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Der unbekannte Großvater


Der unbekannte Großvater


1. Auflage

von: Günter Görlich

7,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: EPUB
Veröffentl.: 07.06.2022
ISBN/EAN: 9783965216952
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 304

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Das passiert auch nicht alle Tage. Da kommt einer aus der Schule, wo er vielleicht eine wichtige Mathe-Arbeit versaut hat – die nicht angekündigt war – und wird von einem Mann angesprochen, der behauptet, sein Großvater zu sein. Nein, nicht Großvater Willi, denn den kennt der eine, der übrigens Markus heißt, Markus Stojahn. Aber einen Großvater Paul, den kennt Markus Stojahn nicht.
„Mein Großvater heißt Willi“, sagte Markus. „Er wohnt in Prenzlau.“
„Willi heißt er, so“, sagte der Mann, „aber ein Mensch hat gewöhnlich zwei Großväter. Und ich bin eben der andere.“
Doch Zweifel bleiben. Das versteht Großvater Paul, und er liefert Beweise:
Er entnahm der Brieftasche ein Schwarz-Weiß-Foto, das im Laufe der Zeit bestimmt oft angeguckt worden war, abgegriffen waren die Ecken und das Papier von feinen Rissen durchzogen.
„Schau hin“, sagte der Mann.
Markus erkannte drei Menschen auf dem Foto. Sie standen vor einem Autobus, einer Busart, die er nur vom Hörensagen oder aus alten Zeitschriften kannte, doppelstöckig.
Der Mann wies auf einen Jungen, der in der Mitte stand. Und Markus erkannte seinen Vater Georg, vielleicht so alt wie er heute. Man hätte auch annehmen können, er, Markus, war dort auf dem Foto zu sehen, so groß war die Ähnlichkeit.
„Und hier, wer ist das?“, fragte der Mann.
Es gab keinen Zweifel, das war Oma Renate, nur viel jünger und überhaupt.
„Das ist Oma“, sagte Markus. „Ich kenne auch andere Bilder, auf denen sie so aussieht.“
„Na, siehst du“, sagte der Mann zufrieden. „Das hier ist der Beweis. Schau genau hin.“
Trotzdem bleibt der Mann für Markus ein fremder Mann. Der schreibt seinem Enkel eine Nachricht auf, die er seiner Familie übergeben soll. Als Markus genau das beim Abendbrot tut, löst das unterschiedliche Gefühle aus, verlangt aber zunächst einmal nach der Kunst des Dechiffrierens, wie das die Geheimdienstleute nennen.
Oma Renate blieb in der Tür stehen. Vater setzte das Bierglas ab. Mutter Sabine sah rasch auf Schwiegermutter und Mann und trat auf Markus zu. „Du sagst, er soll herkommen. Übermorgen Abend soll er herkommen. Hier in die Wohnung. Wir werden mit ihm reden.“
Tatsächlich folgt Opa Paul dieser Einladung seiner Schwiegertochter, die einen festlichen Abendbrottisch für fünf Leute gedeckt hat – für Oma Renate, für ihren Mann Georg, den Sohn von Renate und Paul, für sich und für Markus, und - für Opa Paul. Doch am Abend bleiben zwei Plätze leer …
Günter Görlich
Geboren am 6. Januar 1928 in Breslau, gestorben am 14. Juli 2010 in Berlin.
Ab 1944 Flakhelfer, sowjetische Kriegsgefangenschaft bis Oktober 1949. Bauarbeiter, Volkspolizist.
Nach dem Pädagogikstudium war er Erzieher in einem Jugendwerkhof und in einem Lehrlingswohnheim.
1958 erhielt er für sein erstes Jugendbuch „Der Schwarze Peter“ den Jugendbuchpreis des Ministeriums für Kultur.
Weitere Auszeichnungen:
Kunstpreis des FDGB 1966, 1973
Nationalpreis 2. Klasse 1971
Held der Arbeit 1974
Nationalpreis 1. Klasse 1978
Joh.-R.-Becher-Medaille in Gold 1979
Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1979
Ehrenspange zum VVO in Gold 1988
Goethepreis der Stadt Berlin 1983
Kaum war Sven verschwunden, kam Bewegung in Markus, keine Sekunde wollte er mehr verlieren. Der Vorplatz lag verlassen in der Mittagssonne, es läutete zur nächsten Stunde. Fünf Stufen auf einmal nehmend, fegte Markus die Treppen hinunter, erreichte gerade noch die Eingangstür, bevor sie abgeschlossen wurde, und trat hinaus in die helle Sonne.
Jetzt lief er langsam, war weithin zu sehen und natürlich auch von Opa Paul. Der kam dem Jungen entgegen. In der Mitte des Platzes trafen sie sich, der Junge und der Alte.
Opa Paul lächelte. „Da bist du ja, Markus.“
„Hallo“, sagte der Junge. Und sie gaben sich die Hand.
„Dachte schon, bei dir hat sich was geändert“, sagte Opa Paul.
„Wartest du schon lange?“
„Nicht sehr lange. Aber ich habe Zeit“, sagte der Mann.
Markus fiel der Satz von Vater ein, der gestern Abend bissig bemerkt hatte, Paul Stojahn habe viel Zeit und komme deshalb auf dumme Gedanken.
„Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?“, fragte der Junge.
„Welche Zeit?“, fragte Opa Paul verblüfft.
„Na, von gestern bis heute.“
„Von gestern bis heute? Am Nachmittag bin ich zum Weißen See gefahren und habe gebadet. Kennst du doch?“
„Klar. Gut kenne ich den“, sagte der Junge.
„Und am Abend? Am Abend habe ich mich in eine Kneipe gesetzt und hab eine Bockwurst gegessen mit Kartoffelsalat und ein paar Bier getrunken.“
„Ganz allein warst du in der Kneipe? Ist das nicht langweilig?“
„Überhaupt nicht. In der Kneipe sitzen immer Leute. Du kommst gleich ins Reden, und schon wird’s gemütlich.“
„Papa geht nicht in die Gaststätte. Nur hin und wieder mit Mama. Wenn sie mal im Theater waren oder im Konzert“, erklärte Markus.
„Ja, das ist was anderes. Im Theater muss man einen feinen Anzug anhaben und so“, meinte Opa Paul.
„Hast du einen feinen Anzug?“
„Ja. Und weil ich ihn nicht so oft anziehen muss, bleibt er lange gut. Der reicht für mein Leben“, sagte Opa Paul.
„Und was hast du heute gemacht?“, fragte der Junge.
„Heute? Nun ja, gefrühstückt. Um halb sechs.“
„So früh?“
„Ich steh immer früh auf. Wenn ich wach werde, stehe ich auf. Was soll ich im Bett.“
„Mir geht’s anders“, sagte Markus. „Ich komme ganz schwer aus der Falle. Mama zieht mir die Bettdecke weg.“
„Bei mir ist niemand, der mir die Bettdecke wegziehen könnte, also muss ich mich ohne Aufforderung von der Matratze erheben“, sagte Opa Paul und fuhr fort: „Nach dem Frühstück hab ich einiges geschrieben.“
„Einen Brief?“, fragte Markus.
„Nein, Briefe schreibe ich selten. Ich schreibe auf, was sich auf meiner letzten Baustelle in Sibirien getan hat, wie unsere Bagger funktioniert haben oder nicht. Und warum das so war, und was im Werk noch zu tun ist, damit sie besser arbeiten“, erklärte Opa Paul.
„Du schreibst also einen Bericht“, sagte Markus.
„Richtig, ich schreibe einen Bericht.“
„Papa schreibt manchmal auch einen Bericht.“
„Ja, das macht man überall.“
„Schreibst du in deiner alten Schrift?“
„Ach“, sagte Opa Paul, „hab ich den Zettel gestern in meiner gewohnten Schrift geschrieben?“
„Ja“, sagte der Junge, „nur Oma konnte ihn lesen.“
„Dann ist ja alles in Ordnung“, sagte Opa Paul etwas heiser, „aber meinen Bericht schreibe ich auf der Schreibmaschine, tippe mit zwei Fingern.“
Markus und der Großvater standen allein auf dem leeren Platz, die Junisonne brannte fast senkrecht vom Himmel.
„Gehn wir zu unserer Bank“, schlug Opa Paul vor, „dort ist Schatten.“
Nicht weit von der Bank parkte das bunte Auto. Ein Seitenfenster war heruntergekurbelt.
„Du hast dein Auto wieder nicht abgeschlossen“, sagte Markus.
„Das lern ich nicht und lern ich nicht“, sagte Opa Paul.
Sie saßen nebeneinander auf der Holzbank, die, wie auf der Lehne zu lesen war, dem Gartenamt gehörte.
„Und was hat man zu meiner Nachricht gesagt?“, fragte Opa Paul, und es war seiner Stimme anzumerken, dass er sehr gespannt war auf die Antwort.
Markus sah Opa Paul von der Seite an, blickte in die hellen Augen. „Alles hab ich nicht behalten“, sagte er.
„Haben sie auf mich geschimpft?“
„Ja, das auch.“
„Oma Renate?“
„Oma hat geweint“, sagte Markus.
Opa Paul fragte bestürzt: „Sie hat geweint?“
„Ja, aber nicht lange.“
„Habe selten erlebt, dass sie weinte“, sagte Opa Paul.
„Du sollst morgen Abend zu uns kommen, soll ich dir sagen.“
Der Mann beugte sich zu dem Jungen. „Wirklich? Morgen Abend? Zu euch, in die Wohnung von Mama, Papa und dir?“
„Ja, zu uns.“
Der Junge wunderte sich über die Aufregung des Großvaters.
„Freust du dich nicht?“
„Aber wie“, sagte Opa Paul rasch, „ich kann’s noch gar nicht glauben.“
„Ist aber so. Mama hat das vorgeschlagen. Und wenn sie sich was in den Kopf setzt, wird das auch gemacht.“
„Und Papa und Oma Renate sind einverstanden?“
Markus zögerte mit der Antwort. Papa ist einverstanden, das hatte er am Abendbrottisch gesagt und dann noch einmal auf dem Balkon.
Aber Oma? Ob Papa schon bei ihr gewesen ist? Ohne ein Wort des Abschieds war sie aus der Wohnung gegangen. Noch nie war das passiert, jedenfalls hatte es Markus nicht erlebt.

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