fällt dir ein, du Missgestalt? Mach die Tür zu, es zieht, mir wird kalt!
Doch der Ordensbruder gehorcht ihr nicht.
Da fährt die Schlange den Büffelköpfigen an: Was tänzelst du da herum, als hättest du nicht vier Beine, auf denen du fest und sicher stehen könntest? Wirst du nicht einmal mit einem lächerlichen Zwerg fertig?
Dem Büffelköpfigen fällt nichts anderes ein, als sein Sprüchlein wieder vor sich herzusagen.
Wie konntest du es zulassen, dass dieser geschorene Bärtige das Türchen öffnet? zischt die Schlange weiter. Hör auf mit deinem albernen Geplapper! Hilf mir lieber, dass der arme Adam die böse Eva richtig bestraft für ihre Missetat, grünes Obst abzureißen!
Der Ordensbruder lächelt so, dass die Schlange ihre Augen niederschlägt.
Nachdem das Türchen nun geöffnet ist, kommen Adam und Eva zu sich. Es strömt durch ihre Adern, und ein tiefer schöner Goldton legt sich über ihr Haar. Adam öffnet seinen Mund und möchte fragen: Was können wir nun gemeinsam tun, damit wir ganz aus der Erstarrung befreit werden?
Aber er bringt die Worte nicht heraus, denn der Büffelköpfige ist hinter ihn getreten und bläst ihm seinen warmen Atem in den Nacken. Und Adam wird zornig.
Wie konntest du mich derartig hereinlegen? schreit er seine Frau an. Alles Unheil der Welt kommt nur von dir! Du bist nicht wert, dass die Erde dich trägt!
Lass dir das nicht gefallen, Eva! zischt die Schlange. Zahl es ihm heim! Gib’s ihm!
Wieso nur ich? schreit Eva zurück. Du hättest ja nicht essen müssen, aber du warst ja so neugierig! Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen! Und was kann ich dafür? Die Schlange da mit der Krone, wie sollte ich ihr nicht glauben? Hübsch und fein, wie sie aussieht? Was kann ich dafür?
Recht so, zischt die Schlange den Büffelköpfigen an. Blas ihn weiter an, damit ihm die Luft zum Streiten nicht so schnell ausgeht.
Der Büffelköpfige bläst, und Adams Stimme überschlägt sich fast vor Wut.
Dir haben wir nun diese schreckliche Zukunft zu verdanken, nur dir! Du kannst ja nicht einmal zu dieser Tat stehen, wälzt alles auf die arme Schlange ab, die sich nicht wehren kann. Weiberpack, elendes! Aber wir sind mit hineingerissen.
Ja, weil ihr schwach und abhängig seid und ohne uns überhaupt nichts könnt, gibt Eva zurück. Kraftlos und abhängig seid ihr, eure einzige Waffe ist die rohe Gewalt!
Die Schlange setzt sich ihre Krone schief auf, und ein freudiges Zittern geht durch ihren Körper. Der Baum, um den sie sich geringelt hat, ist verdorrt. Schwarz und kahl recken sich die Äste.
Der Büffelköpfige bläst und bläst, doch es gelingt ihm nicht, dem Adam das Gold aus dem Haar zu blasen. Der fühlt seinen Zorn immer noch anschwellen.
Geh und hol ihm Verstärkung! herrscht die Schlange den Büffelköpfigen an. Es dürfte dir ja nicht schwerfallen, in dieser Kirche gibt es mehr als genügend Männer.
Der Büffelköpfige bringt auch in Windeseile eine ganze Schar zusammen, die sich dem Adam zur Seite stellen. Im Nu sind die Altarschreine leer, und bei Adam entsteht Gedränge.

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